9. Die Vergangenheit
Inhaltsverzeichnis Nach dem Unglück verließ Netti mehrere Tage nicht seine Kajüte, und in Sternis Augen bemerkte ich manchmal Hass. Zweifellos war meinetwegen ein bedeutender Gelehrter umgekommen; Sternis mathematischer Verstand musste wohl den Wert des verlorenen Lebens mit 'dem des geretteten vergleichen. Menni blieb unverändert freundlich und verdoppelte sogar seine Fürsorge um mich, ebenso verhielten sich Enno und alle anderen.
Ich trieb beflissen meine Sprachstudien, und einmal bat ich Menni, mir ein Buch über die Geschichte der Marsmenschen zu geben. Menni war von diesem Einfall sehr angetan und brachte mir ein Lehrbuch, in dem Kindern die Weltgeschichte dargelegt wurde.
Mit Nettis Hilfe begann ich, das Buch zu lesen und zu übersetzen. Mich erstaunte die Kunst, mit der der unbekannte Verfasser die allgemeinsten, abstraktesten Begriffe und Schemen illustriert und veranschaulicht hatte. Die Dinge wurden nach einem logischen System mit solcher Folgerichtigkeit dargestellt, wie es kein irdischer Schriftsteller in einem populärwissenschaftlichen Kinderbuch gewagt hätte.
Das erste Kapitel hatte geradezu philosophischen Charakter, es behandelte das Weltall als einheitliches Ganzes, das alles in sich birgt und alles durch sich erklärt. Das erinnerte mich lebhaft an die Werke des Arbeiter-Philosophen, der auf einfache und naive Weise als erster die Grundlagen der proletarischen Naturphilosophie entworfen hatte.
Im folgenden Kapitel wurde die unermesslich ferne Zeit behandelt, als sich im Weltall noch keine der uns bekannten Formen gebildet hatten, als im grenzenlosen Raum Chaos herrschte. Der Verfasser schilderte, wie sich die ersten formlosen Ansammlungen von unfassbar feiner, chemisch nicht zu bestimmender Materie absonderten. Diese Ansammlungen dienten als Keime gigantischer Sternenwelten, darunter unserer Milchstraße mit zwanzig Millionen Fixsternen, von denen unsere Sonne einer der kleinsten ist
Die Materie konzentrierte sich, ging zu immer festeren Verbindungen über und nahm die Form chemischer Elemente an; gleichzeitig zerfielen die ursprünglichen, formlosen Bildungen, und aus ihnen entstanden gasförmige Nebel, wie man sie noch heute durch ein Teleskop zu Tausenden sehen kann. Die Entwicklungsgeschichte dieser Gasnebel, die Bildung von Sonnen und Planeten wurde wie in unserer Kant-Laplaceschen Theorie dargestellt, allerdings mit größerer Bestimmtheit und mit mehr Einzelheiten.
Verwundert fragte ich Menni; »Halten Sie es für richtig, Kindern diese allgemeinen und abstrakten Ideen anzubieten, diese blassen Weltbilder, die dem Leben so fern sind? Wird das kindliche Gehirn nicht mit leeren Begriffen belastet?«
»Wir unterrichten die Schüler nicht gleich nach Büchern«, antwortete Menni. »Ein Kind schöpft seine Kenntnisse erst aus der lebendigen Beobachtung der Natur und aus dem lebendigen Umgang mit anderen Menschen. Bevor ein Kind zu einem solchen Buch greift, hat es schon viele Exkursionen gemacht und verschiedenartige Bilder der Natur gesehen, es kennt viele Pflanzen- und Tierarten, kann mit Teleskopen, Photoapparaten, Phonographen und Mikroskopen umgehen, hat von älteren Kindern, von Erziehern und erwachsenen Freunden viel über Vergangenes und Entferntes gehört. Ein Buch wie dieses soll lediglich Kenntnisse zusammenfassen und festigen, indem es allenfalls Lücken ausfüllt und den weiteren Lernweg andeutet. Dabei muss die Idee vom Ganzen stets mit aller Deutlichkeit hervortreten, sie muss sich von Anfang bis Ende durchziehen und darf sich nie in Einzelheiten verlieren. Den ganzheitlichen Menschen muss man schon im Kinde schaffen.«
Das alles war für mich sehr ungewohnt, aber ich fragte Menni nicht ausführlicher danach, denn ohnehin würde ich Marskinder und ihr Erziehungssystem kennen lernen. Ich las weiter in meinem Buch.
In den folgenden Kapiteln wurde die Geschichte des Planeten dargestellt. Obwohl alles sehr kurz beschrieben wurde, gab es ständig Vergleiche mit der Erde und der Venus. Bei aller Gleichartigkeit der drei Wandelsterne besteht ein wesentlicher Unterschied darin, dass der Mars doppelt so alt wie die Erde und fast viermal älter als die Venus ist. Auch das Alter der Planeten wurde angegeben, ich weiß es noch genau, aber ich werde es hier nicht nennen, um unsere Gelehrten nicht zu erzürnen. Sie haben ganz andere Vorstellungen davon.
Es folgte die Geschichte des Lebens. Beschrieben wurden die ursprünglichen Verbindungen, komplizierte Zyanderivate, die schon viele Eigenschaften des Lebens besaßen, ohne echte lebende Materie zu sein. Es wurden die Umstände dargestellt, unter denen diese chemischen Verbindungen entstehen konnten. Es wurde erklärt, warum solche Stoffe erhalten blieben und sich unter beständigeren, jedoch weniger flexiblen Verbindungen anhäuften. Schritt für Schritt würde die Weiterentwicklung und Differenzierung dieser chemischen Keime jeglichen Lebens verfolgt, bis hin zur Bildung echter lebender Zellen, mit denen das Reich der Einzeller begann.
Zum Veranschaulichen wählte man das Bild eines Stammbaums mit verschiedenen Abzweigungen: von den Einzellern zu höheren Pflanzen einerseits, zum Menschen andererseits. Beim Vergleich mit der irdischen Entwicklungslinie zeigte sich, dass auf dem Wege von der Urzelle zum Menschen die ersten Kettenglieder fast gleichartig waren, auch der Unterschied auf den letzten Stufen war unwesentlich, dagegen gab es in der Mitte bedeutend mehr Abweichungen. Das kam mir äußerst seltsam vor.
»Soviel ich weiß, ist dieses Problem noch nicht erforscht worden«, erklärte mir Netti. »Schließlich wussten wir vor zwanzig Jahren noch nicht, wie die höheren Lebewesen auf der Erde aussehen, und wir waren selbst sehr erstaunt, als wir solche Ähnlichkeiten mit uns vorfanden. Offenbar ist die Zahl möglicher höherer Typen nicht allzu groß, und auf Planeten, die einander so ähneln wie die unseren, konnte die Natur bei gleichartigen Bedingungen dieses Maximum des Lebens nur auf die eine Weise hervorbringen.«
Menni ergänzte: »Der höchste Typus, der einen Planeten beherrscht, drückt am vollständigsten alle Bedingungen seiner Welt aus, während die Zwischenstadien, die nur einen Teil ihrer Umwelt erfassen, diese Bedingungen partiell und einseitig ausdrücken. Deshalb müssen die höheren Formen einander bei gleichen Bedingungen ähneln, während die Zwischenstufen schon wegen ihrer Einseitigkeit mehr Raum für Unterschiede haben.«
Während meines Studiums war mir aus einem völlig anderen Grunde der Gedanke gekommen, dass die Anzahl möglicher höherer Typen begrenzt sei: Die Augen der Kraken, der höchsten Organismen eines ganzen Entwicklungszweiges, besitzen eine ungewöhnliche Ähnlichkeit mit den Augen der Wirbeltiere, obwohl Herkunft und Entwicklung der Sehorgane ganz unterschiedlich sind, sogar die einander entsprechenden Gewebeschichten sind in umgekehrter Reihenfolge angeordnet.
Wie auch immer, eines war unbezweifelbar: Auf dem Mars lebten Menschen, die uns ähnelten, und ich musste mich weiterhin mit ihrem Leben und ihrer Geschichte befassen.
Auch die historischen Zeiten und vor allem die Anfangsphasen menschlichen Lebens auf Erde und Mars glichen einander sehr. Die gleichen Formen der Gentilgesellschaft, das gleiche abgesonderte Leben einzelner Menschengruppen, die gleiche Entwicklung von Kontakten durch Tauschhandel. Dann trennten sich die Wege, wenn auch nicht grundlegend.
Der Verlauf der Geschichte auf dem Mars war sanfter und einfacher als auf der Erde. Es gab natürlich Kriege zwischen Stämmen und Völkern, es gab auch Klassenkampf, aber die Kriege spielten eine geringe Rolle und hörten bald völlig auf; der Klassenkampf gipfelte viel seltener in Zusammenstößen mit roher Gewalt. Das wurde in dem Buch zwar nicht direkt gesagt, war jedoch aus dem Zusammenhang ersichtlich.
Sklaverei kannten die Marsmenschen gar nicht, ihr Feudalismus war sehr wenig militaristisch, und ihr Kapitalismus befreite sich sehr früh aus nationalstaatlicher Zersplitterung und brachte nichts hervor, was unseren modernen Armeen geglichen hätte.
Die Erklärung für diese Unterschiede musste ich selber finden. Die Marsmenschen, sogar Menni, hatten gerade erst begonnen, die Geschichte der irdischen Menschheit zu studieren, und waren noch nicht soweit, ihre und unsere Vergangenheit miteinander vergleichen zu können.
Ich erinnerte mich an ein Gespräch mit Menni. Als ich die Sprache zu lernen begann, in der sich meine Reisegefährten unterhielten, wollte ich wissen, ob dieses Idiom auf dem Mars am weitesten verbreitet sei. Menni erklärte, es sei die einzige Literatur- und Umgangssprache aller Marsbewohner.
»Einst wurden auch bei uns unterschiedliche Sprachen gesprochen, und die Menschen verschiedener Länder haben einander nicht verstanden«, hatte Menni hinzugefügt. »Aber schon vor langer Zeit, mehrere hundert Jahre vor der sozialistischen Umwälzung, haben sich die Sprachen einander angenähert, und schließlich sind sie zu einer gemeinsamen Sprache verschmolzen. Das geschah von allein - niemand hat das gefördert, und niemand hat darüber nachgedacht. Einige regionale Besonderheiten haben sich noch lange erhalten, es gab sozusagen Dialekte, die jedoch von allen verstanden wurden. Die Entwicklung der Literatur hat sie aussterben lassen.«
»Ich kann mir das nur dadurch erklären«, sagte ich, »dass auf Ihrem Planeten die Kommunikation zwischen den Menschen von Anfang an viel umfassender, leichter und enger war als bei uns.«
»Richtig«, bestätigte Menni. »Auf dem Mars gibt es weder riesige Ozeane noch unüberwindbare Gebirgsketten. Unsere Meere sind nicht groß und trennen das Festland nirgendwo in selbständige...