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Eine Kaserne in Dresden Anfang 1918: Leutnant Paul Römer sitzt an einem ungehobelten Tisch und schreibt an seine Frau Hildegard. Der Erste Weltkrieg neigt sich seinem Ende zu, gerade sind die Bedingungen für einen Waffenstillstand von US-Präsident Wilson bekannt geworden. Paul möchte die Geburtstagswünsche seiner zwölfjährigen Tochter Renate wissen. Sie antwortet:
»1 Skalpiermesser, 1 festen richtigen Ledergürtel, 1 Streitaxt, 1 Flitzebogen mit Köcher und Pfeilen. Der Gürtel müsste eine Vorrichtung zum Anmachen des Köchers, der Streitaxt und des Dolches haben. Oh, das wäre fein, dann wünsche ich mir eine Tafel Schokolade oder ein paar Bonbons.«
Ob ihr diese Wünsche auch erfüllt wurden? Renates Bruder Joachim bekam eine Luftbüchse, eine Soldatenuniform und eine Feldmütze, wie sie im Krieg getragen wurde. Paul schreibt ihm:
»Es ist recht, dass Du jetzt als echter deutscher Junge gern und viel Soldaten spielst. Ich hoffe, dass Du später Deinem Vaterland als Einjähriger Freiwilliger Dienst tun und auch als Kaufmann und Fabrikant Deinen Stamm würdig vertreten wirst.«
Seine Mutter Hildegard will auch ihre Tochter fördern und lässt ihren Mann wissen:
»Wir wollen alles tun, was in unseren Kräften steht, um aus ihm einen glücklichen, tüchtigen und arbeitsfreudigen Menschen zu machen, der der Welt auch etwas nützen soll.Nicht nur für ihn, auch für unsere Renate wollen wir das Gleiche tun.Dass Joachim ab und zu mal Prügel haben muss, ist mir klar, aber auch, dass ein guter Kern in ihm steckt.«
Von Prügeln ihrer Eltern hat Renate uns nie erzählt, obwohl sie zur Kaiserzeit als Erziehungsmittel allgemein akzeptiert waren. Als Tochter wurde ihr ein größerer Freiraum zugestanden als dem potenziellen Nachfolger des Vaters. Sie wollte weder mit Soldaten spielen noch mit Puppen, sondern träumte sich in die Welt weit entfernter, durchaus auch kämpferischer Indianer hinein. Mit ihren Neffen und Nichten stromerte sie auf dem weitläufigen Fabrikgelände herum und baute Flöße, mit denen sie auf den Klärteichen der Tuchfabrik herumgondeln konnten. Besonders beliebt waren Mutproben, bei denen man den Kopf so lange wie irgend möglich vor die Schwellen einer abschüssigen Feldbahn legen mussten, bis die Lore angerast kam. Mit einer Stoppuhr wurde dann gemessen, wie lange man es auf den Schienen knieend aushielt. Ein anderes gewagtes Spiel hat sie uns - noch immer ein bisschen stolz darauf - so beschrieben: Sie kletterte auf einen von zwei gegenüberstehenden Bäumen und schwankte von einer Baumkrone zur anderen hin und her. Das hätten die Erwachsenen natürlich verboten, aber die hatten anderes zu tun, als ihre Kinder ständig zu beaufsichtigen. Reiten machte ihr mehr Spaß als der eigentlich für sie vorgesehene Klavierunterricht. Insgesamt keine besonders mädchenspezifische Erziehung. In meiner eigenen Kindheit - einen Weltkrieg später - waren diese Erzählungen prägend für mich: Indianerspielen, mit einer Bande Jungen im Wald herumstromern und Leute erschrecken, vor allem aber mutig zu sein, das war das Wichtigste. Allerdings waren die Umstände in den vierziger und fünfziger Jahren für mich völlig andere als zu Beginn des 19. Jahrhunderts.
Schon als Kleinkind wurde Renate von ihrer Mutter in einem Brief an Paul so beschrieben:
»Sie ist so wild, dass Du Deine Freude haben würdest; sie klettert mir auf die Schulter, immer rauf und runter, dahin, dorthin, kaum, dass man sie halten kann. Immer will sie stehen und muss dann fest angeschnallt sein, damit sie nicht auf die Erde kracht. Heut Nachmittag hatten wir sie in unserem Garten und auch mal in einem Wagen, wir haben uns halb totgelacht. Renate sah geradezu wie ein Junge aus. Wild genug ist sie ja auch für einen Jungen.«
Obwohl die Geschwister eine ziemlich freie und unbeschwerte Kindheit erlebten, wurden sie spätestens in der Pubertät von den strikten Festlegungen auf ihre spätere Geschlechtsrolle geprägt. Aus den Briefen an die beiden, in denen sich die unterschiedlichen Erwartungen der Familie und ihrer gesellschaftlichen Schicht spiegeln, lässt sich paradigmatisch die Entwicklung eines harten Mannes und einer liebevoll-weichen Ehefrau ablesen. Joachim sollte ein tüchtiger Kaufmann und deutscher Patriot werden. Renate durfte eine Zeit lang ihren Interessen nachhängen und ihre Freiheit genießen, um dann in den sicheren Hafen der Ehe einzumünden. Bis dieses unverrückbar scheinende Konstrukt 1945 endgültig zusammenbrach.
In gewisser Weise ist dies eine typisch deutsche Familiengeschichte. Die Vorfahren der Römers stammten aus dem Bergischen Land. Sie waren ursprünglich Bauern und Handwerker gewesen, die mit dem gemeinsam aufgebrachten Geld Manufakturen und schließlich die ersten Textilfabriken aufbauten. Ende des 18. Jahrhunderts erwarben sie das Patent zur Türkischrotfärberei, mit dem man Baumwollgarne wasch- und lichtecht in ein schönes Rot färben konnte. Der Rohstoff dafür, die Krappwurzel, wurde aus Indien und Ceylon eingeführt. Mehrere Brüder und Neffen gründeten rund um Wuppertal mehrere Fabriken und expandierten später nach Sachsen und Böhmen, wo besonders günstige Bedingungen für die florierende Textilindustrie herrschten. August Römer, der Großvater von Renate, errichtete 1880 in Zittau direkt an der Neiße eine baugleiche Fabrik wie die rheinische, mietete einen Salonwagen der Eisenbahn und zog mit Dienstboten, Kindermädchen und Hunden in die aufstrebende Stadt an der Grenze zu Böhmen um. Seine prächtige Villa ist noch gut erhalten, wird aber heute anders genutzt.
Sein Sohn Paul Römer, Jahrgang 1876, litt als junger Mann unter der Strenge der Erziehung und der Etikette des protestantischen Bürgertums. Nach einer kaufmännischen Ausbildung in Hamburg zog es ihn nach Amerika, wo er die verheißungsvolle »Neue Welt« kennenlernen wollte. In Venezuela sammelte er dann als Volontär bei Geschäftsfreunden des Vaters erste berufliche Erfahrungen. Bereits in den Gründerjahren unterhielten deutsche Unternehmen ausgedehnte Handelsbeziehungen zu anderen Kontinenten. An der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert gehörte Deutschland nach den USA und Großbritannien bereits zu den drei führenden Wirtschafts- und Handelsmächten der Welt. Das Land erlebte eine nie gekannte wirtschaftliche und kulturelle Blüte, die auch eine radikale Veränderung der Gesellschaft mit sich brachte. Neben dem Ruhrgebiet war das Königreich Sachsen eine der fortschrittlichsten Regionen Europas. Paul Römer partizipierte an diesem Wachstumsschub und entwickelte sich zu einem erfolgreichen Industriellen. Er war ein moderner liberaler Mann, von amerikanischen Vorstelllungen geprägt und kritisch gegenüber dem Adel, denn der genoss seine Privilegien aufgrund seiner Herkunft. Für ihn zählte allein die Leistung eines Menschen. Von dieser Grundeinstellung getragen ließ er sich in Löbau ein modernes Wohnhaus bauen, mit dessen Inneneinrichtung er den bekannten Jugendstilarchitekten Richard Riemerschmid beauftragte. Schlichte Eleganz war die Devise, kein Prunk oder Protz. Auch seine Frau teilte derartige, für die Kaiserzeit moderne Auffassungen.
Renates Mutter Hildegard, geborene Seifert, Jahrgang 1885, war ihrerseits in einem prächtigen Patrizierhaus im Stil der Neo-Renaissance aufgewachsen. Sie entstammte der Familie des Großhändlers Eduard Rönsch, der im 19. Jahrhundert mit Leinengarnen von Heimwebern, dann mit ägyptischer Baumwolle ein Vermögen gemacht und später auch eine Textilfabrik in Löbau gegründet hatte. Zusätzlich zu seinem Wohn- und Geschäftshaus hatte er sich, angeregt von Reisen nach Italien, Frankreich und dem Vorderen Orient, eine schlossähnliche Villa mit der Inschrift »Sanssouci« bauen lassen, in welche die Familie jeden Donnerstag und an den Feiertagen eingeladen wurde.
Hildegard hatte eine Schule für höhere Töchter besucht und wurde dann in ein Pensionat in der Schweiz geschickt, um Französisch zu lernen und sich auf ihre spätere Rolle als gebildete Ehefrau und Gastgeberin vorzubereiten. Als 19jährige verlobte sie sich heimlich mit dem etwas älteren Paul Römer. Auch sie war von reformerischen Gedanken beeinflusst. An eine Freundin schreibt sie:
»Ich brauche eine große, starke, freie Liebe, die den anderen bis in die feinsten Regungen und Empfindungen zu verstehen sucht (.), die völlig gleich ist auf beiden Seiten.«
Eine selbstbewusste junge Frau traf auf einen Kaufmann, der zwar schon eine leitende Tätigkeit in der Fabrik...
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