Schweitzer Fachinformationen
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Für die Jahreszeit ist es ungewöhnlich warm in Cambridge. Als es am Morgen nach dem Abschlussball im Trinity College hell wird, schlafen Mädchen in Chiffonkleidern auf den Rasenflächen und am Flussufer. Ihre Köpfe ruhen auf den Dinnerjackets von Jungen, mit denen sie den gestrigen Abend vielleicht begonnen haben, vielleicht aber auch nicht. Die Jungen liegen neben ihnen, regungslos wie umgestürzte Statuen.
Nur wenige Meter von dort entfernt, wo sie schlummern, windet sich der Cam durch herabhängende Weidenzweige und genießt die Stille. In wenigen Stunden werden die Stechkähne unterwegs sein, und Stechkähne können nicht ohne Gekreisch, Geschrei und allgemeine Fröhlichkeit durchs Wasser gestakt werden. Im Augenblick gleiten nur die Rudermannschaften der Colleges wie Wasserinsekten über die Oberfläche des Flusses. Unterhalb der Schleuse Jesus Green Lock beginnen die Hausboote, die wie staubige Juwelen aussehen, an ihren Tauen zu schaukeln, als ihre Bewohner aufwachen.
Auf dem Marktplatz begrüßen die Händler einander mit der Neuigkeit, dass es heute sehr heiß werden wird. Dasselbe haben sie jetzt schon seit über einer Woche jeden Tag gesagt und werden es auch ungeniert weiter verkünden, solange die Hitzewelle andauert. Doch das frühe Sonnenlicht hebt ihre Stimmung, und die beiden, die Kisten die breite Hauptgasse hinunterschleppen, schimpfen nicht einmal, als die androgyne Gestalt auf Rollerskates vorbeiflitzt und ihnen fast alles herunterfällt.
Durch das klaustrophobisch enge Herz dieser mittelalterlichen Stadt windet sich eine Doppelschlange aus Chorknaben, unterwegs zum Üben, oder vielleicht auch schon auf dem Rückweg zum Frühstück. Es ist unmöglich, kleine Jungen zum Schweigen zu bringen, und der Chorleiter hat es längst aufgegeben, dergleichen zu versuchen. Die Schlange windet sich um eine Frau mit rosa Haaren herum, die in die Gegenrichtung geht, und wenn einer oder zwei der Jungs abfällig kichern . nun ja, sie sind jung.
Die Frau, auf Absätzen, die zu hoch sind, und in Kleidern, in denen sie geschlafen hat, bemerkt die Jungen oder ihr Feixen kaum. Sie war nicht auf dem Abschlussball, ihre Zeit an der Uni ist längst vorbei, doch ihr Schädel dröhnt genauso schmerzhaft wie der jedes wachen Studenten, und aus demselben Grund. Anders als bei der sorglosen Jugend jedoch schmerzt das Herz dieser Frau noch mehr als ihr Kopf. So merkwürdig es auch scheinen mag, sie ist eine ranghohe Polizistin, und vor etwas mehr als einer Woche ist in ihrem Zuständigkeitsbezirk eine junge Frau ermordet worden.
Die Obdachlosen - denn die gibt es selbst in einer so aufgeklärten und fortschrittlichen Stadt wie Cambridge - merken es nicht, als sie in jedes einzelne schmutzige, schlafende Gesicht hinabstarrt. Sie bekommen es nicht mit, dass sie zählt, sie auf einer Seite ihres Notizbuchs abhakt. Alle da und vollzählig, zumindest heute Morgen. Als sie an einer Häuserzeile vorübergeht, die im 17. Jahrhundert von Kaufleuten erbaut wurde, schaut sie kurz zu drei Fenstern im obersten Stock hinauf. Ihre Schritte geraten ins Stocken, und die Kerbe zwischen ihren Augenbrauen wird tiefer, dann geht die Frau weiter und verschwindet.
Aus einem dieser Fenster starrt Felicity, die in einem sonnendurchfluteten Zimmer steht. Morgenlicht strömt über die gelben Wände und den blassorangeroten Teppich. Das Sofa, im Augenblick leer, ist lachsrosa wie ein Sonnenaufgang. Vom obersten Stock des alten Hauses aus kann sie Türme und Kirchturmspitzen sehen, Zinnen und Rondelle, die alle golden schimmern. Das hier ist die schönste Stadt der Welt, denkt sie.
»Was glauben Sie, warum Sie hier sind, Felicity?«, fragt eine Männerstimme.
Die Stimme passt nicht zu dem femininen Raum. Ganz bestimmt hat kein Mann die Vasen in exakt demselben Apricot-Ton wie die Bonbonschale auf dem Couchtisch gekauft. Kein Mann hätte Sessel in warmem Altweiß mit orangefarbenem und rotem Blümchenmuster ausgesucht.
»Felicity?«
Der Mann, der dieses Zimmer mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht eingerichtet hat - dann würde er nämlich nicht ausgefranste Jeans, Turnschuhe und ein Nike-Sweatshirt tragen -, wartet auf eine Antwort. Dr. Grant, der sie gebeten hat, ihn Joe zu nennen, ist jung, allerhöchstens Ende dreißig, obwohl der Ansatz seines dunkelbraunen Haares über den Schläfen zurückweicht. Unter den Bartstoppeln ist sein Hals dünn und blass.
»Das Zimmer gefällt mir«, sagt Felicity.
Seine Augen gefallen ihr auch, braun-grün unter dunklen Brauen. Er lächelt oft, aber freundlich, und seine Stimme ist sanft und leise.
»Danke.« Leichte Röte steigt ihm in die Wangen. »Meine Frau hat es eingerichtet. Ich war eine Woche weg, und sie hat gesagt, lass mich nur machen, bis du wieder da bist, habe ich alles geregelt.«
Seine Mundwinkel sinken herab, als sein Blick von den gerafften Vorhängen zu den dicken Kissen wandert. »Einen Monat später hat sie mich um die Scheidung gebeten. Ich hätte das kommen sehen müssen.«
Felicity weiß nicht recht, wie sie darauf reagieren soll, und überlegt, ob er vielleicht gar nicht vorhatte, so viel von sich preiszugeben. Jäh wird ihr klar, dass auch er nervös ist.
»Warum fangen wir nicht damit an, wo Sie diese blauen Flecken da im Gesicht herhaben?«, fragt er.
»Ich bin hingefallen.« Sie antwortet zu schnell. Der Satz kommt heraus wie geölt, wie geprobt. Ihr erster Fehler. Oberflächlich gesehen tut sich nichts im Gesicht von Nennen-Sie-mich-Joe, aber der Ausdruck seiner Augen hat sich verändert. Das sagen geprügelte Frauen doch immer. Ich bin hingefallen. Ich bin gegen die Tür gelaufen. Ich habe nicht gesehen, dass die Schublade offen war, als ich mich gebückt habe .
»Wo denn?«, erkundigt er sich.
»Auf dem Midsummer Common. Ich wohne direkt daneben. Bestimmt bin ich rausgegangen und . hingefallen.«
Seine Miene ist immer noch offen, interessiert, doch sie traut ihr nicht mehr.
»Bestimmt?«, fragt er. »Sie wissen es nicht mehr?«
Das weiß er doch sicher schon. An jenem Abend war die Polizei zum Midsummer Common gerufen worden, der großen Grünfläche nordöstlich vom Stadtzentrum. Die Leute, die sie gefunden hatten, hatten es angesichts ihrer zerrissenen Kleider und ihrer blutenden Glieder mit der Angst bekommen. Sie hat der Polizei und den Leuten im Krankenhaus gesagt, dass sie sich nicht erinnern könne, was passiert sei. Sie haben ihr nicht geglaubt, und jetzt glaubt Nennen-Sie-mich-Joe ihr auch nicht. Das kann sie ihnen auch nicht verdenken, und doch sagt sie die schlichte, absolute Wahrheit. Die Ereignisse jenes Abends auf dem Common sind . nicht da.
»Das war aber ein ganz schöner Sturz«, bemerkt er. »Laut Ihrer Krankenakte haben Sie geblutet und waren völlig verstört. Hatten eine Gehirnerschütterung, schwere Prellungen im Gesicht und Schürfwunden an Armen und Beinen. Die haben Sie über Nacht im Krankenhaus behalten.«
Nennen-Sie-mich-Joe trinkt starken schwarzen Kaffee. Jedes Mal, wenn er einen Schluck nimmt, kann sie das Aroma riechen. Jetzt bereut sie es, abgelehnt zu haben, als er ihr eine Tasse angeboten hat.
»Wie kam es, dass Ihre Arbeitgeber sich da eingeschaltet haben?«, will er wissen. »Haben Sie denen davon erzählt?«
»Nein, ich hätte da keine große Sache draus gemacht, aber es war schon zu spät. Die Polizei war bei mir zu Hause, während ich im Krankenhaus war. Sie konnten keinerlei Informationen zu irgendwelchen Angehörigen finden, also haben sie meinen Arbeitgeber kontaktiert. Der Chef der Personalabteilung hat mich im Krankenhaus besucht, und damit war das Ganze offiziell.«
Er nickt immer noch; auch das weiß er bereits. »Ihre Arbeitgeber wollen, dass Ihr Hausarzt Sie gesundschreibt, aber ohne psychiatrisches Gutachten möchte Ihr Hausarzt das nicht tun?«
Felicitys Stimme wird lauter, doch ihre Fröhlichkeit ist erzwungen. »Genau deswegen bin ich hier.«
Eigentlich müsste er doch anerkennen, dass sie endlich seine Frage beantwortet hat. Stattdessen fragt er: »Wollen Sie denn wieder arbeiten gehen?«
»Auf jeden Fall. Die Arbeit ist alles, was ich habe.«
Plötzlich mustern seine sanften braun-grünen Augen sie scharf, und er blinzelt nicht, als er sie ansieht. Sein Starren verunsichert sie. Dieser Mann sieht mehr, als ihm zusteht.
»Und was ist mit Freunden?«, erkundigt er sich. »Einem Partner?«
»Bei der Arbeit hat sich eine tolle Gelegenheit ergeben«, erklärt sie hastig. »Eine einmalige Chance. Aber wenn ich nicht fit bin, komme ich dafür nicht in Betracht.«
»Ich verstehe. Noch mal zu dem Abend auf dem Common. Was wissen Sie noch davon?«
»Ich weiß, dass ich zu Hause war, bevor es passiert ist. Dass ich etwas zu Abend gegessen und Bürokram erledigt habe. Danach nichts mehr.«
»Wir reden hier von einer Erinnerungslücke von mehreren Stunden?«
»Vier Stunden. Um acht habe ich eine E-Mail abgeschickt. Und kurz nach Mitternacht bin ich ins Krankenhaus gebracht worden.«
Er wartet, als wüsste er, dass sie noch mehr zu sagen hat. Einen Augenblick später schaut sie zu Boden. Er sagt noch immer nichts. Als sie wieder aufblickt, hat Nennen-Sie-mich-Joe einen Aktendeckel auf dem Schoß.
»Erzählen Sie mir von Ihrem Job«, sagt er. »Was arbeiten Sie?«
Das weiß er doch. Es steht bestimmt in der Krankenakte. Hier geht es nicht darum, was sie sagt, es geht darum, wie sie es sagt. Oder vielleicht auch darum, was sie nicht sagt.
»Ich arbeite für das British Antarctic Survey«, sagt sie. »Ich bin...
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