Die Erforschung des Kosmos vom Mikrokosmos zum Makrokosmos: von der winzigen Planckskala beim Urknall über Quarks, Kerne, Atome, Kristalle und den Menschen bis zu Planeten, Sternen, Galaxien und dem gesamten Universum.
© Sam Eadington
TEIL 1
DAS WELTBILD DER PHYSIK
DIE WELTRÄTSEL GESTERN UND HEUTE
"Das Schönste und Tiefste, was der Mensch erleben kann,
ist das Gefühl des Geheimnisvollen [.] Es ist mir genug,
diese Geheimnisse staunend zu ahnen und zu versuchen,
von der erhabenen Struktur des Seienden in Demut
ein mattes Abbild geistig zu erfassen."
Albert Einstein, Mein Glaubensbekenntnis (1932)
Wir besprechen, was unter Welträtseln zu verstehen ist und untersuchen einige Welträtsel aus der Wissenschaftsgeschichte. Schließlich kommen wir zu den sieben Welträtseln des Emil du Bois-Reymond und stellen ihnen die großen Rätsel der heutigen Wissenschaft gegenüber.
Was ist ein Welträtsel?
Dieses Buch beschäftigt sich mit "Welträtseln". Darunter verstehen wir fundamentale Fragen an die Natur, die sich mit bestehenden Konzepten und Modellen der Naturwissenschaft nicht oder nicht befriedigend beantworten lassen. Es sind insofern Welträtsel, da sie sich auf die Welt als Ganzes beziehen, vom Kleinsten bis zum Größten, vom Mikrokosmos bis zum Makrokosmos, vom Elementarteilchen bis zum Universum - und damit auch uns betreffen, die wir in dieser Welt leben. Dazu gehören Fragen wie: Was sind Raum und Zeit? Wie und woraus ist unsere Welt entstanden? Was war vor dem Urknall? Gibt es etwas außerhalb dieser Welt? Was ist ihre Zukunft? Nach welchen Gesetzen funktioniert sie? Hätte unsere Welt auch anders entstehen können?
Der Begriff des Welträtsels ist nicht neu. Die Menschen waren zu allen Zeiten mit Phänomenen konfrontiert, die sie sich nicht erklären konnten. Ihre Antworten auf unbegreifliche Erscheinungen waren meist ganzheitlicher Art und eingebettet in den Rahmen ihres Weltbildes oder ihrer Religion. So stoßen Welträtsel außerhalb der Naturwissenschaften auch heute noch auf ein breites Interesse. Wir wenden uns in diesem Buch allerdings ausschließlich jenen zu, für die es wissenschaftlich überprüfbare Erklärungen geben muss. Dem Begriff der "Wahrheit" in der Wissenschaft widmen wir deshalb ein gesondertes Kapitel.
Welträtsel von der Antike bis zur Neuzeit
Auch die Beschäftigung mit Welträtseln in einem strengeren wissenschaftlichen Sinn reicht weit in die Menschheitsgeschichte zurück. Bereits der griechische Gelehrte Aristoteles (384-322 v. Chr.) setzte sich mit ihnen auseinander. In seinem Hauptwerk Physica versucht er, die Welt mit physikalischen Gesetzen und mathematischen Methoden zu erklären. In seinem zweiten großen Werk Metaphysica begründet Aristoteles die Metaphysik, die auf das Studium der Physik und der Natur folgt und über ihr steht. Hier fragt Aristoteles nach den letzten grundlegenden Ursachen und Prinzipien der Welt - eine Frage, die an Aktualität nichts verloren hat. Über viele Epochen hinweg sollte Aristoteles der einflussreichste Naturforscher bleiben. Er ist wie die anderen antiken Philosophen davon überzeugt, man könne die Gesetze des Universums allein durch pures Nachdenken, durch Philosophieren entdecken. Entsprechend wenig fühlten sich Aristoteles und seine Anhänger bemüßigt, ihre Theorien durch Experimente zu überprüfen.
Erst Galileo Galilei führt um 1600 das Experiment als Grundlage naturwissenschaftlicher Forschung ein, wobei auch für ihn noch das Gedankenexperiment maßgeblich ist. Isaac Newton gelingt es schließlich 1687, in seinem Werk Philosophiae Naturalis Principia Mathematica Galileis Gesetze zur Bewegung irdischer Körper und Keplers Gesetze zur Planetenbewegung im Rahmen seiner Newtonschen Mechanik einheitlich zu beschreiben. Das revolutionär Neue daran war: Newtons Gesetze gelten "wie im Himmel, so auf Erden." Mit der Aufstellung seines Gravitationsgesetzes schafft Newton das erste universelle Kraftgesetz und damit eine umfassende Grundlage für eine Mechanik des Himmels und die klassische Physik. Dennoch kann Newton die Fernwirkung der Gravitation nicht erklären, also die Frage, wie sich die Wirkung der Schwerkraft von einem Körper auf einen anderen überträgt. Mit seinem berühmten Ausspruch "Hypotheses non fingo", ich erfinde keine Hypothesen, bleibt er ehrlich, indem er diese Frage offenlässt - und ein neues Welträtsel formuliert.
Ab dem 18. Jahrhundert, in der Zeit der Aufklärung, beginnen sich viele Philosophen mit erkenntnistheoretischen Aspekten der Naturforschung zu beschäftigen und Welträtsel zu formulieren. So der Schotte David Hume, der "das Ganze der Welt" für ein Rätsel hält und Naturwissenschaft bloß für eine Anhäufung von Wahrscheinlichkeiten. Oder die Deutschen Immanuel Kant und Arthur Schopenhauer, die vom "Ding an sich" sprechen, für das es keine sinnliche oder erfahrbare Anschauung gibt, und das sich einer naturwissenschaftlichen Erklärung entzieht.
Nach der Optik entsteht im 19. Jahrhundert die Elektrizitätslehre als neues physikalisches Teilgebiet. Und mit der Erforschung physikalischer Eigenschaften von Gasen und Flüssigkeiten wird durch die Wärmelehre die Grundlage für das aufkommende Zeitalter der Dampfmaschinen gelegt. Angesichts dieser rasanten Entwicklungen behauptet der Mathematiker Pierre-Simon Laplace, dass bei Kenntnis des genauen Ortes und Impulses aller Objekte im Universum die Zukunft wie die Vergangenheit aller Dinge exakt berechenbar seien. Dieser "Laplacesche Dämon" ist Ausdruck eines rigorosen mechanistischen und deterministischen Weltbilds. Er besagt, dass man bei genauer Kenntnis aller Gesetze und Vorbedingungen die Vergangenheit und Zukunft aller Prozesse exakt berechnen kann. Doch in der anschließenden Entwicklung der statistischen Mechanik und Thermodynamik spielt die Dialektik von Zufall und Notwendigkeit eine zunehmend wichtige Rolle, die den Dämon schließlich vertreibt.
Im Laufe des 19. Jahrhunderts werden epochale Erkenntnisse über den Aufbau der Materie gewonnen: Sämtliche Formen der Materie bestehen aus nur 92 chemischen Elementen. Wärme ist nichts anderes als die ungeordnete Bewegung von Atomen und Molekülen dieser chemischen Elemente. Elektrische, magnetische und optische Erscheinungen sind letztlich Ausdruck ein und desselben Phänomens, nämlich von elektromagnetischen Feldern, die durch elektrische Ladungen erzeugt werden und sich in Gestalt von Licht und anderen elektromagnetischen Wellen im Raum ausbreiten.
Mit Mechanik, Wärmelehre und Elektrodynamik findet die klassische Physik Ende des 19. Jahrhunderts ihren Abschluss. In der Biologie wird die Evolution des Lebens postuliert und bakterielles Leben entdeckt. Die Geologie bestimmt das Alter der Erde, die millionenfach älter ist, als es die Bibel beschreibt. Die Psychologie entdeckt die Seele des Menschen als Untersuchungsgegenstand. Es gibt auch Widersprüchliches oder Unerklärtes, doch die meisten Wissenschaftler jener Zeit glauben, dass die Wissenschaft alle Rätsel der Welt grundsätzlich zu erklären vermag.
Die sieben Welträtsel zu Beginn der Moderne
Mitten in dieser Zeit eines triumphalen Erkenntnisfortschritts hält 1872 der Physiologe Emil Heinrich du Bois-Reymond, Mitbegründer der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG) und enger Freund von Hermann von Helmholtz, eine Rede Über die Grenzen des Naturerkennens und beendet sie mit dem Ruf "Ignorabimus" - Wir werden es niemals wissen: "Es braucht nicht gesagt werden, dass der menschliche Geist von dieser vollkommenen Naturerkenntnis stets weit entfernt bleiben wird." In dieser Rede kritisiert er zwar die Reduktion der Naturerkenntnis auf reine Mechanik, sucht aber Antworten auf letzte Fragen in der Physik. Acht Jahre später formuliert er in einer weiteren Rede seine "Sieben Welträtsel", die bis zum heutigen Tag nicht als endgültig gelöst gelten können. Sie lauten:
- Was ist das Wesen von Materie und Kraft?
- Was ist der Ursprung der Bewegung? Er fragt hier nach dem ersten Anstoß der Welt. Heute würden wir fragen: Was hat den Urknall bewirkt?
- Woher kommt das erste Leben?
- Wieso ist die Natur anscheinend so absichtsvoll und zweckmäßig eingerichtet?
Diese vier Fragen werden wir im zweiten Teil des Buches aufgreifen. Die letzten drei der sieben Welträtsel du Bois-Reymonds liegen zunehmend außerhalb des Fokus unserer Diskussion:
- Woher stammt die bewusste Empfindung in den unbewussten Nerven?
- Woher kommen das vernünftige Denken und die Sprache?
- Woher stammt der "freie", sich zum Guten verpflichtet fühlende Wille?
Letztere drei Fragen betreffen mehr oder weniger das Rätsel des Bewusstseins und eines bewussten und ethischen Handelns. Einige dieser Welträtsel waren für du Bois-Reymond "transzendent", einer rationalen Erkenntnis nicht zugänglich. Andere unter gewissen Voraussetzungen auflösbar. Obwohl wir nach fast 150 Jahren rasanter Entwicklung der Naturwissenschaften die Fragen heute etwas anders formulieren würden, ist es doch erstaunlich, dass die von du Bois-Reymond gestellten Grundfragen auch heute noch fundamentale Rätsel darstellen.
Emil du Bois-Reymond gilt trotz seines "Ignorabimus" nicht als Kulturpessimist. In seinen Schriften preist er die Naturwissenschaft als das "absolute Organ der...