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Das Wort »Stigma« kommt aus dem Altgriechischen und bedeutet wörtlich »Brandmal« oder »Zeichen«. Dieses kennzeichnet ein Abweichen von einer gesellschaftlichen Norm und dient dazu, die betroffene Person abzuwerten (Goffman, 1986). Dabei kann zwischen einem sichtbaren und nicht-sichtbaren Stigma unterschieden werden. Die sichtbaren Stigmata sind dabei in der Regel mit bloßen Augen erkennbar, wie z.?B. eine körperliche Auffälligkeit. Das Gegenteil hierzu bilden nicht-sichtbare Stigmata, die nicht so leicht zu erkennen sind. Hierzu zählen psychische Erkrankungen und somit auch Substanzgebrauchsstörungen (Aydin & Fritsch, 2015).
Die Stigmatisierung von Menschen mit Substanzgebrauchsstörung wurde lange Zeit sowohl von der Suchtforschung als auch von der Praxis vernachlässigt und teilweise sogar als hilfreiche Intervention gesehen, um den Konsum psychoaktiver Substanzen als gesellschaftlich inakzeptabel zu markieren und somit Menschen zur Abstinenz zu bewegen. Inzwischen widerlegen Studien diese Hypothese und zeigen, dass es Menschen durch dieses Vorgehen deutlich erschwert wird, Hilfe anzunehmen, und darüber hinaus die Abstinenzzuversicht geschwächt wird (Schomerus et al., 2017; Schomerus & Rumpf, 2017).
Es können grundlegend drei verschiedene Kategorien von Stigmatisierung unterschieden werden, die Menschen mit Substanzgebrauchsstörungen betreffen:
Öffentliche StigmatisierungDie öffentliche Stigmatisierung beschreibt die gesellschaftliche Missbilligung einer Personengruppe. Diese kann dabei in drei Elemente unterteilt werden. Menschen mit einer Substanzgebrauchsstörung werden dabei Stereotypen zugeordnet, wie z.?B. Willensschwäche, eine besondere Gefährlichkeit oder eine fehlende Vertrauenswürdigkeit. Diese manifestieren sich in Vorurteilen, aufgrund derer Menschen mit negativen Emotionen oder der Bekräftigung von Stereotypen reagieren. Dies mündet in der Diskriminierung, also in einer Reaktion auf der Verhaltensebene, z.?B. in Form von Aberkennung der Substanzgebrauchsstörung als Erkrankung, einem Nicht-Akzeptieren von Abstinenzentscheidungen (vor allem bei Alkohol), die Verwehrung eines Arbeitsplatzes oder erhöhte Kontrolle im Straßenverkehr aufgrund von äußeren Merkmalen, die als szenetypisch gelten (Rüsch et al., 2004; Schomerus et al., 2011).
Institutionelle Stigmatisierung Unter einer institutionellen bzw. strukturellen Stigmatisierung versteht man die Benachteiligung von Menschen mit einer Substanzgebrauchsstörung durch Politik, Justiz und das Hilfesystem selbst (Rüsch et al., 2004). Die Stigmatisierung durch die Prohibition und den damit einhergehenden rechtlichen Vorgaben wurden schon im vorherigen Kapitel betrachtet. Die institutionelle Stigmatisierung von Menschen mit Substanzgebrauchsstörung zeigt sich in vielen verschiedenen Facetten, deren komplette Nennung die vorliegende Skizzierung des Sachverhalts übersteigen würde. Die zentralen Einschränkungen sollen jedoch genannt werden. Institutionelle Stigmatisierung in Deutschland resultiert unter anderem aus der Aufteilung des Gesundheitssystems, bei der Menschen mit Substanzgebrauchsstörungen unterschiedliche Strukturen vorgehalten werden als Personen mit anderen psychischen Erkrankungen. Auch wenn das Suchthilfesystem ein großes und differenziertes Angebot bereithält, entstehen durch die Trennung durchaus Probleme. Allgemein gilt, dass das Erreichen und die Stabilisierung einer Abstinenz der Behandlung einer anderen psychischen Störung vorrangig sind. Somit sind Menschen mit Doppeldiagnosen oft veranlasst, zuerst ihre Substanzgebrauchsstörung zu behandeln, obwohl einseitige Behandlung von Substanzgebrauchsstörung zu einer Verschlechterung der anderen Erkrankung führen und somit den Therapieerfolg gefährden kann (z.?B. bei der Doppeldiagnose Abhängigkeitssyndrom und Posttraumatische Belastungsstörung). Mit besser zugeschnittenen Therapieansätzen für Doppeldiagnosen sollen Verschiebungen zwischen den beiden Gesundheitssystemen zwar in Zukunft verhindert werden, allerdings sind die stationären Therapieplätze zuweilen noch sehr begrenzt (Frischknecht et al., 2021; Ullrich, 2018). Um suchttherapeutische Hilfe in Anspruch nehmen zu können, ist eine fortlaufende Abstinenz vorausgesetzt. Akzeptanzbasierte und zieloffene Therapieansätze erhalten in der Regel keine Finanzierung bzw. lediglich Zuschüsse durch die Krankenkasse (§20 SGB V). Diese Voraussetzung gilt ebenso für den Zugang zur ambulanten Psychotherapie. Hier muss innerhalb der ersten zehn Sitzungen die Abstinenz durch unabhängige Nachweise bestätigt werden (Gemeinsamer Bundesausschuss, 2011). In vielen privaten Krankenversicherungen sind Entwöhnungsbehandlung außerdem aus dem Leistungskatalog ausgeschlossen (Eichenbrenner, 2017), aber auch bei anderen Versicherungen wie z.?B. der Erwerbsunfähigkeitsversicherung werden Substanzgebrauchsstörungen teilweise ausgeschlossen oder haben beim einer suchtbezogenen Gefährdung einen höheren Kostensatz zur Folge.
SelbststigmatisierungBei Menschen mit Substanzgebrauchsstörung kann die gesellschaftliche und institutionelle Herabwürdigung einen Selbstverurteilungsprozess auslösen. Betroffene entwickeln dabei eine negative Haltung gegenüber sich selbst und weisen einen niedrigen Selbstwert und niedrige Selbstwirksamkeit auf. Oft haben sie eine sehr pessimistische Einschätzung über ihre Genesungschancen. Bei Menschen mit Substanzgebrauchsstörung zeigt sich dies z.?B. in einer niedrigen Abstinenzzuversicht (Kostrzewa, 2018; Rüsch et al., 2004). Die Selbststigmatisierung und die Angst davor, stigmatisiert zu werden, konnten in Untersuchungen bei Menschen mit Substanzgebrauchsstörung als zentraler Grund identifiziert werden, keine Hilfe anzunehmen (Hammarlund et al., 2018).
Nun beziehen sich diese Beispiele ausschließlich auf das Abhängigkeitssyndrom. Um das Thema Stigma und Stigmatisierung im Zusammenhang mit einer neutralen Bewertung psychoaktiver Substanzen angemessen zu adressieren, ist es notwendig, über die reine Betrachtung von Substanzgebrauchsstörungen hinauszugehen und den Fokus auf den allgemeinen Substanzkonsum zu erweitern - auch wenn es hier an Forschungsansätzen mangelt.
Bei Alkohol erleben Menschen, die ein Abhängigkeitssyndrom entwickeln, oft das Paradoxon der in Deutschland vorherrschenden Trinkkultur. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass der gesellschaftliche Umgang mit Alkohol keinen klaren Regeln unterliegt (Lindenmeyer, 2022). Darüber hinaus wird der Alkoholkonsum sogar gesellschaftlich und medial gefördert und glorifiziert und vermittelt so ein Bild von einem Alkoholkonsum als normalisiertem Bestandteil des Alltags (Döring, 2022). Erst wenn die betroffene Person offensichtlich die Kontrolle über ihren Konsum verliert, schlägt die Stimmung plötzlich um und resultiert in oben beschriebener Stigmatisierung (Lindenmeyer, 2022; Schomerus et al., 2011). Erschwerend kommt hinzu, dass selbst eine Abstinenzentscheidung von Alkohol zu einer gesellschaftlichen Ausgrenzung führen kann, da der Alkoholkonsum als wichtiger Bestandteil des sozialen Alltags gesehen wird und Gegenstand diverser Rituale unserer Kultur ist.
Der gesellschaftlich akzeptierte und traditionsreiche Umgang mit Alkohol ermöglicht es Menschen, Alkohol in gesellschaftlich anerkannten Mengen (die in Deutschland sehr hoch sein können und teilweise bis zum Vollrausch reichen!) zu konsumieren, ohne das Risiko einer Stigmatisierung einzugehen. Gleichzeitig wird Alkohol im Vergleich zu illegalisierten Substanzen oft als weniger schädlich angesehen und das Risiko, eine Abhängigkeitserkrankung zu entwickeln, als geringer eingeschätzt.
Menschen, die illegalisierte Substanzen konsumieren, sind schon deutlich früher mit einer Stigmatisierung konfrontiert als Menschen, die legal verfügbare Substanzen zu sich nehmen. Ein wesentlicher Beitrag dazu kommt von der weltweit vorherrschenden Prohibition illegalisierter Substanzen (? Kap. 1.2).
Vor allem bei illegalisierten Substanzen wird eine stark krankheitsbezogene Perspektive angewendet, die im folgenden Kapitel noch genauer erläutert wird (? Kap. 3). Außer bei Cannabis, bei dem die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen schon vor der Teil-Legalisierung in ihrem Flyer offiziell zwischen einem eher weichen und eher hartem Konsummuster unterscheidet (Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen, 2020), gibt es von offizieller Seite wenig Ambitionen, Konsummuster von illegalisierten Substanzen zu klassifizieren. Dementsprechend ist es für viele Menschen schwierig, zwischen risikoarmem und gefährlichem Konsum zu differenzieren. Hinzu kommt das Fehlen eines gesellschaftlich akzeptierten Konsummusters für illegalisierte Substanzen, wodurch Konsumierende früher Vorurteilen begegnen und in eine »Outsider-Position« gedrängt werden.
Auch medial werden illegalisierte Substanzen in der Regel mit Kriminalität, sozialen Schwierigkeiten und gesundheitlichen Problemen in Verbindung gebracht (Hughes et al., 2011). In der öffentlichen Wahrnehmung werden dabei die Konsequenzen...
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