Schweitzer Fachinformationen
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Neunzehnhundertsechsundfünfzig. Die Gegend, von der ich spreche, hat keine Berge, keine klaren Seen und keinen Himmel. Die Wälder erinnern an Kriegsgräber, die Bäume an Bartstoppel, und obwohl man keine Blätter sieht, kommt nie Licht durch. Nach dem Regen schmeckt die Luft, als lutsche man Steine.
Unser Haus, das ich an einem frühen Montagmorgen verließ, lag etwas abseits des Dorfs. Damals war es das letzte der Straße und grenzte direkt an den Wald, der nachts hechelte und grunzte wie ein schnarchender Riese. Ob es wirklich Montag war, weiß heute keiner mehr. Jedenfalls muss es im Februar gewesen sein. Meine Augen waren klebrig, ich spürte die Kälte auf der Haut und aus den Büschen stieg der Nebel wie Dampf aus Hexenkesseln. Über der rechten Schulter trug ich die quadratische Schultasche, die mein Vater immer mit einer Paste aus Marderfett einreiben wollte, wenn er sie sah: »Das Leder pflegen.«
Ich brabbelte unentwegt, während ich meine Schuhe durch das matschige Laub schleifte. Meistens verstellte ich meine Stimme, ahmte Radiosprecher nach oder erfand eine Geschichte, in der ich alle Haupt- und Nebenrollen sprach. Das Gequassel vertrieb die Angst vor dem dunklen Unterholz, in dem es immer unverhofft knackte und knisterte. Hätte mich jemand gefragt, mit wem ich da rede, hätte ich vielleicht geantwortet: Mit Lederstrumpf und Chingachgook oder dem Papagei Polynesia, der Pinocchio ein Matrosenlied singt. Doch das fragte mich niemand, denn ich lief den Weg zur Schule immer allein. Allenfalls hörte man, wie hinter den Fenstern die alten Bergmänner husteten. Aber auch die bekam man als neunjähriger Junge nur selten zu Gesicht.
Dann flog ich. Ich ließ meine Hand durch die Luft gleiten, warf sie in waghalsige Manöver, wich im letzten Moment vor dem Aufprall Kirchtürmen (Ästen) und Berggipfeln (Mauern) aus. Ein Düsenantrieb zischte, ich vergaß, dass ich das Geräusch selbst erzeugte. Denn eigentlich war ich gut im Vergessen. Nur an jenem Morgen ging mir eine Sache nicht mehr aus dem Kopf.
»Es wird Zeit, dass du anständig Französisch lernst«, hatte mein Vater gesagt.
Ich musste den ganzen Tag daran denken: Wie immer hatte er am Abend kurzatmig auf seinem Wurstbrot herumgekaut und vor jedem Schluck Tee tief Luft geholt, als müsste er für lange Zeit untertauchen. Wie immer folgte auf das Schnauben ein beißendes Schlürfen, während meine Mutter, die erkältet war und schlecht Luft bekam, keuchte wie das Ventil einer Luftpumpe. Das Knirschen, Schmatzen und Stöhnen zu Tisch raubte mir ohnehin den Appetit und dann sollte ich aus heiterem Himmel anständig Französisch lernen. Ich ahnte, dass sich eine Wende abzeichnete, eine folgenschwere, wie sie im Radio sagten. Wie ich eigentlich schon immer geahnt hatte, dass bald irgendetwas Schlimmes passieren würde, ja musste. Aber dann passierte doch nichts. Alles war wie immer. Wir kauten und grunzten, niemand schaute von seinem Teller auf oder sprach irgendwen an. Und obwohl kein Wort gewechselt wurde, gelang es uns immer, den Brotkorb genau dann hinüberzureichen, wenn gerade jemand Nachschlag wollte. Die Teekanne fand ihren Weg wie von selbst in die Hand des Durstigen, die Servietten verteilten, die leeren Teller stapelten sich. Unsere Handgriffe waren zentimetergenau, eine Art schlafwandelnder Autopilot und das Ergebnis eines unausgesprochenen Pakts aller, kein Wort zu viel miteinander zu reden. Nur sollte ich dann anständig Französisch lernen. Fragen war zwecklos, denn aus meinem Vater wurde niemand schlau.
Dabei war ich kein dummes Kind.
»Robert lernt ja schnell«, sagte meine Mutter immer. Doch meistens erwähnte sie es in einem Atemzug damit, dass ich nicht besonders großgewachsen oder zu kränklich sei. Oder sie lobte mich ohne erkennbaren Zusammenhang, was vielleicht noch schlimmer war. Ich glaubte, dann eine ängstliche Wut in ihrer Stimme zu hören, sah ernste Falten um ihren Mund. Mir war, als ob ihr Lob von einem unverkennbaren Mangel meines Wesens ablenken sollte. Als müsste sie sich selbst und allen anderen einreden, dass es doch noch Hoffnung für mich gab.
Erst Tage später erfuhr ich, was mein Vater damit gemeint hatte, dass ich anständig Französisch lernen müsse. Und das nur, weil wir Besuch hatten. Man verstand meinen Vater nämlich am besten, wenn er angetrunken war. Obwohl er sonst nicht rauchte, wühlte er dann eine Schachtel Lasso-Zigaretten aus der Schublade. Er zündete sich eine an, schaute zufrieden, beinahe tiefsinnig der Glut beim Abbrennen zu und verlor sich anschließend in einem Redeschwall, der oft erst zu Ende war, wenn er einnickte. Er redete dann so laut, dass ich in meinem Zimmer alles mitbekam.
»Wenn die Saar wieder deutsch ist, wird neu gewürfelt. Mit Moreau verstehe ich mich gut, aber der ist weg vom Fenster.«
Meine Mutter grummelte nur. Ihre Haare waren dunkelblond, abgesehen von einer fingerbreiten, silbernen Strähne, die vom Mittelscheitel aus über ihr linkes Ohr fiel, und wenn ihr nicht gefiel, was mein Vater sagte, wickelte sie diese immer um den linken Zeigefinger, schlug ein Bein über das andere und wippte nervös mit dem Fuß.
»Wenn ich mit Moreau nach Marokko gehe, kann ich noch was werden.«
Meine Mutter nahm sich jetzt vielleicht eine von Papas Zigaretten. Sie rauchte noch seltener und ganz anders als er. Sie zog den Rauch immer mit solcher Kraft in ihre Lunge, dass die Zigarette im spärlich beleuchteten Wohnzimmer verglühte wie ein Komet am Nachthimmel. Mit wenigen kräftigen Zügen verwandelte sie die Kippe in eine lange Aschesäule, die erst über ihren Beinen zusammenstürzte, als die Glut bereits den Filter erreichte. Nach einer kurzen Pause, in der jemand ein Streichholz anzündete, fügte mein Vater hinzu: »Es ist ja nicht für immer. Du stellst es dir auch bestimmt ganz falsch vor.«
Ich hörte, wie die Cognacflasche entkorkt wurde. Jemand schenkte sich nach, leises Gluckern. Dann hörte ich meine Mutter: »Und Sie gehen auch?«
»Für mich kommt das ja nicht in Frage«, antwortete Donald. Ich nannte ihn so, weil er wie die Zeichentrickfigur an einer Hand nur vier Finger hatte. Seit einem Grubenunfall war seine rechte Hand zu nichts mehr zu gebrauchen. Darum hatte man ihn zum »Zeitungsleser« gemacht, hatte meine Mutter mir erklärt. Er musste den lieben langen Tag Zeitung lesen und durfte keine Nennung der Montanunion oder irgendeines Bergwerks übersehen. Wenn ein Artikel wichtig schien, schnitt er ihn aus und heftete ihn für den Chef in einen Ordner. Mein Vater verspottete ihn dafür als »Intellektuellen«. Obwohl er uns oft besuchte, habe ich Donalds richtigen Namen vergessen, aber seine Hand kenne ich noch genau. Als ich gerade bis zehn zählen konnte, machten sich die Erwachsenen gerne einen Spaß daraus. Dann sollte ich vor allen seine Finger zählen und verstand nie, wieso ich nur auf neun kam. Verzweifelt drehte ich unter lautem Gelächter seine Hand hin und her, um zu schauen, ob irgendwo noch Finger versteckt waren.
»Denk doch an die Bezahlung. Und sie stellen sogar den Urlaub am Meer. Die Bungalows sehen hervorragend aus.«
Es folgte ein tiefer, mühsamer Atemzug durch halb verstopfte Nasengänge.
»Große Gärten. Und ganz zu schweigen von der Mine. Die haben die besten Maschinen aus Amerika.«
»Und die ist in Algerien?«
»Ja, direkt hinter der Grenze. Von dem Ärger dort merkt man da aber nichts. Das hat mit uns ja auch nichts zu tun.«
Das Wort Krieg fiel in unserer Familie im Zusammenhang mit Algerien erst, als dieser längst vorbei war. Wer weiß, was meine Eltern zu der Zeit überhaupt darüber wussten.
Meine Mutter stimmte schließlich zu, klagte aber immer mal wieder: »Dann gehen wir halt zu den Alis.«
Und da niemand darauf reagierte, fügte sie trotzig hinzu: »Meinetwegen. Mir ist es recht.«
Wenn wir Besuch hatten, betrank sich mein Vater, auch wenn er danach immer so tat, als hätte niemand bemerkt, wie viel er gezecht hatte. Meine Mutter schimpfte ihn manchmal wegen der Trinkerei, aber eigentlich fanden ihn alle viel liebenswerter, wenn er einen sitzen hatte. Noch heute fallen mir, wenn ich an meinen Vater denke, nicht etwa seine rauen, adrigen Hände, sein breites kantiges Kinn oder die tiefen Geheimratsecken ein. Zuerst denke ich an die kleinen dunklen Knopfaugen mit dem sanften Blick und an das kindliche Lachen, das spätabends immer in mein Zimmer drang. Er redete mit den anderen Bergleuten im Wohnzimmer oft von der Arbeit in den Gruben. In meinem Halbschlaf verwandelten sich ihre Geschichten in abenteuerliches Seemannsgarn. Sie sprachen von Schlagwetter, worin ich einen höllischen Gewittersturm aus stinkenden Gasen vermutete, die vom Mittelpunkt der Erde stammen und ohne Vorwarnung durch den Schacht wehen. Dabei blasen sie die Kumpel in einem Strudel aus Gestein durch ein Labyrinth stockfinsterer Gänge. Ich sah ihre kohleschwarzen Gesichter, die strahlend weißen Zähne, die sie im starken Höllenwind fletschen wie tollwütige Affen; ihre tränenumspülten, gelben Augäpfel in den schwarzen Höhlen. Die einen rudern hilflos mit den Armen, während sie in ihren sandgelben Overalls umhergeschleudert werden. Andere finden Schutz hinter der Schrämwalze, einem zehn Meter langen Regenwurm mit Zähnen aus Stahl, der darauf abgerichtet ist, Gänge ins Gestein zu fressen. Auf dem glitschigen Wurm reiten sie durch die Unterwelt. Es lässt sich kaum noch atmen, denn die Faulgase breiten sich rasend schnell aus. Einige Männer schaffen es schließlich ins Freie, gerade rechtzeitig, um der Druckwelle zu entkommen, die es hinter ihnen aus dem Stollen speit und dabei Bäume umwirft, als...
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