Schweitzer Fachinformationen
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Er sah auf die Uhr: Viertel nach acht. In einer halben Stunde würde die Sonne untergehen. Auf der Flughafentoilette des Abflugterminals zog er sich eilig die Kapuze vom Kopf, entledigte sich der schwarzen Jacke und der dunklen Hose. Die Kleidungsstücke stopfte er in eine bunte Stofftasche, die er entfaltete. Die Waffe steckte er hinten in den Hosenbund und zog Sweatshirt und Felljacke darüber. Er zupfte die Strumpfhose zurecht, schlüpfte in seine Schuhe und verrieb, den Taschenspiegel nahe vor dem Gesicht, noch einen Fleck unter dem linken Auge. Mit ein paar Handgriffen richtete er seine Frisur. Perfekt. Es ertönte eine Durchsage, die alle Passagiere und Reisenden ermahnte, Ruhe zu bewahren und das Flughafengebäude zu verlassen. Dazwischen schrillte regelmäßig ein Alarm. Er betätigte die Wasserspülung und lauschte. Jemand verließ hastig den Raum. Es wurde still, und er wusste sich allein. Er öffnete die Tür und erprobte kurz vor dem Spiegel einen erschrockenen Gesichtsausdruck, mit dem er den grell erleuchteten Raum verließ. Der Alarm tönte ohrenbetäubend. Er hielt sich die Ohren zu. Jemand rief ihm etwas zu. Die Abflughalle leerte sich. Eine Frau kauerte am Boden und weinte. Wenige Polizisten brüllten Kommandos. Jemand hatte die Drehtüren entriegelt, weite Löcher klafften in der Fensterwand, durch die sich Passagiere drängten. Er umrundete verlassene Koffer, übersprang zurückgelassenes Gepäck und folgte den wenigen, die noch zum Ausgang rannten.
Seine Flucht passte zu ihrer Flucht.
Er schrie, drängte panisch von hinten gegen die anderen, die diesen Ort ebenfalls verlassen wollten. Aus Angst vor einer ungewissen Gefahr. Nur er allein wusste, dass es keine Gefahr mehr gab. Sie verließ gerade den Flughafen.
Eingezwängt zwischen einer dicken Frau in einem Pelzmantel und einem jungen Mann mit Rucksack, stolperte er ins Freie. Die Sonne schien. Er zog seine Jacke fester um sich. Es herrschten für den Juni kühle fünfzehn Grad, wie die Nachrichten gemeldet hatten. Er ließ sich mitreißen von dem Strom der anderen Touristen, die ihm Deckung boten. Vorbei an Taxis bis zu den Parkplätzen. Menschen murrten, murmelten, einige telefonierten. Er fand die Stimmung merkwürdig ruhig. Der Rucksackreisende fragte ihn auf Englisch, was geschehen sei. Bedauernd zuckte er die Schultern, obwohl er sehr gut verstand. Sicherheitsbeamte dirigierten die Menschen am Straßenrand wie Vieh aus einem Pferch. Er rannte zu seinem Wagen, den er in größtmöglicher Entfernung zum Flughafen geparkt hatte. Jetzt rechnete sich der lange Lauf, denn die Autos stauten sich bereits, aber sein Weg zur Autobahn war kurz. Ein roter Skoda ließ ihm den Vortritt.
Höflichkeit in Zeiten der Angst.
Die Geste erfreute ihn. Er nahm den direkten Weg zur A105, die ihn ins Zentrum Moskaus führte. Nur ein Mal hielt er noch kurz am Straßenrand, wo einige Obdachlose neben zwei Einkaufswagen saßen und den ungewohnt dichten Verkehr beobachteten. Er warf ihnen die Tasche mit der Kleidung zu, lächelte und winkte. Als er sich in den Verkehr einfädelte, winkte ihm ein bärtiger Alter mit der schwarzen Jacke hinterher.
»Es fängt an mit einer Jacke .«
». und endet mit dem Tod.«
»Könnte sein, dass es mit dem Tod angefangen hat .«, sagte der Bärtige.
». und mit einer Jacke enden wird?«, fragte der Graue.
»Wenn einer wagt, sich aufzulehnen .«
». werden andere folgen«, ergänzte der Graue.
»Sollen Sie es doch wagen!«
»Keine Nachsicht, kein Vergeben! Alles wird bestraft«, rief der Graue. Mit der Hand zeigte er zum Himmel.
Der Bärtige steckte die Jacke in die Tasche. Die Tasche legte er in den Einkaufswagen. Danach setzte er sich wieder an den Straßenrand und wartete.
Viktor saß in einem flaschengrün gestrichenen Raum, durch dessen Panoramafenster er das Rollfeld sah. Aktuell bewegte sich kein Flugzeug. Kein Gepäckwagen rührte sich. Ein Stillleben. Maschinen kreisten über den Wolken, weil sie auf Landeerlaubnis warteten. Der Himmel kündete von Regen und von Nacht. Der Raum, in dem Viktor sich befand, präsentierte sich einladend. Beinahe neues Mobiliar. Keine wackeligen Holzmöbel aus einer anderen Zeit, sondern Stühle aus Stahl mit grauen Veloursbezügen. Eine graue Tischplatte aus einem Echtholzimitat. In der Luft ein schwacher chemischer Geruch. Die Wände frei von Dekoration. An der Kopfseite des Zimmers nur ein gerahmtes Bild. Kühle Sachlichkeit, beinahe modern und doch zugleich nicht ganz auf der Höhe der Zeit. Reminiszenz an die typische Tristesse russischer Behördenräume. Es war still, ganz still bis auf ein leises, technisches Summen. Viktor konnte es nicht zuordnen.
Er war sich sicher, dass man ihn nicht unter Druck setzen wollte. Es gab kleinere, fensterlose Räume. Man erzielte als Ermittler andere Ergebnisse, wenn künstliches Licht und Klaustrophobie Hand in Hand gingen. So hätte Viktor im Fall einer Befragung gehandelt. An seiner Arbeitsstelle beim Landeskriminalamt Berlin. Delikte am Menschen, die er untersuchte und aufklärte, soweit es ihm gelang.
Aber er war wieder einmal krankgeschrieben. Seine Marke lag in Gunnar Scholz' Schublade, als sei das ihr angestammter Platz. Sein Chef, der ihn protegierte und verstieß, wie es ihm gefiel. Seit Monaten spielten sie dieses Spiel, das Fahrstuhlmannschaften in der Bundesliga spielten. 1. Liga, Abstieg, Aufstieg, 2. Liga, auf Wiedersehen. Viktor widerte diese Dynamik an. Man hatte Viktor nie für seine Erfolge belohnt, er wurde stets nur nach Tarif bezahlt. Eine ordentliche Abrechnung der tatsächlichen Schicht- und Nachtdienste hätte jede Staatskasse gesprengt. Viktor hatte nie auch nur gemurrt. Er liebte seine Arbeit, wie andere sich an eine kaputte Beziehung klammerten. Er konnte sich wie Menschen, die zu sehr an ihren Partnern hingen, ein Leben ohne seine Arbeit bei der Mordkommission nicht mehr vorstellen.
Lopez fehlte ihm. Ihr intuitives Zusammenspiel, die Präzision, mit der sie den Dingen auf den Grund ging, ihr trockener Humor. Aber Lopez hatte sich für ein anderes Leben entschieden. Ein Leben als Hausfrau und Mutter. Sie hatte eine der Karten beim Skat ausgespielt, die alle anderen stachen. Viktor verspürte Wut, Verzweiflung, Leere, all dies in einem einzigen diffusen Gefühl. Er fühlte sich haltlos. Verlassen wie eine Leiche, wenn man sie in den Kühlraum schob. Kein Urlaub, keine Reise konnte diesen Eindruck mildern oder vertreiben.
Viktor verlagerte sein Gewicht. Vor seinem inneren Auge erschien der Tote, dessen Kleidung es Viktor nicht erlauben wollte, seinen Beruf zu erraten. Schwarze Schuhe, Gummisohlen. Kein reicher Mann. Eher ein Genießer, was das Gewicht betraf. Ein armer Schlucker, den jemand vor einer halben Stunde erschossen hatte.
Der Tatort war noch abgesperrt. Viktor rechnete damit, dass es circa zwei Stunden dauern würde, bis der normale Flugverkehr weiterlief. Ein paar Umleitungen, ein paar verstörte Reisende, nervöses Personal, das sich den ganzen Tag heimlich umsah. Da es sich nicht um einen Terrorakt handeln konnte, würde die Normalität schnell Einzug halten. Geschäftsreisende mussten fliegen, Touristen reisen.
Mord störte den Ablauf dieser gut geölten Maschinerie.
»Ich muss telefonieren«, sagte er. Siska und Mila sorgten sich bestimmt. Nichts wollte Viktor weniger, als die Frauen, die ihm nahestanden, zu verärgern.
Der Kopf oberhalb der dunkelblauen Uniform nickte zuvorkommend, aber mit völlig unbewegtem Gesicht. Jung, oval, akkurat rasiert. Der Polizist ihm gegenüber betrachtete konzentriert die Wand neben Viktor. »Nur noch einen Moment«, belog er Viktor ungeniert.
Dieses Versteinern des Gesichtsausdrucks war eine der Eigenschaften, die Viktor aus seinem Heimatland nach Deutschland importiert hatte, als er Anfang der Neunzigerjahre mit seiner Babuschka aus St. Petersburg geflohen war. Menschen fürchteten Viktor, sie mieden ihn. Er machte ihnen Angst. Passanten wechselten die Straßenseite, wenn er ihnen entgegenkam. Auf Partys verließen Gäste den Raum, wenn Viktor ihn betrat. Viktor hatte aus diesen Reaktionen das Beste gemacht.
In jungen Jahren trainierte er, bis seine Muskeln unter der Haut hervortraten. Er ließ seiner Aggression freien Lauf, bis er jemanden so schwer verletzte, dass sein Leben abrupt aus den Fugen geriet. Sein eigenes Leben und das seiner Babuschka. Aus dieser Flucht mit seiner Großmutter bestand der Kollateralschaden, den er auf sein Gewissen geladen hatte. Er zwang den einzigen Menschen, in dessen Schuld er stand, zu einem Neuanfang. Mila kannte Deutschland, aber sie hatte nie dahin zurückkehren wollen. Sie verachtete das Land, dessen Juden hassender Führer ihr seinen eigenen Datumsstempel aufdrucken ließ. Sechs grünliche Zahlen auf ihrem Unterarm, Erinnerung an die Tötungsmeisterschaft einer Nation. Viktor konnte nur einen Beruf ergreifen. Er musste Polizist werden, obwohl er mit seinem Hang zum Handgreiflichen die denkbar schlechteste Eignung dafür besaß. Er verschrieb sich der Ordnung, dem Recht, der Gerechtigkeit in dieser rechtlosen, chaotischen Welt. Er lernte, auf die Meinung anderer nicht viel zu geben. Und er stellte alle Charmeoffensiven ein, weil sie ihm nicht gelangen, weil sie ihm niemand abkaufte, weil das Schweigen Viktor besser stand. Auch hier fehlte Rosa Lopez. Sie hatte sich nicht abschrecken lassen. Viktor musste ihr Bild mit Macht aus seinem Kopf vertreiben. Es vergiftete ihn, mit einem Verlangen, einer Sehnsucht an sie zu denken, die nicht zu ihm passten. »Ich war es nicht«, sagte er. Sein Bewacher reagierte nicht.
Die Tür öffnete sich, und Viktor erwischte sich dabei, wie er automatisch Haltung annahm. Eine Gewohnheit aus seinen Zeiten beim russischen Militär, ein...
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