Schweitzer Fachinformationen
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Die alte schwarz-weiße Heringsmöwe saß, wo sie immer saß, auf der Spitze des Leuchtturms Klein-Jan, und spähte nach allen Seiten; nichts entging ihren wachsamen Augen. Jetzt gerade, an diesem warmen Abend im Mai, blickte sie über die Hafeneinfahrt zum kleinen Dorf Schattenseite hinaus. Ein gottvergessener Ort, in dem es mehr oder minder die Dinge gab, die es in kleinen Ortschaften eben gibt: flammende Liebe, schwelende Kränkungen, unerträgliche Eifersucht und die Krankheit, die von der Flasche kam. Hier wohnten kleine Männer mit aussichtslosen Visionen, einsame Frauen mit schweigsamen Kindern, aber auch lachende Jugendliche, starke Damen mit Rückgrat und bernsteinhartem Willen und Herren mit unerschütterlichen Freundschaftsbanden und speziellen Interessen.
Ab und zu geschah es, dass lokale Fragen starke Polarisierungen in der zahlenmäßig bescheidenen Bevölkerung hervorriefen. Dann wurden Ränke gegen Nachbarn und Meinungsgegner geschmiedet, und mehr oder weniger gewaltsame Auseinandersetzungen konnten zwischen den verschiedenen Fronten entstehen. Doch glücklicherweise bewirkte die Macht des Vergessens immer wieder, dass das Leben in herzlicher Gemeinschaft, mit Festen und Tanz weitergehen konnte, bis der nächste Zankapfel auftauchte.
Den Aberglauben sog man hier mit der Muttermilch auf. Lebt man im immerwährenden Schatten mit Bergen und Meer als Eltern, ist das Deuten von Zeichen wichtiger als das Buchstabieren; hier konnten die Kinder Omen und Vorzeichen erkennen, bevor sie ihren eigenen Namen schreiben lernten.
Das meiste davon entging jedoch der Möwe auf der Leuchtturmspitze. Sie hatte andere Sorgen. Seit vielen Jahren saß sie schon hier und hielt Ausschau, immer auf der Suche nach etwas, womit sie ihren Schlund füllen konnte. Sie war so alt, dass sie die Zeit miterlebt hatte, die man hier im Volksmund als »die goldenen Jahre« bezeichnete, die Zeit, in der der Hummerfang und die Heringsfabrik noch im Mittelpunkt gestanden und die Dorfbewohner ernährt hatten. Und auch sie selbst und ihre Artgenossen. Zu jener Zeit gab es mindestens zweimal am Tag Fischabfälle. Inzwischen gähnten die Fenster der alten Heringsfabrik schwarz und leer, das einzige Leben, das sich dort noch fand, waren der Efeu, der an der alten Ziegelfassade emporkletterte, und ein paar Mauersegler, die noch immer unter den Dachpfannen nisteten. Und was die alte Möwe anging, so musste sie inzwischen darauf vertrauen, dass der einzig verbliebene Fischer des Dorfes, Herr Mendelsohn, mit einem einigermaßen guten Fang nach Hause kam.
Der Vogel geriet etwas ins Schwanken, als der Wind sein Federkleid ergriff und einen Duft nach Salz und Tang vom Meer zu ihm brachte, bevor er spielerisch weiter in den Hafen fegte, wo er in die alten, kaputten Netze fuhr, die an den windschiefen Fischerhütten hingen.
Auf der anderen Seite der Bucht türmte das Dorf selbst sich in seinem ganzen Glanz auf. Na ja, zumindest türmte es sich auf. Man konnte es eher als ein Wirrwarr aus verschiedenfarbigen Holzhäusern in unterschiedlichem Zustand bezeichnen, die gegenüber dem Aussichtsplatz der Möwe den Berg emporkletterten, ja, in manchen Fällen regelrecht an der Bergwand klebten. Die Strahlen der Sonne reichten bis zu den höchstgelegenen Häusern hinunter, der Rest des Dorfes lag im Schatten. Dort oben an den besten Plätzen prangten hochherrschaftliche Villen, die an die Blütezeit erinnerten, die das Dorf um die Jahrhundertwende erlebt hatte. Jetzt gehörten sie Sommergästen, alle außer einer. Dort wohnten zwei ältere, unverheiratete Zwillingsschwestern, Marie und Thérèse Thervin, die Töchter von Marie-Antoinette Thervin, geborene Fritzdotter. Eine bemerkenswerte Frau, die nach einer Frankreichreise und vor allem nach Cannes beschlossen hatte, dass die Strandpromenade des Dorfes von nun an Croisette genannt werden sollte. Diese Reise war im Übrigen die einzige, die sie in ihrem Leben machte, bevor sie mit 95 Jahren während eines Toilettenbesuchs mit einem Whiskyglas in der Hand starb. »Mutter ist glücklich gestorben«, pflegten die Schwestern zueinander zu sagen, und das war vermutlich das Einzige, worüber sie sich im Leben einig waren.
Wie auch immer.
Die Möwe hob ihren Kopf, sie fühlte sich mächtig, dort, wo sie saß. Der rote Fleck auf ihrem gelben Schnabel glänzte im Licht der Abendsonne, das gerade die Spitze des Leuchtturms berührte - ein weißer runder Leuchtturm mit einem breiten schwarzen Streifen in der Mitte und einem etwas schmaleren roten weiter oben. Es würde noch eine Weile dauern, bis Herr Mendelsohn eintraf, das wusste sie aus Erfahrung, also überlegte sie, ob sie einen Abstecher ins Dorf machen sollte, sehen, ob sie vielleicht irgendetwas Essbares in der Nähe des einzigen örtlichen Restaurants finden konnte, dem Häring. Mit würdevoller Ruhe wartete sie auf die nächste Windbö, nicht unähnlich einem Surfer, der geduldig auf die höchste Welle wartet, und als sie schließlich kam, breitete sie ihre großen Schwingen aus, hob vom Leuchtturm ab und glitt auf den Wirbeln davon, die über den Hafen fegten. Sie stieß ihren speziellen Ruf aus, als sie übers Wasser hinwegflog, um ihre Anwesenheit kundzutun und andere Vögel abzuschrecken, die sich zufällig, wider besseres Wissen, in ihr Territorium verirrt hatten.
Jetzt hatte sie Aussicht über so gut wie das ganze Dorf: die Hauptstraße, die sich zwischen den Häusern hindurchschlängelte, den kleinen Marktplatz ein Stück über dem Hafen, gesäumt von diversen Läden und gekrönt von einem aufsehenerregend schönen Brunnen. Doch das glitzernde Wasser des Bassins lockte sie nicht, das war das Revier der Tauben und Spatzen, und was sie betraf, sollten sie sich ruhig um die Krümel schlagen, die es dort gab. Sie hatte es auf das Restaurant an der Strandpromenade abgesehen, oder eher: Ihr Blick war auf den Kücheneingang gerichtet, der in einer kleinen Querstraße ein Stück oberhalb des Kais lag. Dort fand sie manchmal alte Essensreste, wenn der Koch den Deckel der Mülltonne nicht richtig geschlossen hatte. Natürlich nur, sofern ihr nicht die widerlichen Ratten zuvorgekommen waren. Ihr spähender Blick konstatierte, dass das heute leider der Fall war; die Tonnen waren umgekippt, und alles Essbare war verschwunden. Sie sah den Koch herauskommen und die ekelhaften Nager lautstark verfluchen, in einer Sprache, die melodisch und schön klang, nicht wie die der anderen Menschen im Dorf. Sie wandte den Blick ab und nahm wahr, dass eine Gruppe von Menschen vor dem Eingang des Restaurants stand, genauer gesagt vier Personen. Sie kannte sie alle und wusste: Wenn die Tür des Lokals sich öffnete und sie ins Warme eintreten durften, würde es nicht lange dauern, bis es so weit war.
Und sehr richtig.
Sobald die Tür hinter den Gästen ins Schloss gefallen war, hörte sie das unverkennbare Knattern, das vom Meer her herannahte. Der Fischer war mit der Mary Celeste, dem kleinen Kutter, auf dem Weg in den Hafen. Alles lief wie gewohnt und ganz nach Plan, in der Ferne konnte sie die Kirchenglocken sechsmal schlagen hören. Als sich das Boot dem Pier am anderen Ende der Bucht näherte, flatterte sie mit den Flügeln und änderte die Richtung. Jetzt war das Ziel einer der Stege dort drüben. Auf dem Weg ließ sie ihren glücklichsten Ruf erschallen, um ihren Wohltäter willkommen zu heißen, während sie auf einen abgewetzten Poller zusteuerte.
Und dort saß sie nun, erwartungsvoll, als das Fischerboot am Steg anlegte und Herrn Mendelsohns zerfurchtes Gesicht auftauchte und sie anlächelte.
»Hallo, John«, sagte er zu dem Vogel. »Gute Nachrichten. Das Meer war heute großzügig.«
Der Fischer beugte sich hinunter, nahm ein paar Heringe vom Schiffsboden und warf sie John auf dem Steg zu. Die Möwe verschlang sie im Ganzen, einen nach dem anderen, und alles war wie immer in dem kleinen Dorf.
Fast.
Gerade an diesem Abend, an dem unsere Geschichte ihren Anfang nimmt, sollte ein merkwürdiger Strandfund das Leben für einige der Dorfbewohner verändern, nicht zuletzt für die Person, die den Fund machte: eine voluminöse Frau mittleren Alters mit einigen wenigen Härchen auf der Oberlippe und einer schwarzen Tunika am Körper. Sie saß auf einem getunten Lastenmoped und fuhr in Richtung Meer. Von ihren Ohren baumelten zwei hübsche Schneckenhäuser, frühere Funde von der Küste, und das lange Haar war mit einer kräftigen Klammer hochgesteckt. Mit hoher Geschwindigkeit knatterte sie durch das Dorf zum Strand, sie beeilte sich, dorthin zu kommen, ehe die Dunkelheit hereinbrach, und ahnte nicht, was sie dort erwartete.
Sie wollte Tang sammeln. Frischen, braun-grünen Blasentang. Nicht für sich selbst, er sollte zum Wirtshaus geliefert werden und in Kombination mit frisch gefangenen Jakobsmuscheln in eine örtliche Spezialität verwandelt werden. Sie hatte die Aufgabe übernommen, zu dieser Jahreszeit die Zutat zu liefern.
Kurz vor dem Dorf passierte sie einen leicht gewölbten Kreisverkehr und winkte einem sehr kleinen Mann, der sie fieberhaft in die Richtung dirigierte, in die sie ohnehin unterwegs war. Da er ihre Tangroutinen in- und auswendig kannte, sah er ausgesprochen perplex aus, als sie an ihm vorbeifuhr. Normalerweise machte sie ihre Runde bei Tagesanbruch, wenn gerade die Morgenröte vom Horizont hereinbrach und ihr Licht über den Strand warf, aber heute früh war ein Ferngespräch vom Landesgefängnis in Växjö hereingekommen. Das hatte sie aufgehalten. Nicht das Gespräch an sich, das war kurz gewesen, aber seine Nachwirkungen. Den Rest des Tages musste sie Hunderte von Meeresschnecken und Glasstücken im Wohnzimmer umsortieren, um ihre Nerven...
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