Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Larry hat etwas auf dem Herzen. Das merke ich immer. Jedes Mal, wenn das Gespräch stockt, weicht er meinem Blick aus, als würde er überlegen, ob jetzt der richtige Moment ist. Bei Larry ist Timing das Allerwichtigste, und wie immer läuft die Uhr. So macht er das. Es gefällt ihm, wenn ich mich in einem Zustand von ihm verabschiede, der irgendwo zwischen neugierig und frustriert liegt. Wenn ich mehr will. Er glaubt, ich komme deswegen immer wieder, dass er auf diese Weise dafür sorgt, dass ich an ihn denke. Ich habe ihm nie gesagt, dass er sich da keine Gedanken zu machen braucht.
Ich denke ständig an Larry.
Hinter mir bricht Streit aus. Eine Trillerpfeife ertönt, irgendjemand bellt einen Befehl. Wir achten nicht darauf.
»Hab Sie in den Nachrichten gesehen«, bemerkt er, und ich weiß, darum geht es nicht. Reine Verzögerungstaktik.
»Und, wie habe ich ausgesehen?«
»Wie immer.«
Larrys schwarzes Haar ist schneeweiß geworden, und seine Haut ist gröber. Die Nase ist ihm mehr als einmal gebrochen worden, und über dem rechten Auge hat er eine wulstige Narbe. Da hat mal jemand versucht, es ihm mit einer Gabel auszustechen. Trotzdem sieht er gut aus. Jeder, der sich fragt, wie Elvis ausgesehen hätte, wenn er siebzig geworden wäre und sein Gewicht in den Griff bekommen hätte, braucht sich bloß Larry anzuschauen.
Ich warte, doch er sagt nichts mehr, und ich werde nicht nachhaken. Nach all der Zeit fühle ich mich bei Komplimenten von Larry noch immer unbehaglich.
Er fängt an zu husten und zieht ein Taschentuch hervor. Ein Taschentuch mit Blutflecken darauf.
»Noch zehn Minuten, Ladys und Gentlemen«, ruft der Wärter. Um uns herum hören wir Vorbereitungen zum Aufbruch. Manche Leute haben noch einen weiten Weg vor sich und sind ungeduldig, wollen möglichst schnell hier raus. Hinter Larrys Kopf sehe ich ein Paar, das sich umarmt.
Larry und ich berühren uns nie. Larry und ich sind kein Liebespaar, kein Ehepaar und keine Lebenspartner. Wir sind nicht miteinander verwandt, noch nicht einmal befreundet. Ich habe keine Ahnung, was Larry und ich sind.
»Was haben Sie auf dem Herzen, Larry?«, frage ich.
Wieder wühlt er in seiner Tasche und schiebt einen schmalen Zeitungsausschnitt über den Tisch. Ich erkenne das viktorianische Gebäude auf dem Foto wieder, und irgendetwas in meinem Innern verkrampft sich. Es geht um Sabden. Eine kleine Industriestadt im Nordwesten. Dort habe ich meine berufliche Laufbahn begonnen.
Fast hätte dort mein Leben geendet.
Der Mittelfinger meiner linken Hand tut weh. Phantomschmerzen: Ich habe den Finger schon vor Jahren verloren. Doch er tut trotzdem weh, vor allem, wenn ich Angst habe. Normalerweise schiebe ich die Hand in die Achselhöhle, und der Druck hilft, doch vor Larry werde ich das nicht tun.
»Erinnern Sie sich an das Waisenhaus?«, erkundigt er sich. »Kinderheim, ich glaube, so haben die das damals genannt, als Sie aufgetaucht sind.«
»Black Moss Manor.« Ich sehe die steile, von Lorbeerbüschen gesäumte Auffahrt am Stadtrand vor mir, das rußgeschwärzte Mauerwerk, den spitzen Giebel in der Mitte des Schieferdaches. Ich kann große viereckige Fenster sehen. Die im Erdgeschoss sind vergittert.
Ich erinnere mich an die abblätternde rote Farbe der Haustür, an die rostigen Fallrohre und das Farnkraut, das aus bröckelndem Mörtel spross. Fast kann ich die kalte Luft des Moors riechen, das gekochte Gemüse, den Uringestank. Beides bildete eine üble Dunstglocke rund um die Rückseite des Gebäudes.
Ich lese den Artikel aus der Lancashire Morning Post von Anfang bis Ende durch und bin mir dabei Larrys Blick bewusst, der auf mir ruht.
9. Juli 1999
Die Leichen, die auf einem Gelände oberhalb der Laurel Bank in Sabden gefunden wurden, sollen laut einer Mitteilung der Lancashire Constabulary Ende des Monats im Rahmen einer nicht öffentlichen Zeremonie eingeäschert werden.
Das Kinderheim »Black Moss Manor«, früher als »Waisen- und Findelhaus« bekannt, wurde 1893 eröffnet. Ins Leben gerufen durch Spenden von wohltätigen Bewohnern des Orts, war es zeit seines Bestehens in privater Hand und wurde von einer gemeinnützigen Stiftung geleitet. Das Haus nahm zahlreiche Kinder aus den umliegenden staatlichen Heimen auf, wenn diese überbelegt waren. Als Kinderheim wurde es 1969 geschlossen. Seit 1981 dient das Gebäude als Erholungsheim für Berufstätige sowie als Reha-Klinik.
Man nimmt an, dass die gefundenen sterblichen Überreste von vier Kindern stammen, die wahrscheinlich an Influenza oder Tuberkulose gestorben sind, zwei Krankheiten, die im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert in Lancashire weit verbreitet waren. Die ehemalige Bibliothekarin und Lokalhistorikerin Daphne Reece sagte der Post, dass Waisenhäuser in der viktorianischen Zeit üblicherweise über eigene Friedhöfe verfügten, obgleich im Black Moss Manor, soweit sie wisse, keine Beerdigungen stattgefunden hätten. »Man würde Grabsteine erwarten«, sagte sie, »und seien es ganz einfache. Aber es ist möglich, dass sie schon vor Jahren entfernt worden sind.«
Die sterblichen Überreste waren im Zuge einer Routineinspektion der örtlichen Entwässerungsanlange entdeckt worden. Police Superintendent Tom Devine sagte der Post, dass keine formelle Untersuchung eingeleitet werden würde. »Die Leichenfunde sind sehr alt«, erklärte er. »Sie stammen aus einer Zeit, in der die Kindersterblichkeit viel höher war als heute. Wir haben keinen Grund zu der Annahme, dass ein Verbrechen begangen wurde.«
Die Identität der verstorbenen Kinder ist nicht bekannt, und man geht nicht davon aus, dass es lebende Angehörige gibt.
»Dieses Haus hat eine Menge Kinder durch seine Tür kommen sehen«, sage ich. »Ein paar davon sind bestimmt gestorben.«
Larry senkt die Stimme. »Ganz gewiss. Ich hab sie alle begraben, und zwar nicht bei denen auf dem Grundstück.«
»Was wollen Sie damit sagen?«, frage ich. »Waren Sie das etwa? Haben Sie sie umgebracht?«
Larry verzieht das Gesicht, eine Grimasse des Erstaunens oder der Enttäuschung. »Verdammt, nein.«
»Sie können es mir ja wohl kaum verdenken, dass ich frage.«
»Florence, ich habe Susan Duxbury, Stephen Shorrock und Patsy Wood umgebracht. Das habe ich zugegeben, und ich habe drei Jahrzehnte lang dafür gesessen.«
Das braucht er mir nicht zu sagen. Vor dreißig Jahren verschwanden in Sabden drei Teenager in unmittelbarer Nähe ihrer Wohnhäuser und wurden nie wieder lebend gesehen. Ich war damals eine kleine WPC, eine Streifenpolizistin, noch in der Probezeit, aber ich habe den Mörder aufgespürt und gefasst. Larry.
»Ich komme hier ja doch nicht lebend raus«, sagt er. »Was sollte es mir bringen, zu lügen?«
Es würde ihm nichts bringen. Überhaupt nichts.
»Ich erinnere mich an jeden Sarg, den ich jemals geschreinert habe, Florence. Können Sie sich das vorstellen?«
Bevor er ins Gefängnis kam, war Larry Schreinermeister und Mitbesitzer von Sabdens einzigem Beerdigungsunternehmen Glassbrook & Greenwood gewesen. Sein Partner Roy Greenwood führte die Geschäfte und marschierte im schwarzen Frack und Zylinder vor dem Leichenzug her, einen Stock mit Silbergriff in der Hand. Larry fertigte die schönen, mit Satin ausgeschlagenen Hartholzsärge an.
»In der Zeit, die ich mit Roy zusammengearbeitet habe, habe ich acht Kindersärge für das Black Moss Manor gemacht«, erklärt Larry mir. »Drei davon für Babys. Gerechnet hat sich das nicht, aber ich hab sie trotzdem schön gemacht, weil ich ja selbst zwei Kinder hatte.«
Ich hebe unwillkürlich die Augenbrauen. Ein liebender Vater, der die Kinder anderer Leute umbringt? Entweder sieht er es nicht, oder er ignoriert mich.
»Worauf ich hinauswill, ist«, fährt er fort, »die Kinder sind nicht auf dem Gelände von Black Moss beerdigt worden, sondern auf dem der Gemeinde von St. Augustine. Das war der nächste Friedhof.« Er tippt mit dem Finger auf den Zeitungsausschnitt. »Wo kommen die Leichen also her?«
»Das war vor Ihrer Zeit«, gebe ich zu bedenken. »Wann haben Sie angefangen, für das Beerdigungsinstitut zu arbeiten?«
»1946.« Er hat mit der Frage gerechnet. »Roy hat sich an die Schule gewandt. Er hat einen Lehrling gesucht, jemanden, der gut im Werken war.«
Ich werfe erneut einen Blick auf den Zeitungsausschnitt. Vier kleine Skelette. »Dann sind diese Kinder eben noch früher gestorben. Hier steht, dass es das Heim seit dem 19. Jahrhundert gegeben hat.«
Larry seufzt, ein feuchtes, ungesundes Geräusch. »Florence, ich kenne mich ganz gut mit Toten aus, und damit, was unter der Erde mit denen passiert. Der Boden da oben ist sauer. Und nass. Kleine Leichen würden sich da keine fünfzig Jahre halten.«
»Wollen Sie damit sagen, das waren inoffizielle Beerdigungen?«
»Jep. Und vor noch gar nicht so langer Zeit. In den letzten zwanzig Jahren. Allerhöchstens dreißig.«
»Dann wird man das untersuchen.«
»Sieht es für Sie aus, als hätten die vor, irgendwelche Untersuchungen anzustellen?«
Noch einmal überfliege ich den Artikel. Die sterblichen Überreste sollen nach einer kleinen Zeremonie eingeäschert werden. »Ich kann mich da nicht einmischen.«
»Hört sich nicht an wie die WPC Lovelady, die ich kenne.«
Ich bin die letzte Besucherin, die noch sitzt. Der Wärter schaut auf die...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.