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Die Vergangenheit kann nicht vergangen sein, denn sie holt uns ein. Wie ein Echo kommt sie zurück und wird zur Gegenwart. Viktor Saizews Verhältnis zur Vergangenheit gestaltete sich zwiespältig. Einen Teil davon wollte er zurückerobern. Seinen Job bei der Mordkommission, den Schreibtisch beim LKA Berlin, sein vollständiges Gehör, denn genau zuzuhören, was andere sagten, machte einen Großteil seiner Arbeit aus. Die zurückliegenden Monate wollte Viktor jedoch lieber aus seinem Leben streichen. Diese endlosen Wochen, Tage, Stunden in einem Bett. Zu viel von der Farbe Weiß. Eine weiche Wolke, die man nicht verlassen konnte, nachdem man bereits gestorben war. Streichen. Den Tag, an dem sich seine Mutter das Leben nahm, und den, an dem Rosa Lopez ihr Kind nicht mehr wiederfand. Wie vergangen diese Ereignisse tatsächlich waren, blieb rätselhaft. Eine Grauzone, die das Gestern, Heute und Morgen überlagerte. Denn Viktor stand hier, obwohl es ihm vor Wochen noch unmöglich erschien. Luis, Lopez' Sohn, war wieder aufgetaucht. Allein Viktors Mutter blieb tot, besuchte ihn nur gelegentlich im Traum. Schattenhaft und dennoch ganz real, obwohl er kaum noch Erinnerungen an sie hatte. Vergänglich wie Rauch, dachte Viktor. Am Himmel ballte sich der Qualm. Wie eine Säule aus dunklem Marmor stand er über dem Wald. Was da am Boden lag, war tot. Ein Mensch, dessen Geschlecht für Viktor auf Anhieb zunächst nicht zu erkennen war.
»Was siehst du?«, hatte Lopez ihn gefragt. Die Frage war so alt wie ihre gemeinsame Zusammenarbeit beim LKA Berlin. Gewohnheitsmäßig sah Viktor sich um, nahm alle Eindrücke in sich auf. Scannte, zoomte, tastete ab. Die Leiche auf der Lichtung lag da wie inszeniert. Der Arm des Opfers ragte wie ein Hinweisschild in die Luft. Wie ein Schüler, der sich zu Wort meldete. Die Hitze hatte die Muskulatur verkrümmt. Kleidung und Fleisch waren zu einer Lederhaut verschmolzen, rissig und voller Krater, zumindest an den Stellen, an welchen sich das Gewebe noch über die Knochen spannte.
Hätte jemand Viktor nach der Farbe des Todes gefragt, hätte er ohne Zögern geantwortet, sie sei rot. Denn die Anwesenheit von Blut kennzeichnete Viktors Arbeitsplätze wie eine chinesische Stempel-Signatur. Doch heute trug der Tod tatsächlich Schwarz. Die Leiche war zu großen Teilen wie ein Streichholz heruntergebrannt. Der Geruch nach Gegrilltem lag in der Luft. Viktor mochte die Tatsache, dass er es wahrnahm und das Nussaroma hier am Tatort schwach riechen konnte. Die süßliche Note, die menschliches Fleisch stets verbreitete. Oder bildete er sich das nur ein? Hatte sein Gehör auch nachgelassen, war sein Geruchssinn doch wiederhergestellt. Lachse kehrten an ihren Laichplatz zurück, sie fanden über ihre Geruchssensoren den richtigen Weg, überwanden alle Hindernisse nur, um sich fortzupflanzen. Danach starben sie. Nur ein bis zwei Prozent überlebten, um ins Meer zurückzukehren. Viktor gehörte zu den Überlebenden. Zu den ein bis zwei Prozent. Ich kann wieder etwas riechen. Ich lebe noch, dachte er.
Viktor gebrauchte seine Nase wie ein Cellist seine Finger, wie ein Maler sein Augenlicht. Er fand es falsch, dass Menschen anderen Menschen das Leben nahmen. Es war ein Unrecht, das er wiedergutzumachen suchte. Dafür setzte er sich ein. Der Geruch des Todes blieb ihm jedoch vertraut. Er lehnte ihn nicht ab, denn er half ihm und gab jedem Mord ein eigenes Gesicht. Aber handelte es sich hier überhaupt um Mord? Eine brennende Zigarette, die weggeworfen wurde, ein Funken, der das ausgedorrte Geäst entzündete, die Ausbreitung begünstigt durch die für die Jahreszeit untypische Trockenheit. Ein Mensch, beim Spaziergang überrascht, vom Feuer eingeschlossen. All diese Dinge waren schon passiert. Dennoch schien ein Zufall ausgeschlossen. Viktor spürte es, er sah es auch. Deshalb ging er auf die Knie, beugte sich über das Opfer und schloss die Augen. Nicht, weil er die Nähe nicht ertragen konnte, sondern weil dadurch eine Wahrnehmung verstärkt wurde. Er schnüffelte, glaubte, das Volatile, Stechende zu erkennen, sogar trotz des alles überlagernden Brandgeruchs. Hatte sich sein Geruchssinn etwa geschärft? Es roch nach Mord.
Er kam wieder hoch und sah sich um. Ein Nachzügler von der Kriminaltechnik fotografierte gerade ein schwarzes, verzogenes Objekt. Da. Viktor konnte es besser erkennen, wenn er die Augen halb zusammenkniff. »Das dort drüben könnte ein Benzinkanister sein«, übersetzte Viktor laut das Bild, das sich ihnen bot.
Rosa Lopez fragte: »Brandbeschleuniger?«
Und Viktor erwiderte: »Die Optik, der Geruch, die schnelle Ausbreitung. Alles spricht dafür. Wer ist der Einsatzleiter der Feuerwehr?«
»So ein Stämmiger mit Geheimratsecken. Ich kümmere mich darum«, antwortete Lopez konzentriert.
Vorab galt jede Theorie nur als Hypothese. Viktors Blick wanderte über das, was von dem Gesicht übrig geblieben war. Ein Schädel, die Nase einfach weggebrannt. Viktor schloss erneut die Augen. Hielt die Zeit kurz an, erinnerte sich an den Moment, an dem er hierhergekommen war. Warum er Tatorte immer wieder aufsuchte wie andere den örtlichen Supermarkt. Weil jemand es tun musste. Weil er seine Arbeit brauchte wie ein Heroinabhängiger den nächsten Schuss. Er öffnete die Augen wieder, atmete ein. Keine Haare mehr, stellte Viktor fest. Völlig verbrannt. Die Länge, Farbe, die Struktur hätten ihm vielleicht einen Anhaltspunkt gegeben.
»Ich kann das nicht«, hörte er Lopez sagen. Es klang tonlos, fast final. Sie stand neben ihm. Nun drehte sie sich weg.
Viktor ahnte, warum. Aber er kannte sie so nicht. »Du musst«, antwortete er schnell. Nicht nur, weil es ihr Job war, den sie nicht einfach ignorieren konnte, sondern weil er sie brauchte. Denn Viktor durfte de facto hier nicht ermitteln, so wie Lopez es tat. Beurlaubt, krankgeschrieben, suspendiert. Viktor hatte alle Zwischenstadien bereits ausgelotet, die einen Polizisten von seiner Arbeit trennen konnten. Warum Lopez mit ihm heute direkt hierhergefahren war, wunderte ihn immer noch. »Eine zweite Meinung«, hatte sie gesagt.
Deshalb überlegte er nicht eine Sekunde lang, als sie ihn am Eingang der Klinik für Physikalische Medizin und Rehabilitation der Charité am Campus Mitte abholte. Der Vormittag brach gerade an. Einige Amseln zwitscherten noch, bevor die Mittagsglut sie zum Schweigen bringen würde. Viktor beschloss, sich auf keinen Fall umzusehen. Zurückzuschauen kam einem schlechten Omen gleich. Stagnation, Versteinerung. Viktor dachte an Lots Frau. Er hatte noch nicht einmal ordnungsgemäß ausgecheckt. Sein Blick saugte sich an einem Schriftzug fest. »Belohnung ausgesetzt.« In roten Lettern stand es auf einem großen Plakat geschrieben. Darunter eine dunkle Zeichnung oder ein altes Foto. Und die Zahl Zwanzigtausend. Dahinter noch ein Eurozeichen. Viktor fragte sich, worum es hier ging. Es handelte sich nicht um eines der Wahlplakate, die sich in der Stadt wie bunte Kaninchen täglich vermehrten, an Pfosten, Ampeln, Litfaßsäulen. Doch bevor er sich vergewissern konnte, sah er, wie die Polizei vorfuhr, die er bereits erwartete.
Behäbig stieg Lopez aus dem Toyota, ihrem gemeinsamen Dienstwagen, den Viktor so sehr verachtete, weil das Vehikel viel zu klein für seinen überdimensionierten Körper war. Heute stimmte ihn der Anblick des Wagens jedoch fast schon froh, gehörte das Auto doch zu einem Leben, das er vermisste. Lopez blieb neben der offenen Fahrertür stehen, atmete tief durch. Ihr Umfang war enorm. Für einen Augenblick betrachteten sie sich gegenseitig, als habe jemand sie in ein Stillleben verbannt. Hier in der Mitte von Berlin. Menschen liefen an ihnen vorüber, kreuzten ihren Weg. Nur sie beide standen ruhig da. Lopez sagte nichts, sie lächelte. Ein ungewohntes Bild. Lopez hatte schon zu viele Jahre lang nicht mehr gelacht. Doch seitdem sie ihren Sohn gefunden hatte, war sie ein anderer Mensch geworden. Als habe sie endlich den Weg ins Leben zurückgefunden. Dass sie Viktor von der Klinik abholte, löste in ihm eine Flut von Gefühlen aus: Freude, Verwirrung und auch Scham. Hatte er in den vergangenen zehn Jahren immer den Beschützer gemimt - nicht, dass Lopez einen Beschützer gebraucht hätte -, den Fels in der Brandung, den Unerschütterlichen, Starken, war er in den letzten fünf Monaten auf ihre Hilfe angewiesen gewesen. Genauso wie auf die Unterstützung von so vielen anderen. Manche davon kannte er kaum.
Ohne eine Begrüßung ließ Lopez Viktor wissen: »Menschliche Überreste am Wannsee. Ich dachte, das könnte dich vielleicht interessieren.« Pure Fröhlichkeit strahlte aus ihren Augen.
Sie hatte recht. Viktor interessierte das ungemein.
»Ich bin krankgeschrieben«, gab er zu bedenken.
»Beurlaubt. Krankgeschrieben . vor einiger Zeit war dir das noch egal.« Lopez funkelte ihn an, als wolle sie ihn zu einem Bonbondiebstahl in der Speisekammer animieren.
Mit »vor einiger Zeit« meinte sie »vor Entfernung des Hirntumors«. Es kam ihm mittlerweile wie eine Ewigkeit vor. Viktor musste blinzeln. War das noch dieselbe Frau? Die strenge, ernste, richtlinientreue Kollegin, die er kannte? Lopez erwartete ihr drittes Kind. Die Schwangerschaft schien bereits weit fortgeschritten, und Viktor war überzeugt, dass Lopez' Hormone völlig verrücktspielen mussten. Anders konnte er sich ihre gute Laune nicht erklären. Unwillkürlich blinzelte er. War das hier real? Zu lange hatte er sich darauf nicht mehr verlassen können.
»Begleite mich, Viktor! Ich könnte eine zweite Meinung brauchen.«
Was sollte das werden? Lopez' ganz eigene Vorstellung von Wiedereingliederung? Gunnar würde das nicht gefallen....
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