Einleitung
Aus dem 19. Jahrhundert brachte die Beschäftigung mit den Isländersagas die Überzeugung mit, dass sie »ursprünglich nur auf Grund mündlich umlaufender Überlieferungen aufgezeichnet worden« seien (Konrad Maurer). Ausgerechnet aber in der Saga, die von der Mehrzahl der Kenner als Krone und Vollendung der Gattung angesehen wird, musste diese These an ihre Grenzen stoßen, denn wie soll man sich das Gedächtnis eines Menschen vorstellen, der in der Lage sein müsste, eine nur mündlich überlieferte Erzählung zu behalten, die aus weit mehr als 100 000 Wörtern besteht, in einer an Ereignissen nicht gerade armen Handlung fast 600 Personen beim Namen nennt und dabei von vielen auch noch ihre verwandtschaftlichen Beziehungen bis ins fünfte oder sechste Glied darlegt? Genau dies aber ist der Stoff, aus dem die Saga von Brennu-Njáll gemacht ist, und zwar auf eine Weise, die geeignet scheint, doch eher den Anhängern einer konkurrierenden Theorie recht zu geben: Ihr zufolge sind die Isländersagas vielmehr hochstehende literarische Schöpfungen von einzelnen Autoren des 13. Jahrhunderts, deren komplexer Aufbau mit zahlreichen Vorausdeutungen und späteren Rückgriffen nur auf schriftliche Aufzeichnungen gestützt ausgearbeitet werden konnte.
Die in der Saga von Brennu-Njáll geschilderte Handlung setzt, wenn man ihr Zeitgerüst mit historischen Ereignissen abgleicht, um das Jahr 960 ein und endet etwa im Jahr 1015/16. Eine Originalhandschrift ist nicht erhalten, doch verschiedenen Indizien zufolge wurde die Saga wahrscheinlich im letzten Viertel des 13. Jahrhunderts geschrieben, in den zwanzig Jahren zwischen 1275 und 1295, also einige Zeit nachdem die einst so stolzen Isländer ihre Unabhängigkeit verloren hatten und steuerzahlende Untertanen der norwegischen Krone geworden waren, und auch mindestens 260 Jahre nach den in ihr erzählten Begebenheiten. Diesen nicht unbeträchtlichen Zeitabstand können auch die Anhänger der »Buchprosatheorie« nicht leicht ohne die Annahme einer zunächst mündlichen Weitergabe von Berichten und Erzählungen überbrücken. Für den in mehr als fünfzig Handschriftenbruchstücken schriftlich festgehaltenen Text der Saga gilt jedoch, daran ließ der isländische Herausgeber der auch dieser Übersetzung zugrundeliegenden Edition keinen Zweifel, »dass die Saga in ihrer Gesamtheit das Werk eines einzigen Mannes ist« (Einar Ólafur Sveinsson).
Nur zu gern wüssten wir seinen Namen.
»Damit schließe ich die Saga von Brennu-Njáll«, heißt es nach bald 500 Seiten mit der ganzen sachlichen Schlichtheit, die gute Sagaprosa oft auszeichnet, und doch sind in diesem unaufdringlichen Schlusssatz zwei sonst selten oder nie vorkommende Aussagen enthalten. Zum einen verleiht der Autor selbst seiner Geschichte einen Titel, was bei nicht vielen Isländersagas überliefert ist; und zum anderen tritt in der ganzen Sagaliteratur nur an dieser einen Stelle ganz kurz das »Ich« eines Erzählers und des hinter ihm stehenden Autors in Erscheinung. Regeln oder Konventionen der Gattung scheinen den Verfassern nämlich abverlangt zu haben, anonym hinter ihre Werke zurückzutreten, und so weit, mit seinem Namen zu signieren, ging auch der Autor der Saga von Brennu-Njáll nicht. Im Lauf der Forschungsgeschichte haben sich daher immer wieder die intimsten Kenner der Sagas und der Epoche, in der sie geschrieben wurden, mit dem Spürsinn kriminalistischer Profiler auf die Suche nach ihm begeben, doch keiner der Namen, die sie vorschlugen, hat allgemeine Zustimmung gefunden. Es wird dabei bleiben: Wir kennen den Verfasser der Saga von Brennu-Njáll nicht namentlich, und so war es auch gedacht. Denn wenn kein einzelner Autor für den Inhalt der Saga verantwortlich zeichnet, erhält seine Geschichte durch das (echte oder fiktive) Herstammen aus einer kollektiv von vielen Generationen getragenen Überlieferungstradition umso größere Glaubwürdigkeit. Ein kalkuliert schlichter Erzählstil, der in vielem mündliches Erzählen nachbildet, trägt zusätzlich dazu bei.
Unübersehbar deutlich ist, dass der Verfasser der Saga von Brennu-Njáll ein bewusst literarisch schaffender Autor war, der - sehr belesen - souverän mit den Konventionen des Sagaerzählens umzugehen verstand. Überblickt man den Stoff seiner Erzählung, dann bestand sein größtes Interesse augenscheinlich an Fragen der Konfliktlösung, durch außergerichtliche Vergleiche oder Gerichtsprozesse oder, als letztes Mittel, auch durch Gewalt. Hätte es den Berufsstand im damaligen Island bereits gegeben, würde man den Autor sicher unter den führenden Juristen seines Landes suchen. - »Mit Gesetzen soll man unser Land aufbauen«, lautet die wohl bekannteste Maxime, die seit Njáll in Island bis heute zum geflügelten Wort wurde.
In den ersten dreißig Kapiteln geht es vor allem um Eheschließungen und Eheverträge, doch mit Gesellschaftsklatsch hat das kaum zu tun. Vielmehr ist das Knüpfen von Heiratsverbindungen, der Austausch von Frauen, wenn man so will, vielleicht der älteste und wichtigste Weg zur Anbahnung von Kontakten zwischen Menschengruppen. Verläuft es glücklich, sichern sie den Frieden, scheitern sie, beschwört das Konflikte herauf. Durch das nachdrücklich erbetene Eingreifen nach einer gescheiterten Ehe wird der Held des ersten Teils der Saga in die Geschichte hineingezogen: Gunnar von Hlíðarendi. Er trägt nicht nur den im Norden gebräuchlichen Namen von Burgundenkönig Gunther, sondern ist auch sonst als eine für die Heldensage geeignete, fast siegfriedähnliche Gestalt gezeichnet. Schon ein Blick auf den Titel der Saga lässt aber vermuten, dass nicht Gunnar als Held dieser Geschichte gedacht ist, sondern sein bester Freund, Njáll; und Njáll ist ein früh als alt dargestellter Mann mit dem unmännlichen Merkmal, keinerlei Bartwuchs zu haben, und ein Mann des friedlichen Ausgleichs, ebenfalls ein mit allen Wassern gewaschener Kenner der Gesetze (und ihrer Lücken), der seine größten Erfolge im Aushandeln von Vergleichen oder vor Gericht erringt, und nicht auf dem Kampfplatz. Isländersaga ist nicht Heldensage. Dazu ist sie viel zu sehr an gesellschaftlichen Fragen und Konflikten interessiert. Die Saga von Brennu-Njáll erzählt unter anderem von einem permanenten Widerspiel der Kräfte von Freundschaft und friedliebendem Ausgleich auf der einen und einer von der Gesellschaft geforderten Pflicht zu Bestrafung und Rache auf der anderen Seite. Gunnars und Njálls schöne Freundschaft wird durch eine Kette tödlicher Zwischenfälle auf zunehmend härtere Belastungsproben gestellt, doch sie bewährt sich, bis eine übermächtige Koalition von Feinden Gunnar zur Strecke bringt, nicht zuletzt weil er sich weigert (oder war es so vorherbestimmt?), einen von Njáll für ihn vor Gericht ausgehandelten Vergleich zu erfüllen.
Mit Gunnars Tod kann die Geschichte nicht zu Ende sein. Er hat Söhne, er hat eine willensstarke Mutter, die Vergeltung will, und er hat Freunde. »Ich bestehe darauf, dass meine Söhne ihr Leben mit dem deinen verbinden«, hat Njáll noch zu helfen versucht, bevor Gunnar - und damit wird er dann doch den Helden des Nibelungenlieds ähnlich - in einem letzten Akt trotziger Selbstbehauptung allein auf sich gestellt in seinem Haus auf die Feinde wartete.
Ohne eine solche Entschlossenheit zur Selbstbehauptung konnte man leicht zu den Verlierern gehören in einer Gesellschaft, die keine undurchlässig strikt gegliederte Ständepyramide kannte, die nicht jedem seinen unverrückbaren Platz schon mit der Geburt zuwies, und deren Gründer bewusst auf die Errichtung eines staatlichen Machtapparats zur Aufrichtung und Durchsetzung von Frieden und Ordnung verzichtet hatten. Unter solchen Bedingungen konnte sich ein Individuum am ehesten gegen Übergriffe schützen, indem es den anderen immer wieder signalisierte, gegen jede Beschädigung, und sei es die seines Rufs, seines Ansehens, entschlossen vorzugehen. Dreh- und Angelpunkt allen Geschehens in der Saga ist darum immer wieder die Frage, ob, wie und mit welchen Mitteln ein Individuum in kritischen Konfliktsituationen seine persönliche Integrität und Unverletzlichkeit, das, was man früher seine Ehre genannt hätte, bewahren kann.
Zweite Schutzmaßnahme war eine Verpflichtung zu gegenseitiger Hilfeleistung unter Familienangehörigen, angeheirateten Verwandten, Freunden, Bluts- und Ziehbrüdern, Verbündeten. Solche Verpflichtungen mussten zwingend sein, wenn sie wirksam sein sollten, und daraus folgte mit innerer Notwendigkeit eine Pflicht, jemanden, der einen Freund, Verwandten, Verbündeten verletzt oder getötet hatte, zu verfolgen und nachträglich Rache zu üben.
Skarphéðinn, der Herausragende unter Njálls Söhnen, die im zweiten Hauptteil der Saga für Gunnar Rache nehmen, hat gut lachen, auch wenn er meist nur ein zähnefletschendes Grinsen aufsetzt, denn er folgt unbeirrt und ohne Zweifel diesem Weg, den ihm die von der Gesellschaft vorgegebenen ethischen Verpflichtungen zeigen, auch dann noch, als er in seinen eigenen und den Tod seiner ganzen Familie führt. (Dass es daneben auch schlicht um Fragen von Macht und Herrschaft ging, spricht in aller Deutlichkeit z. B. die Strafpredigt aus, die im 107. Kapitel der Gode Valgarð Grái seinem Sohn Mörð hält.)
Andere Sagafiguren, wie etwa Kjartan in der Saga von den Leuten aus dem Laxárdal oder hier Njáll, geraten durch solche Normen in viel tiefere Widersprüche und Zweifel. Da klingt die immer wieder geäußerte Überzeugung von einer schicksalhaften Unausweichlichkeit des Kommenden fast wie eine Entlastung. »Jeder muss tun, was ihm bestimmt ist«, »es kommt, was kommen...