Schweitzer Fachinformationen
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Karl Heinz Bohrer gilt als einer der streitbarsten deutschen Intellektuellen. Als Leiter des Literaturteils der FAZ im eigenen Haus umstritten, als Herausgeber des Merkur für kühne Thematik berüchtigt, als Hochschullehrer eine Gegenfigur der Linken, als Wissenschaftler mit seiner zentralen Theorie der Plötzlichkeit eine Herausforderung für alle, die es gewohnt sind, sich geschichtsphilosophische Sinnhorizonte zurechtzubiegen.
Die unbeirrbare Erwartung, dass die banale Gegenwart umschlägt in das phantastische Jetzt - das ist Karl Heinz Bohrers Motor in seiner autobiographischen Geschichte. Sie spielt in europäischen Metropolen wie London und Paris, an deutschen und amerikanischen Universitäten, auf essayistischem wie auf wissenschaftlichem Terrain. Und immer wieder auf der Bühne der Beziehungen: zu Frauen, Freunden, Weggefährten und Gegnern. Intellektuelle Abenteuer wechseln mit erotischen Eskapaden. Dabei erzählt er konsequent aus der Perspektive des aktuellen Erlebens: aus dem Jetzt .
Vor einem Jahrzehnt hatte es angefangen. Wegen der Promotion wechselte ich von der nördlichen, puritanischen Universität Göttingen zu einer südlichen, üppigen Universität, nach Heidelberg. Die nördliche sah noch immer so aus, wie Heinrich Heine es geschildert, die südliche so, wie Brentano sie beschrieben hatte. Es war zuerst die Stadt selbst, die zwischen Brücke und Burg, Fluss und Wald in mir ein Glücksgefühl auslöste, wie ich es lange nicht mehr genossen hatte. Ein Adrenalinstoß. Und dann die völlig andere Atmosphäre des Seminars, für dessen Bibliothek ich zuständig sein sollte, wofür es sogar noch eine Art Assistentengehalt gab. In Göttingen war es bis zum Schluss etwas einschüchternd gewesen: streng, methodisch, staubig. So jedenfalls hatte ich es empfunden. Die Studenten wirkten gehorsam, beflissen. Natürlich gab es Ausnahmen. Klaus Mollenhauer zum Beispiel, der sehr ambitioniert ausgerechnet das Verstaubteste studierte, was man sich vorstellen konnte: Erziehungswissenschaften. Er war witzig, künstlerisch, intellektuell. Klaus war älter als ich und nahm mich mit in ein Seminar von Helmuth Plessner, das er wohl auch selbst als eine Ausnahme von seiner pädagogischen Regel genoss. Dort hatte ich mich wohlgefühlt. Ich musste eine Probearbeit schreiben: über Hemingways Vitalismus. Das lag mir. Plessner hatte gelächelt, aber die Arbeit für gut befunden.
An einem der ersten Heidelberger Samstage, einem sehr sonnigen Vormittag, als ich in der Bibliothek zu tun hatte, richtete einer der zwei Professoren, die zufällig hereinkamen, an mich die Frage: »Sagen Sie mal, Sie kommen doch aus Göttingen. Wie viele Studenten wären denn zu dieser Zeit dort im Seminar?« Ahnend, worauf die Frage hinauswollte, sagte ich, dass um diese Uhrzeit ziemlich viele Studenten im Seminar seien, auch an einem solch sonnigen Samstagmorgen. »Sehen Sie!«, antwortete der Professor in schwäbischem Tonfall und wies mit der Hand auf den fast leeren Raum mit den schönen alten Büchern an den Wänden: »Das reinste Neapel!« Es war tatsächlich an diesem Frühjahrstag zu Semesterbeginn schon sehr heiß, sehr viel heißer jedenfalls, als ich es von meinen nordischen Sommern gewöhnt war. Um die Bibliothek - hier hatte man wirklich den Bock zum Gärtner gemacht - brauchte ich mich nicht wirklich zu kümmern. Das übernahmen zwei Doktorandinnen, die gemerkt hatten, dass Nummerierung, Einkauf, Säuberung und Instandhaltung der Bücher nicht meine Sache war. Der Form halber ging ich aber doch regelmäßig in die Bibliothek. Auch deshalb, weil zu einer der beiden Studentinnen sofort ein besonderer Draht bestand. Sie war eine schwarzhaarige, apart aussehende, sehr temperamentvolle, gleichzeitig beziehungsreich sprechende Frau Ende zwanzig. Nennen wir sie Anne. Eine gewisse Zweideutigkeit im Ausdruck - nicht Koketterie, sondern Herausforderung - mischte sich in ihre ansonsten sachliche Redeweise. So etwas hatte es in Göttingen nicht gegeben. Ganz anders, als es dort üblich gewesen war, sprach sie sofort über literarische Neuerscheinungen. Sie erzählte mir von der literarischen Redaktion einer nahen Rundfunkanstalt. Ob ich nicht Lust hätte, dort einmal einen Essay zu platzieren. Es war aufregend, dass sie mir das zutraute! Aber Anne hatte auch selbst etwas Aufregendes, irgendwie Geheimnisvolles, das bei mir zu einer bleibenden erotischen Erwartung führte. Die Chance, in so etwas hineingezogen zu werden, war gekommen. Aber wir blieben zunächst beide bei unseren literarischen Gesprächen.
Es war höchste Zeit, die Doktorarbeit voranzutreiben, nachdem wegen der Notwendigkeit, Geld zu verdienen, ein Jahr als Lektor des Goethe-Instituts in Schweden verloren gegangen war. Dort war das Ziel einer Universitätskarriere hinter dem Ehrgeiz verschwunden, journalistisch zu schreiben. Die fremde skandinavische Welt, im Herbst schon nachmittags die frühe Dunkelheit in der kleinen Seestadt nördlich von Uppsala, die häufigen privaten Einladungen bei fließend Deutsch sprechenden schwedischen Familien, die Unterhaltungen über den Krieg, das Bedauern darüber, dass in Skandinavien kaum einer aus der jüngeren Generation wie früher Deutsch spreche, der erhabene Klang der schwedischen Literatursprache auf der Bühne des Theaters in Stockholm - das alles hatte die Dissertation immer unwichtiger werden lassen. Der englische Kollege mit dem drolligen Gesichtsausdruck eines Schnauzers - er unterrichtete in einer der Oberklassen des Gymnasiums - erzählte beim gemeinsamen Mittagessen im Hafen von seinen journalistischen Absichten. Allerdings werde er vorerst wohl nur bei einer Provinzzeitung in Yorkshire landen, wo er herkam. Für eine Londoner Zeitung fehlten ihm die Beziehungen und, wie er sich ausdrückte, die richtige Schulkrawatte. Umso mehr galt es nun auch für mich, mit dem Schreiben anzufangen, zum Beispiel mit der Darstellung eines Eishockey-Nachmittags bei der örtlichen Mannschaft, einer der besten des Landes. Der war allein schon deshalb schildernswert, weil während der längeren Pausen viele männliche Zuschauer auf die Toiletten verschwanden, um dort hochprozentigen Alkohol zu trinken. Manchmal begannen sie zu singen, was oft in ein Gebrüll ausartete. Deshalb standen bald Polizisten vor den geschlossenen Klotüren und schlugen mit ihren Gummiknüppeln unter den Türrand über dem Fußboden, um irgendwelche Whiskysünder zu erwischen. Eine schöne Zukunft wäre das als Auslandskorrespondent einer der großen Zeitungen zu Hause!
So war die Doktorarbeit liegengeblieben, die es nach einer Woche in Heidelberg schon zu verändern galt. Das hatte mit der geistigen Atmosphäre der neuen Umgebung zu tun. Die bereits niedergeschriebenen historisch-philologischen Entdeckungen erschienen plötzlich langweilig, es musste ein intellektuellerer, sogar aktueller Bezug her. Auch die umständlichen gelehrten Fußnoten wurden prägnanter gefasst. Alles wurde pointierter, so wie die Gespräche mit Anne. Bald lernte ich auch einen anderen Doktoranden meines Doktorvaters kennen, der mit einer besonderen Nachdrücklichkeit über seine Arbeit sprach. Er schrieb über Goethes Altersstil, aber mit einer aus Musils Utopiekonzeption gewonnenen Perspektive. Was das bedeutete, wurde erst später deutlicher. Peter war der eigentliche Assistent. Eher schmächtig, hatte er ein ausdrucksvolles Gesicht und eine kräftige, sehr artikulierte Stimme mit einem gleichzeitig melodiösen Klang. Es war so, als verbinde sich seine formidable Intelligenz mit einer ebenso auffälligen Affinität zum künstlerischen Ausdruck in dieser Stimme. Er war mit Abstand der interessanteste Student des Faches, der während meiner bisherigen Universitätsjahre aufgetaucht war, abgesehen vielleicht von Hanns Grössel in Göttingen. Wir freundeten uns an. Was die Freude, nunmehr mit interessanten Menschen zusammenzukommen, aber besonders erhöhte, war der Umstand, dass Adrian, mein Freund aus der Internatszeit, in Heidelberg lebte und nun als Assistent bei einem prominenten Politologen arbeitete: Dolf Sternberger. Dessen Name war weithin bekannt geworden, nicht nur als Mann seines Faches, sondern als ein homme de lettres, von denen es in diesem Land nicht viele gab. Adrian schrieb an einer Arbeit über den Staatsbegriff bei Marx. Wir sprachen sehr häufig - immer bei einer Flasche trockenen Weißweins vom Oberrhein, den er besonders mochte - über die aktuelle Innenpolitik, über die Reden im Parlament und einzelne Politiker. Die alte Freundschaft hatte Bestand. Adrian vertrat die Vernunft, ich die Emotion. Manchmal war Margot dabei, die er seit einiger Zeit fast jeden Tag traf: ein anmutiges Wesen mit einem mädchenhaften Aussehen. Ihr Hochdeutsch hatte eine alemannische Färbung. Sie passte zu ihm, weil sie so natürlich war. Eine Natürlichkeit, nach der sein extravaganter Geist Ausschau hielt. Mit unseren Unterhaltungen setzten wir die politischen Gespräche fort, die wir vor sechs Jahren anlässlich unserer Fahrten an den Rhein und zum Parlament geführt hatten - über eine Thematik, die mit Anne und Peter nie aufkam. Wenn man Novalis und Musil im Kopf hatte, brauchte man sich mit den Niederungen des Politischen nicht abzugeben. Mit dem offenbar gelungenen Beginn einer parlamentarischen Demokratie hörte das Interesse für Politik in meinem seminaristischen Umkreis auf.
Mit Adrian war das anders. Mit ihm verwandelte sich die Positivität der politischen Fakten zu Materialien einer Phantasie über die Innenpolitik. Die Außenpolitik blieb außen vor. Noch waren die Art und Weise, wie und welche Entscheidungen für das Land getroffen wurden - noch immer herrschten die christliche Partei und ihr alter Kanzler -, wichtiger als die Beziehungen zu den anderen Ländern, die nach wie vor mehr oder weniger von den Westmächten, vor allem den USA, vorgegeben wurden, sah man von der besonderen Beziehung zu Frankreich ab. Die sprießenden Kontakte des Kanzlers zum französischen Staatspräsidenten waren Stoff genug für politische Spekulationen. Es war, als ob das alte ostfränkische Reich zum alten westfränkischen Reich zurückstrebte. Der rheinische Kanzler dachte wohl auch so. Das stand als zukünftiges Drama schon vor der Tür. Worüber wir nicht sprachen, war das »Dritte Reich«. Wegen der nicht einzuschüchternden Regimegegnerschaft meines Vaters und einiger daraus folgenden unerquicklichen Konsequenzen gab es dafür nicht den Anlass, der bei Studenten aus Familien, die in das Regime verwickelt gewesen waren, häufiger zu Diskussionen führte. Adrian, der ebenfalls keine Nazieltern hatte, suchte das Thema schon deshalb nicht, weil es ihm als zu offensichtlich erschien, was man dazu zu sagen hatte. Mir allerdings kam es in...
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