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Jeremias Thiel ist elf, als er zum Jugendamt geht. Zu Hause hält er es nicht mehr aus: Sein Vater ist depressiv, die Mutter spielsüchtig, Geld immer knapp. Um sich ein Taschengeld zu verdienen, sammelt er Pfandflaschen. Der Grund für seinen Besuch auf dem Amt: Er will aus seiner Familie genommen werden. Und so kommt der Junge in ein SOS-Kinderdorf, macht Abitur und studiert in den USA. Mit 19 schreibt Jeremias Thiel ein Buch über seine Kindheit: Kein Pausenbrot, keine Kindheit, keine Chance.[4] Heute ist er Mitglied der SPD und hält Vorträge über Kinderarmut.
Iris Sayram ist Juristin und Journalistin. Die bundespolitische Korrespondentin im ARD-Hauptstadtbüro erkennt man an ihrer markanten schwarzen Brille, wenn sie in den »Tagesthemen« den Kommentar spricht. In ihrer Biografie Für euch schildert sie, wie sie mit Prostitution, Drogen und Armut aufwächst.[5] Als sie zehn Jahre alt ist, wird ihre Mutter von der Polizei abgeholt und später zu drei Jahren Gefängnis verurteilt, weil sie ein Deo für 2,50 DM geklaut und gegen Bewährungsauflagen verstoßen hat. In ihrer Jugend besucht Iris Sayram häufiger die JVA als die Bücherei. Aber sie hat gute Noten, schafft es auf das Gymnasium und anschließend an die Universität. Mit 26 Jahren macht sie das zweite Staatsexamen in Jura. Eine Bilderbuchkarriere.
Aufsteigergeschichten wie die von Jeremias Thiel und Iris Sayram beeindrucken. Sie zeugen von einer enormen Energie, und sie machen Mut. Die Botschaft scheint klar: Geht doch, jeder kann aus armen Verhältnissen aufsteigen. Aber diese Biografien sind Einzelfälle. Sie dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die meisten Kinder es eben nicht schaffen, aus eigener Kraft der Armut ihrer Familien zu entkommen. Und sie sind auch keine Rechtfertigung dafür, Kinderarmut zu beschönigen, die Kränkungen und Zurückweisungen, die damit verbunden sind, kleinzureden. Das betonen auch beide Autoren. Es ist ein Problem, dass man in der Öffentlichkeit überwiegend Menschen sieht, die berichten, dass sie arm waren, aber kaum Menschen, die von sich sagen: Ich bin arm.
In dem sozialen Netzwerk X (vormals Twitter) teilen seit Mai 2022 unter dem Hashtag #IchBinArmutsbetroffen arme Menschen ihre Erfahrungen. Den Anfang machte Anni W., eine alleinerziehende Mutter. Allein im ersten Monat wurden 100 000 Tweets gepostet, Betroffene schildern ihren Alltag, ihre Sicht, ihre Probleme. Es ist das erste Mal, dass sich so viele arme Menschen zu Wort melden. Aber eine öffentlich sichtbare Bewegung, die wie andere Lobbygruppen, etwa die Bauern, wochenlang Straßen blockieren, auf Demos selbstbewusst Forderungen stellen und die Nachrichten beherrschen, wurde bisher nicht daraus. Ein Grund dafür: In den Parteien, in den Vorständen der großen Konzerne und auch im Journalismus gibt es nur wenige Menschen, die selbst Erfahrung mit Armut haben und die ihre Sicht auf die Gesellschaft einbringen könnten. Wer, wie der Journalist Marco Maurer in der Zeit, über seinen sozialen Aufstieg schreibt, erregt damit viel Aufmerksamkeit.[6] Doch die meisten schweigen lieber über ihre Herkunft.
Derzeit beanspruchen Rassismus oder Sexismus mehr Raum in der öffentlichen Debatte als Begriffe wie »Klasse« oder »Klassismus«. Die scheinen aus der Mode gekommen zu sein, klingen verstaubt nach Marx und Engels und Das Kapital. Von der Arbeiterklasse redet auch kaum einer mehr. Klassen . kann es die überhaupt noch geben in einer Gesellschaft, die sich immer stärker individualisiert?
Aber ja, Klassen gibt es nach wie vor. Der Begriff »Klassismus« ist aber vielleicht nicht jedem geläufig. Er bezeichnet Vorurteile oder Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer sozialen Herkunft oder ihres sozialen Status. Er richtet sich gegen arme Menschen aus der Arbeiter- und Arbeiterinnenklasse. Und auch gegen Menschen, die von Bürgergeld leben (früher Hartz IV), keine Ausbildung oder kein Studium haben sowie gegen Obdachlose.
Klassismus wurde als Thema lange ignoriert. Erst seit Kurzem wird darüber diskutiert und geschrieben. Vielleicht, weil viele dachten, dieses Problem hätten wir überwunden, so als gäbe es Derartiges nicht mehr in Deutschland. Die meisten glauben, wer etwas erreichen will, der schafft das auch. Man muss sich nur anstrengen.
Für die Generation der Babyboomer, also für zwischen 1946 und 1964 Geborene, war es noch möglich, durch Bildung aufzusteigen. Heute funktioniert dieser sogenannte soziale Fahrstuhl nicht mehr so einfach. Das Bild entwarf der Soziologe Ulrich Beck in den 1980er-Jahren: Durch verbesserte Bildungschancen fuhren weite Teile der Gesellschaft wie mit einem Lift nach oben. Die Folge: Mehr Menschen lebten einige Etagen höher im allgemeinen gesellschaftlichen Wohlstand. Die sozialen Ungleichheiten blieben zwar bestehen, aber weil es allen besser ging, war das Grundgefühl optimistisch. »Früher gab es ein allgemeines Aufstiegsdenken«, sagt der Soziologe Aladin El-Mafaalani. Er forscht an der Technischen Universität Dortmund vor allem zu den Themen Bildung und Migration. Seinen Studierenden empfehle er, Hape Kerkelings Buch Der Junge muss an die frische Luft zu lesen oder auch die gleichnamige Verfilmung anzusehen, sagte mir der Professor in einem Interview.
In seiner Biografie schildert der Komiker, Schauspieler und Autor Hape Kerkeling, wie er in den 1970er-Jahren in Recklinghausen im Ruhrgebiet aufwächst. Der Vater ist Schreiner, die Familie hat nicht viel. »Kerkelings Eltern waren nicht arbeitslos, aber sie hatten wesentlich weniger Kaufkraft als jemand, der heute von Bürgergeld lebt. Der Unterschied war, dass sie zur Mehrheit gehörten und nahezu alle in dem Milieu dachten: Für die nächste Generation wird es besser. Und sie hatten recht!«, sagt der Soziologe El-Mafaalani. Im Kino fühlten sich viele aus der Generation der Babyboomer bei dem Film an ihre Kindheit erinnert. Sie wurden groß in einer Zeit, als es nur drei Fernsehprogramme gab, aber immer mehr Wohlstand und Wachstum für alle.
Heute fehlt diese optimistische Perspektive. Krieg, Klimawandel und Migration versperren die Sicht, eine goldene Zukunft scheint in weite Ferne gerückt. Die Folge sind resignierte Milieus. Armut verfestigt sich. El-Mafaalani erklärt das so: »Solange das Versprechen galt, später wird es den Kindern einmal besser gehen, ließen sich ungerechte Verhältnisse leichter legitimieren. Doch seit etwa zehn Jahren gilt dieses Versprechen nicht mehr. Menschen in prekären Lebenslagen beobachten, wie andere Jahr um Jahr ökonomisch aufsteigen, sie aber nicht. Das ist deprimierend! Viele glauben, sie hätten selbst Schuld an ihrer Situation.«
Die meisten in Deutschland denken, jeder sei selbst für sein Glück verantwortlich. Sieben von zehn Bundesbürgern und -bürgerinnen stimmen der Aussage zu: Es hängt von mir selbst ab, ob ich es schaffe, auf der sozialen Leiter aufzusteigen. Fast 90 Prozent sind der Meinung, für den persönlichen Erfolg seien vor allem typisch deutsche Tugenden wie Anstrengung und Fleiß wichtig. Andere Faktoren wie Geld oder Beziehungen halten die meisten Befragten für weniger entscheidend. Nur 37 Prozent sagen: Man muss aus der richtigen Familie stammen.[7]
Diese Antworten spiegeln das herrschende Ideal der Meritokratie wider, nach dem allein die Leistung des Einzelnen über seinen oder ihren Status in der Gesellschaft entscheidet und jeder sein Leben selbst in der Hand hat. Obwohl Studien immer wieder zeigen, dass die Herkunft eine zentrale Rolle bei der Verwirklichung von Chancen spielt, überschätzen die Menschen ihren eigenen Anteil am Erfolg und unterschätzen die Macht der Umstände. Die Soziologen Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser erklären diesen scheinbaren Widerspruch mit der »Gleichzeitigkeit einer Unzufriedenheit mit der Ungleichheit und einer relativen Zufriedenheit mit der eigenen Lage«. Den Menschen ist die zunehmende Kluft zwischen Arm und Reich zwar bewusst, das tatsächliche Ausmaß der Ungleichheit jedoch nicht. Vor allem Benachteiligte überschätzen ihre eigene soziale Position in der Gesellschaft. Tief verwurzelte meritokratische Normen verhindern eine Kritik an den Verhältnissen, der Klassenkampf Unten gegen Oben bleibt aus - schließlich ist jeder und jede selbst verantwortlich für sein oder ihr Vorankommen. Ein prominentes Beispiel, das gern angeführt wird: Die Mutter von Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder war Putzfrau, und trotzdem hat er es bis nach ganz oben geschafft. »Die wichtigste moderne Form der Legitimation von Ungleichheit ist das Leistungsprinzip«, schreiben die drei Soziologen in ihrem Buch Triggerpunkte.[8]
Durch die Bildungsexpansion ist das Bildungsniveau in der Gesellschaft gestiegen. Sie ist diverser und liberaler geworden. Aber das macht die Gesellschaft nicht automatisch durchlässiger oder gar gerechter. Es ist kompliziert, sich von seiner Herkunft zu lösen, allein aus eigener Kraft etwas im Leben zu erreichen. Vor allem, wenn man aus einer bildungsfernen und armen Familie stammt. Eine Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zeigt, dass es in Deutschland etwa sechs Generationen dauert, bis Nachkommen einer Familie vom unteren Ende der...
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