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7 | Riley
Der Mann ist in meinem Alter, sein Gesicht ist mit Aknenarben übersät, und er trägt ein altes Flanellhemd unter einer Kakijacke. Er kommt um den Tank herum, gegen den Carver und ich uns drücken, tief im Schatten.
Der Mann bleibt stehen, blickt sich über die Schulter um. Der Stinger in seiner Hand ist selbst gebaut, aus Ersatzteilen zusammengebastelt, aber durchaus in der Lage, einem den Tag zu versauen.
Ich spüre, wie sich Carver neben mir anspannt. Ich kalkuliere bereits den Angriffswinkel, die schnellste und leiseste Möglichkeit, ihn zu überwältigen. Wenn er auch nur einen Ton von sich geben kann .
»Wir brauchen hier keine Helden«, sagt jemand auf der anderen Seite des Raums, außerhalb meines Sichtfelds. Der Mann im Flanellhemd dreht sich um, läuft zurück. Ich atme langsam und tief aus.
Die Stimme ist schwach, aber ich kann die Worte gerade noch verstehen. »Alle bleiben schön am Boden, dann können wir alle unversehrt nach Hause gehen.«
Ich luge erneut um den Tank herum, blicke mich im Raum um. Ich erkenne einige der Geiselnehmer, die mir den Rücken zugewandt haben, und ein paar Leute, die mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden liegen, aber ich kann mir keinen Überblick über die gesamte Anlage verschaffen. Carver schiebt sich an mir vorbei, legt mir eine Hand auf den Rücken, bewegt sich lautlos weiter zum nächsten Tank.
Ich höre eine andere Stimme - eine der Geiseln, vermute ich. Dann ein dumpfer Schlag, gefolgt von einem schmerzhaften Ächzen.
»Ivan!«, zischt die erste Stimme.
»Tut mir leid, Mikhail.«
Carver hebt eine geschlossene Faust: Warte! Dann schaut er sich um, mustert die Umgebung und zieht sich wieder in den Schatten zurück.
Ich suche seinen Blick, zeige in die Richtung der Geiselnehmer und halte sechs Finger hoch, drei an jeder Hand.
Er schüttelt den Kopf, zweimal kurz, und hält eine ganze Hand und zwei Finger hoch. Sieben.
Ich wage einen weiteren Blick. Dann sehe ich ihn. Er war außerhalb meines Sichtfelds, weil er etwas abseits an der gegenüberliegenden Wand steht. Von hier aus kann ich seine Gesichtszüge nicht erkennen, aber er hat einen dichten Bart, der bis zum Bauch hinabreicht.
Carver tippt sich ans Ohr, sieht mich fragend an. Ich nicke, dann drücke ich die Sendetaste auf meinem Armband.
»Captain Royo«, sage ich mit leiser Stimme. »Hier ist Riley, bitte melden.«
»Royo hier. Was siehst du, Hale?«
Carver ist auf der Rückseite des Tanks weiter vorgerückt und wirft einen Blick um die andere Seite. Er schaut sich zu mir um, zeigt noch einmal sieben Finger und dann den hochgereckten Daumen.
»Wir haben es mit sieben zu tun. Sie haben Stinger, selbst gebaute Modelle. Ich sehe keine anderen Waffen.«
»Und die Geiseln?«
»Vorläufig geht es ihnen offenbar gut.«
Mikhail spricht wieder. »Wir wollen niemanden verletzen«, sagt er. »Solange es sich irgendwie vermeiden lässt.« Er befindet sich am Rand meines Sichtfelds. Sein Akzent ist zäh wie Sirup. Seine Haltung entspricht einem Mann in den Dreißigern oder Vierzigern, aber er hat ein viel älteres Gesicht, das von Runzeln und Narben durchzogen ist. Auf dem Schädel wächst ein Kranz aus grauen, langen, fettigen Haaren.
»Also sieben Gegner«, sagt Royo. »Kannst du .?«
Während er spricht, rauscht es plötzlich im Ohrhörer, so laut, dass ich mir das Gerät fast aus dem Gehörgang gerissen hätte.
Mein Herz hämmert. Ich schiebe mich um den Tank herum und bete, dass das Geräusch nicht weiter als bis zu meinem klingelnden Trommelfell reicht. Ich schalte das KOSSP auf einen toten Kanal.
»Hast du das gehört?«, fragt jemand. Wer auch immer es ist, er kommt auf mein Versteck zu, mit lauter werdenden Schritten. Nicht gut. Ich drücke mich wieder gegen den Tank, zwinge mich, so still wie möglich zu sein. Carver ist in die Knie gegangen, so tief im Schatten, dass ich ihn kaum noch erkennen kann.
»Was ist los, Anton?«, fragt der Anführer von der anderen Seite des Raums.
»Hab was gehört«, sagt Anton. »Ich schaue nur nach.«
»Okay. Aber sei vorsichtig.«
Der Mann wird in wenigen Sekunden bei mir sein, und diesmal kann ich mich nicht darauf verlassen, dass er umkehren wird. Wenn ich losrenne, wird er mich hören. Wenn wir ihn ausschalten und die anderen ihn in den nächsten paar Minuten nicht wiedersehen, werden sie nach ihm suchen. Ich höre seine Schritte, die näher kommen, sehe seinen Schatten, der an der Wand größer wird.
Und dann ist auf einmal die Idee da.
Ich sehe, wie sich Carver bereitmacht, kaum mehr als eine schemenhafte Bewegung im Schatten. Ich gebe ihm ein Handzeichen, dann schüttle ich den Kopf.
Zwischen der Wand und dem Tank ist etwas mehr als ein Meter Platz. Ich drücke meinen Rücken gegen den Tank, hebe zuerst das eine Bein, dann das andere. Als ich mich in Stellung gebracht habe und einen Meter über dem Boden hänge, schiebe ich meinen Oberkörper etwas weiter am Tank hinauf. Dann ziehe ich die Beine abwechselnd nach und laufe die Wand hinauf, wobei ich mit den Füßen immer ein Stück unter der Hüfte bleibe.
Als Tracer lernt man eine Menge über Reibung. Reibung verschafft einem Halt. Mit Reibung kann man der Gravitation an Stellen trotzen, wo das eigentlich gar nicht möglich sein dürfte. Reibung - der perfekt ausgewogene Druck zwischen zwei Flächen - ermöglicht einem, sich mit der Hand an der Wand oder mit den Fingern an einer Kante festzuhalten, die halbe Sekunde länger, die man braucht, um sich hinüberzuziehen. Reibung erhält uns am Leben.
Ich gebe mir Mühe, mich vorsichtig zu bewegen. Wenn ich renne, durch die Station sprinte, mache ich mir keine großen Gedanken darum, wie viel Lärm ich verursache - im Gegenteil, je lauter ich bin, desto mehr Zeit haben die Leute, mich zu bemerken und mir aus dem Weg zu gehen. Aber wenn ich jetzt ein Geräusch mache, bin ich tot.
»Wenn da hinten jemand ist, kommen Sie jetzt raus«, sagt Anton. Seine Worte haben im engen Raum einen metallischen Klang. »Wir werden Ihnen nichts tun.«
Ich bin schon drei Meter hoch, aber das ist noch nicht genug, weil er mich sehen würde. Ich zwinge mich dazu, weiter aufwärts zu rutschen. Einen Fuß nach dem anderen. Ich spüre bereits ein Brennen in den Muskeln meiner Schenkel.
Anton kommt in Sicht. Er ist groß und muskulös, trägt einen zerlumpten blauen Overall. Er ist genau unter mir. Ich spüre, wie mir der Schweiß den Rücken hinunterläuft. Wenn er aufblickt, kann er mich nicht übersehen. Er muss nicht einmal genau zielen. Ich habe das dringende Bedürfnis, zu Carver zu schauen, um mich zu überzeugen, dass er noch da ist, aber ich wage es nicht, den Kopf zu drehen.
Während mir diese Gedanken durch den Kopf gehen, rutscht mein Schuh mit einem leisen Quietschen an der Metallwand ab.
Das muss er gehört haben. Auf jeden Fall. Jeden Augenblick wird er nach oben blicken und mir eine Kugel in den Körper jagen.
Aber er tut es nicht. Er schaut sich überall um, nur nicht über seinem Kopf.
Das Brennen in meinen Schenkeln ist zu einem lodernden Feuer geworden, zusätzlich zu den Schmerzen in meinen Knien und Fußknöcheln. Ich kann nicht bleiben, wo ich bin - wenn ich mich nicht nach oben oder unten bewege, werde ich genau auf ihn stürzen.
Ich zwinge meine Beine, sich nicht von der Stelle zu rühren.
Er dreht sich um und geht in die andere Richtung weiter, um hinter den anderen Tanks nachzusehen. Wenn Carver sich nicht rührt, wird der Mann über ihn stolpern.
Vorsichtig blicke ich nach links. Carver ist nicht da. Er hat sich entfernt, an der Reihe der Tanks entlang. Ich kann ihn gerade noch ganz hinten erkennen. »Alles in Ordnung bei mir«, sagt er.
Meine Lunge fühlt sich an, als wollte sie sich aus meinem Oberkörper reißen, aber ich atme so leise wie möglich aus. Ich will mich wieder hinuntergleiten lassen, doch dann halte ich inne.
Hinaufklettern ist leise. Hinunterklettern ist immer laut. Ganz gleich, wie vorsichtig man es macht, man erzeugt deutlich mehr Lärm. Das könnte den Mann erneut herbeilocken, mit noch größerer Entschlossenheit.
Aber wenn ich nach oben gehe, kann ich es leise machen und mir sogar einen noch besseren Überblick über die Anlage verschaffen.
Sehr langsam schiebe ich mich weiter am Tank hinauf, laufe die Wand hoch, bewege mich bei jedem Schritt, als würde ich auf Glasscherben gehen.
»Was tust du da?«, fragt Carver. Ich antworte nicht.
Es scheint Stunden zu dauern, bis ich die obere Kante des Tanks erreiche. Es ist nicht einfach, mich hinaufzuziehen. Ich muss mich ausstrecken, und eine Minute lang drückt sich der Rand schmerzhaft in meinen Rücken. Doch dann gleite ich hinüber, mit dem Gesicht nach oben, löse meine Füße von der Wand.
Hier ist die Luft feucht und vom Gestank menschlicher Abfälle geschwängert. Die Stimmen unter mir klingen gedämpft. Nicht zu wissen, was hier vor sich geht, muss Royo in den Wahnsinn treiben. Er geht bestimmt auf und ab, ist wütend auf uns, weil wir so lange schweigen.
Überall Scheiße, wohin ich auch schaue, denke ich und muss mich zwingen, nicht zu lachen.
»Carver«, flüstere ich.
Carver antwortet sofort, verzweifelt vor Sorge, missachtet das KOSSP-Protokoll. »Riley, rede mit mir.«
»Ich bin oben auf einem Abwassertank. Sie haben mich nicht gesehen.«
»Du musst bleiben, wo du bist. Jetzt suchen zwei von ihnen nach uns. Sie haben gemerkt, dass irgendwas...
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