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Aus bildlichen Darstellungen bis hin zu den heutigen Co mics ist uns Odins Erscheinung wohlvertraut: Abgesehen von Thor mit seinem Hammer ist kein anderer germanischer Gott ikonographisch so prägnant wie Odin. Er ist hochgewachsen, hat einen Bart und trägt einen langen nachtblauen oder schwarzen Mantel. Sein Gesicht wird von einem breitkrempigen Hut verdunkelt, doch kann man erkennen, dass er nur ein Auge hat. Er erscheint als alter, hässlicher Mann, der überaus furchteinflößend wirkt. Während der rothaarige Thor trotz seiner unbekümmerten Gewalttätigkeit als ein letztlich sympathischer, nahbarer Kraftprotz daherkommt, ist Odin eine dämonische und bedrohliche Gestalt, zu der auch seine Anhänger respektvoll Distanz halten. Das Unheimliche wird verstärkt durch Odins Neigung, sich zu maskieren und sich hinter verschiedenen Namen und Verkleidungen zu verbergen. Diesen atmosphärischen Eindruck vermitteln in erster Linie die hoch- und spätmittelalterlichen isländischen Vorzeitsagas, die uns den Gott in der Begegnung mit Menschen zeigen. Der Einfluss des Christentums auf diese dunklen, dämonischen Odinbilder ist in einigen dieser Texte unverkennbar.
Auch die Edda kennt Odin als Weltenwanderer, doch überwiegend hält er sich in den mythologischen Texten in der Götterwelt Asgard auf. Von seinem Sitz Hliðskjálf aus überblickt er die neun Welten, wenn er nicht gerade in Walhall bei den Einheriern sitzt, den von den Walküren auf dem Schlachtfeld ausgewählten Gefallenen. Seine beiden Raben Huginn und Muninn versorgen ihn mit Neuigkeiten aus aller Welt, den Wölfen Geri und Freki (beide Namen bedeuten etwa «der Gefräßige») wirft er von der Tafel in Walhall Fleischstücke zu. Das achtbeinige Ross Sleipnir scheint besonders für Ritte in die Totenwelt gerüstet. Sein Ring Draupnir symbolisiert seine Macht als Herrschergott, der Speer Gungnir weist ihn als Herrn des Schlachtfelds aus. Odin ist aber auch der Gott der Weisheit, der Magie, der Dichtung, und nicht zuletzt verdanken ihm die Germanen ihre Schriftzeichen, die Runen. Gemeinsam mit seinen Brüdern Vili und Vé ist er ferner ein Gott der Urzeit, weitaus älter als die anderen Asen; sowohl an der Weltschöpfung als auch an der Erschaffung des ersten Menschenpaars hat er entscheidenden Anteil. In der Szenerie des Weltuntergangs, den Ragnarök, bildet sein Kampf gegen den Fenriswolf, eines der Chaoswesen, die am Ende der Tage die Götter besiegen werden, ein zentrales Moment. Der Wolf verschlingt ihn; eine neue Göttergeneration, angeführt von Odins Sohn Balder, wird über die aus der Urflut wieder emportauchende Welt herrschen.
Schon dieser auf die elementaren mythologischen Motive reduzierte Steckbrief macht deutlich, wie vielfältig, vielleicht sogar widersprüchlich die Funktionen, Merkmale und Eigenschaften Odins sind. Hat diese Komplexität den Gott von vornherein ausgemacht oder oder hat sie sich erst im Lauf der Jahrhunderte entwickelt? Ist der Eindruck eines außerordentlich facettenreichen Gottes lediglich den Quellen geschuldet, die je nach Gattung und Erzählabsicht verschiedenste Odingestalten präsentieren? Wie immer man diese Fragen beantworten mag, die Vielfalt der Quellen wird zur Herausforderung, wenn es um die Rekonstruktion eines Götterindividuums mit scharf umrissenem Profil gehen soll. Vielleicht muss man vielmehr die Offenheit, die Wandelbarkeit, die Ambivalenz dieser Gottheit als ihr zentrales Charakteristikum akzeptieren und für die Deutung fruchtbar zu machen versuchen.
Von einer Vielfalt von Zeugnissen kann freilich nur im isländischen Mittelalter die Rede sein; je weiter man zurückgeht in der Zeit, umso spärlicher fließen die Quellen, und umso diffuser ist das Bild des Gottes, das sie vermitteln. Eine plastische Frühgeschichte Wodan-Odins lässt sich aus diesem ebenso schütteren wie heterogenen Material nicht gewinnen, so viel Scharfsinn die Forschung seit dem 17. Jahrhundert auch darauf verwendet hat. Dennoch lohnt es sich, zu Beginn einen Blick auf Wodans Frühzeit in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten zu werfen. Die dämmerhafte Welt, die sich bei Betrachtung der frühen, durchweg schwer zu deutenden Quellen abzeichnet, ist für sich genommen schon faszinierend, der Blick in diese Vorzeit mag aber auch hilfreich sein, wenn es später darum gehen wird, die mittelalterliche Odinliteratur einzuordnen und zu beurteilen, wo belastbares Vorzeitwissen angenommen werden darf und wo Odinmythen kreativ fortgeschrieben werden.
deorum maxime Mercurium colunt - «von den Göttern verehren sie besonders Mercurius»:[1] Dies behauptet Tacitus 98 n. Chr. im neunten Kapitel seiner Germania. Mit dieser schmalen, aber überaus folgenreichen Monographie verfolgte der römische Senator und Geschichtsschreiber den Zweck, seinen Lesern die Bedrohung vor Augen zu führen, die die umtriebigen Barbaren aus dem Norden für das Römische Reich darstellten. Viele Forscher haben mit dieser Notiz die Geschichte des Gottes Wodan beginnen lassen. Diesem Mercurius würden die Germanen Menschen opfern, heißt es weiter, passend zum Bild der kriegerischen Wilden, womit bereits das Finstere und Dämonische umrissen wird, das den seit dem späten 8. Jahrhundert im Norden Odin genannten Gott in unserer Vorstellung umgibt. Wenn man dieser Identifikation des römischen Gottes mit dem germanischen folgt, so wäre die Wodan-Odinreligion für mindestens ein Jahrtausend belegt, vom 1. Jahrhundert n. Chr. bis ins frühe 11. Jahrhundert, als mit der Bekehrung der Wikinger das germanische Heidentum und damit auch die kultische Odinverehrung aus der Geschichte verschwanden. Denkt man etwa an die Beständigkeit ägyptischer und anderer vorderorientalischer Gottheiten, ist ein Jahrtausend religionsgeschichtlich keine allzu große Zeitspanne, auch die des Christengottes währt ja bereits 2000 Jahre. Dennoch will einem eine solche Kontinuität nur schwer einleuchten, insbesondere wenn sie für den gesamten germanischen Bereich gelten soll. Ohne einen übergeordneten Herrschaftszusammenhang verteilten sich die Germanenstämme über weite Gebiete Europas, vom Norden Skandinaviens bis an die Schwarzmeerküste, und waren dabei den unterschiedlichsten kulturellen und religiösen Einflüssen ausgesetzt. Zudem verfügten diese Stämme über keine Schriftkultur, die eine Festschreibung von religiösen Praktiken und Vorstellungen oder gar irgendeine Form von Lehrgebäude ermöglicht hätte.
Andererseits wurde die Runenschrift seit dem 2. Jahrhundert n. Chr. nahezu im gesamten Barbaricum verwendet, mit nur geringfügigen regionalen Abweichungen. Und auch die frühe Bilderwelt der Germanen ebenso wie die Ausstattungen herrschaftlicher Gräber zeigen erstaunliche Übereinstimmungen über weite geographische Räume hinweg. Auf bestimmten Ebenen weist die Kultur der Germanen eine Einheitlichkeit auf, die sich nicht anders erklären lässt als durch die Annahme, dass die Eliten dieser scheinbar so isoliert in vielfach kaum urbar gemachten Gegenden lebenden Stämme eng miteinander vernetzt gewesen sein müssen - wenn die Quellen auch kaum Hinweise darauf geben, wie dieser Austausch funktioniert haben könnte. Die verblüffende Geschwindigkeit, mit der sich Phänomene wie die Runenschrift oder auch Neuerungen im Design der materiellen Kultur über die Germania verbreitet haben, belegt jedenfalls die hohe Effektivität dieses Kommunikationsnetzes. Auch die Heldensagen als Erzählgemeingut könnte man hier anführen; so wird etwa die grimmige Geschichte vom blutigen Untergang des Ostgotenkönigs Ermanarich, dessen Herrschaftsgebiet zwischen ca. 350-375 am Schwarzen Meer lag, als Heldensagenstoff zuerst in Dichtungen aus dem Norwegen des 9. Jahrhunderts greifbar. Inwieweit sich aus den vielfältigen Kommunikationen aber das Bewusstsein einer ethnischen Zusammengehörigkeit entwickelte, ist umstritten. Den germanischen Stammesgesellschaften mag die Denkfigur ...
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