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Unweit des ostpreußischen Rastenburg, des heutigen Ketrzyn in Polen, befand sich ein zentraler Ort des Zweiten Weltkriegs: das »Führerhauptquartier Wolfsschanze«. Dort verbrachte Adolf Hitler nach dem Angriff auf die Sowjetunion den Großteil seiner Zeit. Dort wurde über die systematische Ermordung der europäischen Juden entschieden. Dort ereignete sich am 20. Juli 1944 das Stauffenberg-Attentat, das der Diktator nur leicht verletzt überlebte. Doch während der Name vielen ein Begriff ist, haben die wenigsten eine genaue Vorstellung von der Anlage selbst und dem, was sich dort über knapp dreieinhalb Jahre abspielte.
Auf der Basis von Zeitzeugnissen und bislang unveröffentlichten Dokumenten rekonstruiert Felix Bohr den Alltag in der »Wolfsschanze«. Seine Schilderungen verknüpft er mit grundlegenden Fragen: Was erfährt man aus den Berichten von Offizieren, Köchinnen und Kammerdienern über Hitlers Persönlichkeit? Wie beeinflussten die zunehmend chaotischen Verhältnisse und die paranoide Atmosphäre in dem abgelegenen Komplex die dort getroffenen Entscheidungen? Aus Bohrs dichten Beschreibungen ergibt sich eine präzise Analyse der obersten Ebene des NS-Regimes, die zwischen Teestunden und Waldspaziergängen das deutsche Menschheitsverbrechen plante.
An einem Freitag im August hängt feuchte Luft in dem Wald bei Rastenburg, Modergeruch und der Duft von Harz und Blüten gehen ineinander über. Mücken sirren an meinem Ohr vorbei, ansonsten unterbricht nur Vogelgezwitscher die Stille. Zwei Tage zuvor bin ich in den Nordosten Polens gereist, habe am Berliner Ostbahnhof den Zug nach Posen (auf Polnisch Poznan) genommen, wo ich gut zweieinhalb Stunden später ankam. Von dort ging es mit dem Intercity noch einmal dreieinhalb Stunden weiter, über Torn (Torun) und Eylau (Ilawa) bis nach Allenstein (Olsztyn), das bis 1945 Sitz des gleichnamigen Regierungsbezirks in der Provinz Ostpreußen war. Nach einer Übernachtung setzte ich die Fahrt am nächsten Tag mit einem Mietwagen fort, über die endlos scheinenden Alleen Masurens, vorbei an entlegenen Dörfern und strahlend blauen Seen, anderthalb Stunden ostwärts, bis ich am frühen Abend meine Unterkunft in dem Örtchen Görlitz (Gierloz) am Zeiser See (Jezioro Siercze) erreicht hatte.
Mein Ziel sind die Überreste des früheren »Führerhauptquartiers Wolfsschanze«. Um aus Berlin hierher zu gelangen, wo die Fäden des »Dritten Reichs« zusammenliefen, wo Hitler mit seinem Regime einen Großteil der verbrecherischen Entscheidungen traf, deren Konsequenzen in ganz Europa zu spüren waren, nutzten Beamte, Offiziere oder einfache Bedienstete in den 1940er Jahren einen Sonderzug, der mindestens einmal täglich verkehrte und direkt in dem Areal, am dazugehörigen Bahnhof Görlitz, hielt. Die Fahrzeit betrug etwa 13Stunden.
Hier in der Wolfsschanze verbrachte der Diktator die entscheidenden Jahre seiner Herrschaft. Vom Rastenburger Wald aus 12entfaltete das NS-Regime im Krieg seine volle Zerstörungskraft. Gleichwohl spielt die Wolfsschanze in der öffentlichen Erinnerung an das »Dritte Reich« keine große Rolle, wenn überhaupt verbindet man mit ihr das gescheiterte Attentat von Claus Schenk Graf von Stauffenberg am 20. Juli 1944. Das Hauptquartier in Ostpreußen bleibt für viele eine Blackbox. Das hat auch mit der Nachgeschichte des Zweiten Weltkriegs zu tun. 1945 wurde der südliche Teil Ostpreußens Polen unterstellt, die deutsche Mehrheitsbevölkerung vertrieben. Die polnische Verwaltung benannte Rastenburg in Ketrzyn um, nach einem polnisch-nationalistischen Historiker. Zunächst hatte man den Namen Rastembork gewählt - doch offenbar wollte man die Erinnerung an alles Deutsche tilgen. Neue Bewohner wurden angesiedelt. Sie stammten aus dem Osten Polens, der nach der Westverschiebung des Landes durch die Alliierten an die Sowjetunion fiel. Hinter dem Eisernen Vorhang fristete das vormalige Führerhauptquartier im nun nordpolnischen Masuren jahrzehntelang ein Schattendasein. Zumindest für die westdeutsche Bevölkerung war es nur mühsam zu erreichen. Zum Obersalzberg in Bayern, wo Hitlers repräsentative Residenz stand, konnten Interessierte und NS-Nostalgiker dagegen bereits ab 1945 gelangen. Der Berghof hat im kollektiven Gedächtnis seinen Platz. Gleiches gilt für den sogenannten Führerbunker in der Berliner Wilhelmstraße, wo der Diktator seine letzten Tage verbrachte. Davon zeugen zahlreiche Bücher, Zeitungsartikel und Filme. Verglichen damit verblasste die Erinnerung an die Wolfsschanze.
Dabei verbrachte Hitler an keinem anderen Ort im Zweiten Weltkrieg so viel Zeit wie in dem etwa acht Kilometer östlich von Rastenburg gelegenen Waldstück: Über achthundert Tage waren es zwischen 1941 und 1944. In Berlin war er in diesem Zeitraum eher sporadisch. Auf dem Berghof hielt sich der Diktator in insgesamt sechs Kriegsjahren nur knapp vierhundert Tage auf. Von der Wolfsschanze aus befehligte Hitler den Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion und die Truppenbewegungen an den übrigen Fronten in Europa - und in Afrika. Dort entschied er mit seinem 13Gefolge über die Ermordung der europäischen Juden und trieb den Genozid voran. Dort versank er nach der Niederlage von Stalingrad in Depression, von dort aus riss er Deutschland und die Welt in den Abgrund, dort begann sein Ende.1
Zunächst war das Führerhauptquartier in Ostpreußen eine von fast zwanzig Befehlsstellen dieser Art. Nach dem Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 wurde es zur militärischen Hauptkommandozentrale und zu einem Mikrokosmos des Nationalsozialismus. Über die NS-Wochenschau, die im Sperrgebiet immer wieder Staatsbesuche und Ordensverleihungen filmte, gelangte die Erzählung von Hitlers Vorposten an der Front im Osten bis in die letzten Ecken des Rheinlands, Bayerns oder Württembergs. So wurde die Wolfsschanze für das NS-Regime und die »Volksgemeinschaft« mit der Zeit zu einem identitätsstiftenden Ort im angeblich endzeitlichen Entscheidungskampf gegen den »jüdischen Bolschewismus« und die sowjetischen »Untermenschen« um »Lebensraum« im Osten.2
Meine Unterkunft am Zeiser See liegt einige Hundert Meter außerhalb der einstigen Wolfsschanze, die aus einer äußeren Schutzzone und drei Sperrkreisen bestand. Nach dem Frühstück mache ich mich auf den Weg und nähere mich dem Gelände des früheren Hauptquartiers. Es umfasste insgesamt rund 800 Hektar und war umgeben von Panzergräben, Tausenden Minen und kilometerlangen Stacheldrahtzäunen. Nach 1945 wurden die Gräben zugeschüttet, die Minen geräumt, die Abzäunung niedergerissen. Heute wirkt der Wald so friedlich wie jeder andere. Nur mithilfe einer Karte des Führerhauptquartiers lässt sich die historische Anlage grob erschließen. Ich laufe eine Weile durch das Gebiet der äußeren Schutzzone, in der sich damals vor allem Flak- und MG-Stellungen befanden. Mücken attackieren mich. Als nach einer Weile im Gestrüpp am Wegesrand immer mehr Betonruinen auftauchen, muss ich im vormaligen Sperrkreis II angekommen sein. Dort befanden sich unter anderem sechs große Unterkünfte für den Wehrmachtsführungsstab, die Zentrale des Wolfsschanzenkommandanten, ein Nachrichtenbunker sowie Luftschutzbunker für das Personal.
Abb. 1: Einfahrt in die heutige »Touristenattraktion« Wolfsschanze14
Die sandigen Waldwege, auf denen ich am Zeiser See gestartet bin, sind inzwischen zu preußischen Pflasterstraßen geworden. Schließlich gelange ich von Süden kommend an eine Landstraße, die noch heute das Gelände teilt. Sperrkreis II lag südlich, Sperrkreis I nördlich von ihr. Sie verband schon vor dem Bau der Wolfsschanze Rastenburg mit Angerburg, war zu Kriegszeiten jedoch unpassierbar. Das Führerhauptquartier war Sperrgebiet. Heute befindet sich an der Landstraße die Einfahrt zu dem historischen Ort und zu Sperrkreis I. Auf einem großen Schild steht »Wilczy Szaniec«, der polnische Name für Wolfsschanze. Ich überquere die Straße und laufe vorbei an einem Kassenhäuschen mit einer Schranke. Davor halten Reisebusse. Der Eintritt kostet 20 Zloty, also rund 4,70 Euro. Die Erinnerungsstätte besteht in erster Linie aus einem Rundgang mit Erklärtafeln. In einem der Bauten ist das Innere der Besprechungsbaracke vom 20. Juli 1944 nachgestellt, mit einer skurril wirkenden, puppenartigen Hitlerfigur in Lebensgröße. 15Gleiches gilt für Stauffenberg. Unter dem Nachbau des massiven Holztisches ist ein Imitat seiner Aktentasche zu sehen. In einem weiteren Raum sind unter anderem ausgegrabene Hinterlassenschaften aus der Wolfsschanzenzeit wie Kämme, Bierkrüge mit SS-Emblem oder zeitgenössische Jägermeisterflaschen in Glasvitrinen ausgestellt. Ein Souvenirshop verkauft Wolfsschanzentassen, Blechteekannen, Taschenmesser. Es gibt einen Campingplatz mit Grillmöglichkeiten; insgesamt erinnert die Szenerie hier eher an einen Waldzeltplatz oder eine Paintball-Anlage als an einen Gedenkort: Touristen können mit gepanzerten Wagen aus alten Militärbeständen durchs Gelände fahren. Bisweilen spielen Geschichtsfans in historischen Kostümen im vormaligen Führerhauptquartier Ereignisse des Zweiten Weltkriegs nach. Dann kann es passieren, dass man auf Männer in Wehrmachtsuniformen trifft, die zwischen den Bunkerresten herumlaufen, mit Platzpatronen um sich schießen und »Achtung! Achtung!« oder »Hände hoch!« rufen. Schatzsucher, die laut Presseberichten mitunter nach dem hier angeblich versteckten Nazigold graben, sind an...
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