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An dem Tag, der mein Leben schräg machte, trug ich ein rotes Kleid und versuchte mir vorzustellen, wie eine Dörrpflaume aussieht. Es war Sonntag, der 22. Juni 1986. Wenn man acht Jahre alt ist, wird man nicht oft dazu aufgefordert, sich eine Dörrpflaume vorzustellen. Genau genommen wird man sowieso nicht oft dazu aufgefordert, erst recht nicht an einem Sonntag. Aber an diesem Sonntag war alles anders.
«Wenn die Menschen nur noch mit sich selbst beschäftigt sind, dann vertrocknen sie. Innerlich. Wie eine Dörrpflaume. Stell dir das mal vor, Ella!», sagte Mina urplötzlich mit einer Stachelbeere im Mund, die sie von rechts nach links schob.
Es war gar nicht so leicht, sich das vorzustellen, und vorbereitet war ich auf diese Aufgabe auch nicht. Im Grunde, das wusste ich irgendwann, konnte man sich ja nie so richtig vorbereiten. Irgendetwas gab es immer, das sich dazwischenmogelte und das Vorbereitete zum Auslüften an den nächsten Baum hängte.
«Mhmh», antwortete ich. Mina sagte oft Sätze mit Bedeutung, hinter die ich erst kommen musste, und sie legte dabei dieses beschwingte Gesicht auf, als wäre sie ein Quizmaster, der einem absichtlich geholfen hatte, den Hauptpreis zu gewinnen.
Mina und ich hatten einen ganzen Korb voll Stachelbeeren gepflückt und sortierten sie in der Kochmulde des Häuschens aus. Der Stachelbeerbusch war mindestens so alt wie Mina, für meine Begriffe ziemlich alt, gut und gerne sechzig, und die zwei ähnelten sich sogar, mit den knorrigen Ästen und Armen, und rund waren auch beide, was, wie Mina mir erklärte, an den Wurzeln lag. Das verstand ich zwar damals auch wieder nicht, aber wenn Mina es sagte, würde es schon stimmen.
Beim Stachelbeerenaussortieren fühlte ich mich immer ein bisschen wie Aschenputtel. Die guten links, die schlechten rechts, ich dazwischen, mit rotem Kleid und Kopftuch. Draußen klopften die Ringeltauben an die Fensterscheiben, und später, wenn die fast unlösbare Aufgabe erledigt wäre, zöge die gute Fee Mina überraschend ihren Zauberstab hervor, zauberte mir das Kleid, die Schuhe und die Kutsche - und dann, stellte ich mir vor, zauberte sie den Prinzen. Märchen Ende. Märchen enden ja immer damit, dass sich zwei gefunden hatten. Dann war es, bums, aus und vorbei mit der Geschichte und sie lebten glücklich. Punkt. Irgendwie war das doch merkwürdig. Die konnten doch nicht einfach bloß lebenslang auf dem Thrönchen hocken und sich freuen. Das war doch völliger Käse. Aschenputtel und ihr Prinz auf großer Reise. Oder die beiden im Streit mit fliegenden Tellern. Oder Prinz und Prinzessin beim Einkaufen, im Freibad, beim Zahnarzt, abends auf dem Sofa mit Chips und Plänen für eine Zukunft. Eine Fortsetzung gab es in keinem Märchen, in gar keinem.
Trotz meiner Einwände, was die Logik betraf, gefiel es mir, mich wie Aschenputtel beim Stachelbeerenaussortieren zu fühlen, auch wenn man mit acht nicht mehr so recht an Märchen glaubt. Nur noch ein bisschen. Aber ein bisschen von etwas reicht manchmal ja auch schon aus. Also versuchte ich mir ein bisschen eine Dörrpflaume vorzustellen und dann jemanden, der von innen her vertrocknete, und nach einer Weile fielen mir zuerst der Bergmann und dann meine Mutter ein, und dann ahnte ich, was Mina meinte.
Man kann es ganz schön lustig finden, wenn man ahnt, dass seine Mutter sich aller Voraussicht nach in eine Dörrpflaume verwandeln wird. Eines Tages, wenn ich aus der Schule nach Hause käme, würde sie am Herd stehen, meinen Bruder an der Pflaumenhand halten und wahrscheinlich wäre sie zu einem ulkigen, runzligen Ding geworden, das dieselben Sachen machte wie meine Mutter, nur eben als riesige Dörrpflaume. Sie würde meinen Bruder auf sich reiten lassen; wie ein Hüpftier würde sie durch die Wohnung und an mir vorbei galoppieren, und rufen: «Essen steht auf dem Tisch!», und dann würde sie nicht mehr so viel sagen, weil man das als Dörrpflaume verlernt, das war mir bereits aufgefallen. Vielleicht aber könnte sie sich eines Tages wieder zurückverwandeln, wenn sie nur lange genug vertrocknet gewesen war oder sie jemand in ein Schüsselchen mit warmem Wasser gelegt hatte. Vielleicht waren ja nicht alle Märchen am Ende zu Ende.
Ich machte mir fast in die Hosen vor Lachen wegen der galoppierenden Dörrpflaume und ließ ein paar Stachelbeeren fallen, die für immer verloren waren. Denn was einmal unter die Eckbank des Häuschens rollte, das verschwand dort. Hatte ich im Gefühl. Das war mir nämlich schon mit einem roten Püppchen vom Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel so gegangen, und mit mindestens dreizehn Murmeln ebenfalls, und es wäre mir auch fast mit Boy George so gegangen, den ich im Sommer vor drei Jahren auf einem Stein unter dem Holunderbusch gefunden hatte, als ich erst fünf Jahre alt gewesen war.
An einem frühen Vormittag lag er einfach da, und ich dachte erst, er wäre tot, war er aber nicht, er zuckte nämlich mit dem linken Hinterbein, was eindeutig verriet, dass er noch lebte. So viel wusste ich immerhin und dass er sich bloß mit Sonnenenergie auflud auch, weil ich das mit den wechselwarmen Tieren bei der Sendung mit der Maus sehr aufmerksam verfolgt hatte. Mir gefielen Krokodile und Schildkröten und Dinosaurier. Sie verursachten mir so ein nach Abenteuer schmeckendes Gefühl im Magen, was ich aber keinem erzählte, selbst Mina nicht. Im Kindergarten schleppten alle ihre Kuscheltiere durch die Gegend, wünschten sich Pferde und Hamster und sagten ständig «süüüüß». Zumindest die Mädchen. Ich nicht. Ich wünschte mir ein Krokodil in der Badewanne, das lautlos im Wasser treiben würde und das ich stundenlang beim Nichtstun beobachten könnte. Eine Schildkröte wäre auch toll gewesen. Oder ein Komodowaran, auf dem hätte ich sogar reiten können, wie auf einem Drachen mit giftiger Spucke. Dann wäre ich mit ihm die ganze Schrebergartensiedlung rauf- und wieder runtermarschiert, das hätte was hergemacht. Pferd konnte ja schließlich jeder. Und Mäuse oder Meerschweinchen liefen die ganze Zeit nur nervös in ihren Käfigen herum, drehten Runden in ihren Laufrädern, in denen sie sich fast überschlugen, und das machte mich kribbelig. Da schlich sich immer diese Unruhe in meine Füße, und für Unruhe war ich einfach nicht gemacht.
Dass ich Boy George fand, war also ein Segen, ein Wink des Schicksals, wenn man so will, und ich beobachtete ihn lange auf dem Stein unter dem Holunderbusch dabei, wie er sich auflud. Seine schuppige Haut funkelte smaragdgrün, er war eine schillernde Persönlichkeit unter den Reptilien. Deswegen nannte ich die Eidechse Boy George. Meine Mutter hörte Boy George oft im Radio, wenn sie Mittagessen machte oder putzte. Einmal zeigte sie ihn mir in einer Zeitschrift, und Boy George hatte große Ähnlichkeit mit Boy George. Ich beschloss, Boy George mit in das Schrebergartenhäuschen zu nehmen und ihn groß und stark zu füttern, bis er mindestens zu einem halben Krokodil heranwuchs. Immerhin, fand ich, stand mir endlich auch ein Haustier zu, und das Häuschen konnte ein bisschen Reptilienglitzerfarbe vertragen. Was man eben mit fünf so findet.
Es war gar nicht schwierig, Boy George von dem Stein zu pflücken, und er fühlte sich ganz warm und weich an. Er passte perfekt zwischen meine geschlossenen Hände, nur die Schwanzspitze schwang sich wie ein winziger, grüner Ring um meinen Daumen. Ich war ziemlich stolz, dass ich das schaffte, ohne dass sich dabei jemand weh tat. Weder Boy George. Noch ich. Auf dem Weg vom Holunderbusch zum Häuschen redete ich beruhigend auf ihn ein und sagte so was wie: «Alles gut!», «Nicht aufregen!», «Gleich hamwas geschafft!», und er blieb ganz still in meinen Händen sitzen. Ein bisschen mulmig war mir allerdings schon, denn man konnte schließlich nie wissen, ob etwas Ruhiges nicht doch völlig unvermittelt ausflippt. Insbesondere bei Reptilien musste man da vorsichtig sein, aber es ging alles gut.
Ich setzte mein Häuschentier vorsichtig ab, und Boy George flitzte wie wild auf dem Linoleumboden herum. Vielleicht hatte, anstelle der Sonne, ich ihn mit meiner Handwärme aufgeladen. Es machte mich so glücklich, jemanden, der bloß ganz steif dagelegen hatte, nur mit der Kraft meiner Hände zum Leben zu erwecken, dass ich das mit dem Heilen und Erwecken später noch öfter ausprobierte. Es klappte aber nie wieder so wie bei Boy George. Er wetzte mit Düsenantrieb überall umher, dann kehrte er um, setzte sich vor mich, zuckelte mit dem Köpfchen hin und her, und ich war sicher, er würde gleich mit mir sprechen. So sah es zumindest aus. Aber statt auch nur einen Pieps von sich zu geben, lief er schnurstracks unter die Eckbank. Weg war Boy George.
Ich rief und rief nach ihm und versuchte, ihn wie ein Kätzchen zu locken. Aber dann fiel mir ein, dass ich an Boy George gar keine Ohren gesehen hatte, weswegen er mich ja wahrscheinlich auch nicht hören konnte, und deswegen besorgte ich mir Minas Taschenlampe und gab ihm Leuchtzeichen. Mina sagte, obwohl sie selbst nicht so ganz daran glaubte, ich solle mal abwarten, er würde schon wieder rauskommen. Tat er aber nicht, und ich gab es nach ein paar Tagen sehr beleidigt auf, nach ihm zu suchen.
Im Gegensatz zu allen anderen Dingen fand ich ihn ein halbes Jahr später auf der Eckbank wieder. Er hatte es sich offenbar vor längerer Zeit zwischen zwei rot karierten Sofakissen gemütlich gemacht und steckte wie eine verschrumpelte Scheibe Salami in einem rot karierten Brötchen.
Mina und ich begruben den mumifizierten Boy George unter dem Apfelbaum in einem Eierkarton, direkt neben der Spitzmaus, dem Schmetterling, der Blaumeise und dem Familiengrab der Marienkäfer. Wir sangen bei...
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