PROLOG
Weshalb dieses Buch? Das vorliegende Werk möchte einen umfassenden Überblick zu den großen, fundamentalen Rätseln der Physik geben und die Leserschaft spielerisch über ein breites Themenspektrum hinweg für diese Naturwissenschaft begeistern. Es soll einen Eindruck davon vermitteln, was die »Physik« ausmacht, wie sie funktioniert und worin ihre prinzipiellen Grundsätze bestehen. Geboten wird eine Reise durch alle physikalischen Teilgebiete - von der klassischen Mechanik bis hin zur modernen Kosmologie. Dabei werden auch hochaktuelle Themen berührt wie Klimaforschung, Quantencomputing, künstliche Intelligenz sowie die Frage, was eigentlich »Leben« ist.
Mit rund 2 × 42 Wissenschaftlern - Frauen wie Männern - konnte der Autor ungelöste Fragen aus den zwölf »kanonischen« Teilgebieten der Physik diskutieren und dabei Einblicke in die brandaktuelle Forschung gewinnen. Auf dieser Grundlage werden Rätsel aus dem Mikro-, Meso- und Makrokosmos unter die Lupe genommen (dem Allerkleinsten, dem Mittleren und dem Allergrößten) und der aktuelle Stand ihrer Erforschung dargestellt. Das Buch startet mit den drei klassischen Teilgebieten der Physik - Mechanik, Thermodynamik und Elektrodynamik -, gefolgt von den beiden weiterführenden großen physikalischen Theoriegebäuden - Relativitätstheorie und Quantentheorie. Sie bilden die Grundlage der sieben physikalischen Forschungsgebiete: Atom- und Plasmaphysik, Physik der kondensierten Materie, Molekül- und Biophysik, Hadron- und Kernphysik, Elementarteilchenphysik, Astrophysik sowie Kosmologie.
Jedem Kapitel ist eine kurze Einführung in das entsprechende Teilgebiet vorangestellt, es folgen die Diskussionen mit den Fachexperten zu den spannenden Fragestellungen. Um theoretische wie experimentelle Aspekte auszuleuchten, werden zumeist ein theoretischer Physiker und ein Experimentalphysiker zu Rate gezogen. Dabei soll sich die Leichtigkeit der Gespräche im Buch bestmöglich wiederfinden. Da die Kapitel aufeinander aufbauen, ist ein Lesen von vorne nach hinten hilfreich.
Dieser Streifzug durch die Physik und ihre offenen Fragen hat natürlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Zwar basiert die Liste der vorgestellten »42 größten« physikalischen Rätsel auf einer eingehenden Analyse von Veröffentlichungen der Wissenschaftsgemeinschaft zu den »most important issues of physics«, doch stellen die Rätsel letztlich bloß eine Auswahl dar - denn selbstverständlich sind die spannenden offenen Fragen der Physik nicht auf die geschilderten 42 Fälle beschränkt. Zu diskutieren wäre überdies, welche Rätsel überhaupt als fundamentale, wirklich grundlegende Fragen gelten dürfen, welche dagegen eher supplementärer Natur sind, also vielmehr auf grundlegenden Fragestellungen aufbauen. Als fundamental werden hier Fragestellungen angesehen, die sich mit bestehenden Konzepten und Modellen nicht befriedigend beantworten lassen. Also Fragen, die grundsätzlicher Natur und von großer Relevanz sind, die gewissermaßen »Welträtsel« darstellen.
Der Begriff des Welträtsels ist tatsächlich nicht neu. Bereits der griechische Gelehrte Aristoteles hatte mit seinen »Problemata Physica« das Ziel, Welträtsel zu formulieren. Der erste Wissenschaftler jedoch, der explizit von Welträtseln sprach, war zum Ende des 19. Jahrhunderts der Physiologe Emil Heinrich du Bois-Reymond, Mitbegründer der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG). Er bewies dabei große Weitsicht, denn tatsächlich gelten die sieben Welträtsel, die er vor mehr als hundert Jahren formulierte, bis zum heutigen Tag nicht wirklich als gelöst. Sie lauten: (1) Was ist Materie und Kraft? (2) Woher kommt der Ursprung der Bewegung? (3) Woher kommt das erste Leben? (4) Woher stammt der Zweck in der Natur? (5) Woher stammt die bewusste Empfindung in den unbewussten Nerven? (6) Woher kommen das vernünftige Denken und die Sprache? (7) Woher stammt der »freie«, sich zum Guten verpflichtet fühlende Wille? Selbstverständlich finden sich diese Fragen in den 42 Rätseln dieses Buches indirekt wieder. Etwas später verfasste der Denker und Wissenschaftler Ernst Haeckel dann mit seinem Werk »Die Welträtsel« das bis heute erfolgreichste populärwissenschaftliche deutsche Buch zu diesem Thema. Es ist inzwischen völlig in Vergessenheit geraten - zu Recht, wie der Autor des vorliegenden Werkes findet, kündet es doch von einem Allmachtsanspruch der Wissenschaft, der aus heutiger Sicht mehr als problematisch anmutet.
Lässt sich eine fundamentale Fragestellung im Sinne der Erkenntnistheorie überhaupt grundlegend und ein für alle Mal klären? Ist die Natur physikalisch vollständig beschreibbar? Der Physiologe und Physiker Hermann von Helmholtz, Kommilitone und Freund von Emil du Bois-Reymond, war diesbezüglich nur bedingt optimistisch: »Jedoch das Gebiet, welches der unbedingten Herrschaft der vollendeten Wissenschaft unterworfen werden kann, ist leider sehr eng, und schon die organische Welt entzieht sich ihm größtenteils.« Auch Helmholtz beweist mit dieser Aussage große Weitsicht. Doch hat ihn diese nüchterne Erkenntnis nicht davon abgehalten, zahlreichen Fragestellungen mit wissenschaftlichen Methoden und großem Eifer weiter nachzugehen. So möge es auch mit den hier vorgestellten 42 ungelösten Rätseln der Physik sein: Sie sollen das Interesse und die Neugier der Leser wecken. Denn erst mit den richtigen Fragen bekommen wir auch die richtigen Antworten.
Was ist Physik? Bevor wir uns den großen Rätseln widmen, schauen wir zunächst auf die spannende Frage, welche Idee hinter dieser Naturwissenschaft steht, wie Physik eigentlich funktioniert. Ganz allgemein geht es in der Physik darum, über experimentelle und mathematische Methoden Zustände und Zustandsänderungen der uns umgebenden Natur gesetzmäßig zu beschreiben - vom mikroskopisch Kleinen über Alltagsphänomene unserer Umwelt bis hin zum Universum. Das Ziel ist die Enträtselung der Struktur, Dynamik und Funktionsweise der Materie, von Elementarteilchen und einzelnen Atomen bis hin zu Makromolekülen - letztlich die Entschlüsselung der fundamentalen Wechselwirkungen und Grundbausteine des Universums. Dafür werden physikalische Größen und festgelegte Einheiten verwendet, um die Größen gewissermaßen »wägbar« zu machen. Von besonderem Interesse sind die Beziehungen der physikalischen Größen zueinander, die in Gleichungen gegossen werden. Das Fundament der Physik sind empirische Beobachtungen und reproduzierbare Experimente, die mit zunehmendem Erkenntnisfortschritt stetig verfeinert und angepasst werden müssen. Dazu werden experimentelle Methoden entwickelt, wie das Streuexperiment, bei dem der zu untersuchende Gegenstand (das »Target«) mit »Sondenteilchen« beschossen wird (wie Röntgenstrahlung, Elektronen, Protonen, Neutronen oder Ionen), wobei die Art der Streuung Rückschlüsse auf die Struktur des Targets erlaubt. Physik besteht zudem aus einem engen Wechselspiel von Experiment und Theorie. Die Theorie formuliert - ausgehend von einem Konzept - zunächst eine These, die zu einem Modell erweitert und im Rahmen einer Simulation gegebenenfalls mit empirischen Messdaten überprüft werden kann. Das Ziel ist es, daraus eine Gesetzmäßigkeit abzuleiten. Dabei lassen sich erfolgreich verwendete Konzepte häufig auf verschiedene physikalische Sachverhalte übertragen und bilden damit ein breit einsetzbares Rüstzeug, um unterschiedliche Fragestellungen zu verfolgen.
Der Begriff des »Gesetzes« ist in der Physik ganz wesentlich, ebenso wie derjenige der »Gültigkeit«. Wir werden erfahren, dass anders als in der Mathematik (oder der Theologie) in der Physik keine absoluten, sondern nur relative Wahrheiten gelten, und dass den Gesetzen in der Regel Gültigkeitsgrenzen gesetzt sind. Die Grenzverschiebungen in der Physik sind mitunter verbunden mit Paradigmenwechseln, also neuen Konzepten und Lösungsansätzen, die sich zur Beschreibung der Natur als gangbarer erweisen. Doch die vorangegangenen, alten Gesetze werden zumeist nicht einfach beiseitegeschoben und vergessen, vielmehr werden ihre Gültigkeitsbereiche begrenzt und neu abgesteckt. Das Ziel der Physik ist es, Gesetze von universellem, allgemeingültigem Charakter zu finden, die die Kriterien der Einfachheit, Effizienz, Natürlichkeit und Symmetrie erfüllen.
Wissenschaft lebt vom Disput und der Kontroverse innerhalb der Forschergemeinde. Und sie lebt von Kommunikation und Austausch. Ein berühmtes Beispiel hierfür ist die internationale Solvay-Konferenz, die seit 1911 regelmäßig in Brüssel stattfindet. Physik kennt weder nationale Grenzen noch kulturelle Unterschiede und ideologische Anschauungen. Sie baut auf der Arbeit von vielen auf - auch wenn immer wieder einzelne Namen besonders hervorstechen. Aber schon Isaac Newton bemerkte im 17. Jahrhundert: »Wenn ich weiter geblickt habe, so deshalb, weil ich auf den Schultern von Riesen stehe.«
Physik ist auch beileibe keine Männersache, es gab und gibt geniale Frauengestalten in der Physik wie Maria Mitchell, Henrietta Swan Leavitt, Marie Curie, Lise Meitner, Emmi Noether oder Donna Strickland, um nur einige zu nennen. Überdies ist in der modernen Physik zu beobachten, wie sich das Bild der Akteure erfreulicherweise zunehmend geschlechterübergreifend durchmischt. Frauen als Wissenschaftler, Professoren, Forschungsdirektoren - das ist in den modernen Wissenschaften eigentlich eine Selbstverständlichkeit - und ist es keine, muss es eine werden. In diesem Zusammenhang eine Bemerkung zur Sprache: Hier wird bewusst auf aktuelle Formen einer »geschlechtergerechten Sprache« verzichtet, weil sie aus Sicht des Autors die Lesbarkeit deutlich behindern. Wenn also im Folgenden von Forschern und Fachexperten gesprochen wird, sind durchweg männliche...