Mittelalterliche Sagahandschriften
Keine Saga ist als Original überliefert, also in einer von ihrem Autor verbürgten, einzig gültigen Fassung. Wir kennen die Texte nur in der Gestalt, in der Handschriften des Mittelalters und der frühen Neuzeit sie bewahren: als Abschriften von Abschriften, die in einem nicht mehr zu bestimmenden Verhältnis zu der (hypothetischen) Urfassung ihres Textes stehen. Dass diese Urfassung als Original eine eigene, unbedingt zu erhaltende Aura haben könnte, ist eine Vorstellung, die sich erst in der Neuzeit und lange nach der Einführung des Buchdrucks allmählich entwickelt hat. Die mittelalterliche Handschriftenkultur kennt einen solchen nur mit sich selbst identischen Originaltext nicht, und da Schreiber und Redaktoren beim Abschreiben mit Bedacht oder aus Nachlässigkeit Änderungen am Wortlaut ihrer Textvorlagen vornahmen, existieren mittelalterliche Texte fast immer in voneinander abweichenden handschriftlichen Versionen, die zudem oft deutlich jünger sind als die Texte selbst. Diese Mehrfachüberlieferung ist für die mittelalterliche Buchkultur generell und auch für die isländische so charakteristisch, dass wir in der vorliegenden Ausgabe wenigstens exemplarisch einen Eindruck davon geben möchten. So kann man die »Saga von Gísli Súrsson« (Gísla saga Súrssonar) in Band 2 in den beiden überlieferten Fassungen in deutscher Übersetzung nachlesen. Bei anderen Sagas haben wir in die übersetzte Version bisweilen Zusätze aus anderen handschriftlichen Fassungen aufgenommen und als solche kenntlich gemacht. Damit möchten wir darauf hinweisen, dass mittelalterliche Manuskripte nicht wie die gedruckten Bücher unserer eigenen Epoche >feste< Texte tradieren, deren verbindliche Gestalt der Intention ihres Autors entspricht, sondern >unfeste<, wieder und wieder nacherzählte und dabei vielfach revidierte und aktualisierte Zeugnisse in diversen Fassungen enthalten, von denen jede für sich Gültigkeit beanspruchen kann. Dies gilt für die in mindestens zwei Versionen überlieferte »Saga von Brennu-Njáll« (Brennu-Njáls saga) genauso wie zum Beispiel für die Fassungen der »Saga von den Verbündeten« (Bandamanna saga), der »Saga von den Söhnen der Droplaug« (Droplaugarsona saga), der »Saga von Eirík dem Roten« (Eiríks saga rauða) oder der »Saga von den Schwurbrüdern« (Fóstbroðra saga), um einige weitere Beispiele zu nennen. Letztlich ist daher ein Text in der Manuskriptkultur stets als die Summe seiner handschriftlich überlieferten Versionen anzusehen. Das macht unter anderem die Datierung schwierig, zumal das Alter einer Handschrift, das ebenfalls nur in seltenen Fällen genau zu bestimmen ist, keine Rückschlüsse erlaubt auf die Entstehungszeit der in ihr bewahrten Texte. Es ist keine Seltenheit, dass ältere Textfassungen von jungen Manuskripten tradiert werden. In den allermeisten Fällen ist es unmöglich zu sagen, wie ein Sagatext ausgesehen oder sich entwickelt haben könnte, bevor jene handschriftlich tradierten Fassungen entstanden, in denen wir ihn kennen.
Die frühesten Sagahandschriften sind sämtlich verloren und damit zweifellos auch eine Anzahl von Sagas, die keinerlei Spuren hinterlassen haben. In der Überlieferung gibt es aber hin und wieder auch Hinweise auf Texte, von denen sich sonst nichts erhalten hat. Die ältesten bewahrten Fragmente stammen aus der Zeit um 1250, darunter vier Pergamentblätter aus der »Saga von Egill Skalla-Grímsson« (Egils saga Skalla-Grímssonar), hergestellt aus dem typischen Material der isländischen mittelalterlichen Bücher, aus Kalbshaut. Im Ganzen sind bis um 1300 freilich nur wenige Handschriften bewahrt. Erst danach steigt ihre Zahl merklich an.
Ganz überwiegend stammen die mittelalterlichen Sagahandschriften mithin aus jener Zeit zwischen 1262/64 und (ca.) 1380, in der Island zum norwegischen Königreich gehörte. Das Land erlebte in dieser Zeit nach dem Verlust der politischen Selbständigkeit einen tiefgreifenden sozialen Wandel, durch den die isländische Gesellschaft sich neu formierte. Sie bildete feudale Strukturen aus, in denen nun zum ersten Mal Vertreter der Königsmacht ihren Platz beanspruchten. Deren Ämter waren einträglich und sicherten zusammen mit den Erlösen aus dem Export von Stockfisch, einem in Europa weithin begehrten Nahrungsmittel, den Wohlstand mächtiger Familien. In dieser Oberschicht, die gute Verbindungen zu den Bildungsstätten der Kirche hatte, vermutet man die Auftraggeber und Finanziers der mittelalterlichen isländischen Bücher, die im Übrigen offenbar nicht nur für einheimische Bedürfnisse angefertigt wurden, sondern auch für die Ausfuhr nach Norwegen. Im Detail weiß man über das alles außerordentlich wenig. Es ist daher nicht mehr als eine Annahme, wenngleich eine recht plausible, dass die genannte Elite sich für die Isländersagas mit ihren Erzählungen vom Entstehen sozialer Ordnung gerade vor dem Hintergrund ihrer eigenen veränderten Gesellschaftsstruktur interessiert haben könnte.
Aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts stammen gleich mehrere Manuskripte der vermutlich wenige Jahrzehnte zuvor, am Ende des 13. Jahrhunderts, entstandenen »Saga von Brennu-Njáll«. Zu deren Manuskripten gehört auch die einzige Pergamenthandschrift einer Isländersaga, die (obgleich spärlich) mit Illuminationen versehen ist: die Kálfalækjarbók (»Buch aus Kálfalæk«) aus der Zeit um 1350. Davon abgesehen haben wir es bei der mittelalterlichen Überlieferung der Isländersagas stets mit schmucklosen Gebrauchshandschriften zu tun. Seit der Mitte des 14. Jahrhunderts sind dann auch große Sammelhandschriften belegt, die mehrere Isländersagas gemeinsam bewahren. Nur eine von ihnen, die Möðruvallabók (»Buch aus Möðruvellir«), ist erhalten. Die sogenannte Vatnshyrna (»Buch aus Vatnshorn«) hingegen ist 1728 beim Brand von Kopenhagen bis auf wenige Blätter vernichtet worden, und auch eine Schwesterhandschrift, die man als Pseudo-Vatnshyrna bezeichnet, ist verlorengegangen. Es lässt sich aus jüngeren Abschriften immerhin rekonstruieren, welche Sagas diese Kodizes enthielten. Daher weiß man, dass man sich im 14. Jahrhundert nicht nur der engen Zusammengehörigkeit jener Zeugnisse bewusst war, die wir heute unter der modernen Gattungsbezeichnung >Isländersagas< subsumieren, sondern darüber hinaus ein Interesse hatte, diese Texte in eigens dafür angelegten Büchern gemeinsam zu archivieren. Solche Bücher wurden im Übrigen nicht nur für die frühe Geschichte Islands zusammengestellt, sondern auch zum Beispiel für die isländische Geschichte des 13. Jahrhunderts (Króksfjarðarbók, »Buch aus dem Króksfjord«, Reykjafjarðarbók, »Buch aus dem Reykjafjord«) oder für die Geschichte des Norwegischen Reiches und seiner Kolonien (Flateyjarbók). Für unsere Kenntnis der Isländersagas war der Impuls, auch der Sagazeit eigene Saga-Sammlungen zu widmen, von kaum zu überschätzender Bedeutung. So bestimmen die Kompilatoren des 14. Jahrhunderts nicht nur durch ihre Textauswahl unsere Wahrnehmung des Genres, sondern auch durch ihre stilistischen Vorlieben. In vielen Fällen sind es die Textfassungen der Möðruvallabók, auf denen die modernen textkritischen Editionen beruhen. Deshalb prägt gerade diese Handschrift die Vorstellungen, die man sich in der Neuzeit von der charakteristischen Gestalt der Isländersagas und von ihrem für >klassisch< gehaltenen Erzählstil macht.
Ihren Namen hat die Möðruvallabók erst seit dem späten 19. Jahrhundert; er ist abgeleitet von dem Ortsnamen Möðruvellir, den ein Besitzervermerk von 1628 erwähnt. Das größtenteils gut erhaltene Manuskript hat das charakteristische Aussehen eines mittelalterlichen Buches: Etwa 34 cm hoch und 24 cm breit, umfasst es zwischen zwei schweren hölzernen Buchdeckeln 200 Pergamentblätter, die auf beiden Seiten zweispaltig mit dunkler Tinte beschrieben sind. Die Anfänge neuer Texte bzw. Kapitel sind mit farbigen Initialen und roten Überschriften markiert. Der Kodex bewahrt elf Isländersagas; fast alle sind in unserer Ausgabe nachzulesen: die Brennu-Njáls saga, die Egils saga Skalla-Grímssonar, die Finnboga saga (»Die Saga von Finnbogi«), die Bandamanna saga, die Kormáks saga Ogmundarsonar (»Die Saga von Kormák Ögmundarson«), die Víga-Glúms saga (»Die Saga von Víga-Glúm«), die Droplaugarsona saga, der Olkofra þáttr (»Die Erzählung von Ölkofri«), die Hallfreðar saga vandræðaskálds (»Die Saga von Hallfreð dem Schwierigen«), die Laxdola saga (»Die Saga von den Leuten aus dem Laxárdal«) und die Fóstbræðra saga. Diese Titel allerdings sind die heute geläufigen Bezeichnungen der Texte; in der Möðruvallabók (und auch in anderen Manuskripten) weichen sie zum Teil davon ab. Da die Handschrift nicht mehr vollständig ist, kann man nicht ausschließen, dass ursprünglich weitere Sagas enthalten waren. Vorangestellt war vermutlich ein Prolog mit Informationen über Auftraggeber, Kompilatoren und Schreiber sowie vielleicht über die Absichten, die diese mit dem Kodex verbanden. Solche Informationen fehlen der Möðruvallabók heute, und wir sind darauf angewiesen, aus der Textsammlung selbst unsere Schlüsse zu ziehen. So erkennt man in dem Buch drei Schreiberhände, doch die Namen dieser (wohl professionellen) Schreiber sind ebenso wenig überliefert wie der Name ihres Auftraggebers. Auch wann und wo die Handschrift entstanden ist, weiß man nicht genau. Manches weist auf einen...