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Wie ein großer Staatsmann nach Abschluss seiner politischen Laufbahn sich in die Einsamkeit begibt, um hier seine Geschichte auszuarbeiten, so erkor sich der nordische Geist, als er das Ende seiner heidnischen Tage fühlte, Island zum Ruheorte, um hier mit Muße seine Memoiren zu schreiben. Nicht damit etwas Neues geschaffen, sondern damit das Alte in Sitte, Religion, Verfassung und Sprache erhalten würde, ward Island bebaut.
Diese pathetischen Sätze aus einer 1837 veröffentlichten Literarischen Einleitung in die Nordische Mythologie von Carl Koeppen fassen bündig eine Vorstellung von Island zusammen, die ihre suggestive Überzeugungskraft bis weit ins 20. Jahrhundert entfaltet und auch großen Einfluss auf die Bewertung der mythologischen Quellen gehabt hat - die Vorstellung nämlich, die Insel im Nordatlantik sei von den kulturellen und literarischen Entwicklungen im mittelalterlichen Europa vollkommen unberührt geblieben, sodass sich eben nur dort mit den Sagas und den beiden Eddas alte Überlieferungen in unverfälschter Ursprünglichkeit erhalten konnten. Namentlich im vergangenen halben Jahrhundert hat sich dieses romantische Bild vom kulturellen Rückzugsraum Island indessen gründlich gewandelt: Nicht aus Isolation oder Abschottung erklärt sich die unverwechselbare Eigenart der mittelalterlichen Literatur Islands, sondern aus den besonderen soziokulturellen Verhältnissen, die auf der Insel im Hochmittelalter herrschten.
Den Quellen zufolge wurde Island zwischen 870 und 930 besiedelt; die meisten Landnehmer stammten aus Norwegen, vor allem aus dem Südwesten des Landes, dessen Dialekte auch Ähnlichkeiten mit dem Isländischen aufweisen. Viele Auswanderer kamen aber über den Umweg von Irland und Schottland, wo sie zum Teil mehrere Generationen gesiedelt, sich mit der irokeltischen Bevölkerung vermischt und vielfach auch deren christlichen Glauben angenommen hatten. Von irischen oder schottischen Sklaven ist in den Sagas häufig die Rede, aber auch die der herrschenden Großbauernschicht entstammenden Sagahelden können irische Namen wie Kjartan oder Njáll tragen. Genetische Untersuchungen legen überdies nahe, dass vor allem viele isländische Frauen irokeltischer Abstammung sind. Die Siedler, die sich schon bald als «Isländer» definierten und sich später im Medium der Literatur dezidiert vom norwegischen Mutterland abgrenzen sollten, weisen also einen zwar nicht konkret bezifferbaren, jedenfalls aber deutlichen nichtgermanischen Anteil auf. Es ist zu erwarten, dass dieses irokeltische Element auch in die mythologischen Traditionen Islands Eingang gefunden hat: Auch aus diesem Grund erscheint es problematisch, in der Edda Mythologie sehen zu wollen.
Um 930 war die Landnahme abgeschlossen. Das Gemeinwesen, das sich damals herausbildete, ist insofern bemerkenswert, als es - einmalig im mittelalterlichen Europa - ohne König und Adel auskam. Der isländische war jedoch weniger demokratisch als vielmehr oligarchisch verfasst: Die politische und ökonomische Macht lag in den Händen einer Gruppe von gut miteinander vernetzten Großbauernfamilien. Aus diesen rekrutierten sich die etwa drei bis vier Dutzend so genannten Goden, die auf regionaler Ebene für die Rechtspflege zuständig waren und den Handel kontrollierten. Die öffentlichen Angelegenheiten, insbesondere die Rechtsprechung, wurden zweimal jährlich auf regionalen Thingversammlungen verhandelt; ferner tagte jeweils im Juni das Althing (isländisch alþingi) als zentrale Institution, auf dem von den Goden Gesetze beschlossen, Prozesse von größerer Bedeutung geführt und politische Entscheidungen getroffen wurden. Der bedeutendste dieser Beschlüsse war die Annahme des Christentums im Jahr 999 oder 1000. Die Gefahr, dass Konflikte zwischen heidnischen und christlichen Siedlern - die es ja vor dem Jahr 1000 bereits gegeben hat - zu bürgerkriegsartigen Zuständen führen könnten, wurde mit der Christianisierung ebenso abgewendet wie die Einverleibung der Insel in das norwegische Reich, dessen damaliger Herrscher, der Bekehrerkönig Olav Tryggvason (995-1000), die Missionierung Islands mit eben diesem Hintergedanken vehement betrieben hatte. Auch wird den meisten Isländern klar gewesen sein, dass ein Festhalten am alten Glauben langfristig zu einer prekären Isolation führen musste.
Es kann also keine Rede davon sein, dass eine späte oder wenig nachhaltige Mission in Island die Bewahrung heidnischer Traditionen begünstigt hätte: Im Mutterland Norwegen etwa dauerte es noch eine Generation länger, bis der neue Glaube endgültig durchgesetzt war. Wenn der Zeitpunkt der Christianisierung in diesem Zusammenhang eine entscheidende Rolle spielen würde, müsste sich die reichste mythologische Literatur in Schweden auffinden lassen, denn dort dauerte der Bekehrungsprozess in manchen Regionen bis weit ins 12. Jahrhundert. Die Bewohner der Ostseeinsel Gotland sahen sich noch zu Beginn des 13. Jahrhunderts veranlasst, in ihrem Gesetz, dem Guta lagh, einzuleitend zu beteuern: «Das ist der Anfang unseres Gesetzes, dass wir nein sagen zum Heidentum und ja zum Christentum». Mit Ausnahme einer unter anderem von den Erstbesiedlern der Insel handelnden Erzählung, die in der um dieselbe Zeit entstandenen Guta saga bewahrt ist, findet sich in der mittelalterlichen Literatur Schwedens indessen keine Spur vorchristlicher Mythen. Anders sieht es in Dänemark aus, wo wir mit Saxo Grammaticus' Gesta Danorum («Taten der Dänen», um 1215 vollendet) eine reiche Quelle nordischer Mythen besitzen - doch auch von dort führt die Spur vieler Traditionen nach Island, denn Saxo beruft sich wiederholt auf geschichtenkundige Isländer.
Wenn also - mit Ausnahme Saxos - nur in Island im Mittelalter Göttergeschichten aufgeschrieben wurden, so lässt sich dies nicht mit einem Überdauern des Heidentums erklären, für das in Island günstigere Voraussetzungen geherrscht hätten als anderswo. Im Gegenteil scheint es auf den ersten Blick, als ob Reservate der heidnischen Kultur auf der Insel mit ihrer schon recht früh gut ausgebauten Kirchenstruktur, ihren beiden Bistümern und den zahlreichen Klöstern besonders schwer denkbar wären. Andererseits ist durchaus auch in anderen Regionen Skandinaviens mit der Bewahrung von Göttergeschichten bis ins christliche Mittelalter zu rechnen, wovon eine Reihe von Balladen Zeugnis ablegt.
Dass den Götterliedern der Edda motivisch und metrisch ähnliche Traditionen im hochmittelalterlichen Norwegen bekannt waren, zeigt der sensationelle Runenfund, der 1955 nach dem Brand der Deutschen Brücke in Bergen gemacht wurde. Insgesamt 638 hölzerne Stäbe mit Runeninschriften vermitteln eine überraschende Bandbreite runischer Schriftlichkeit, die von über obszöne Sprüche bis hin zu Zitaten aus der klassischen lateinischen Literatur reicht. Einige der Runenstäbe enthalten dem Bereich von Magie und Beschwörung zuzuordnende Formeln, wie etwa die Inschrift B 380: «Sei glücklich/und guter Dinge/Thor empfange dich/Odin nenne dich sein Eigen». Diese im eddischen Metrum Galdralag (etwa «Metrum der Zaubersprüche») gehaltenen Verse zeigen deutliche Bezüge zu den Eddaliedern; sie reflektieren eher mythologisches Traditionswissen als eine heidnische Überzeugung, die im urbanen Milieu der Handelsstadt Bergen zu Beginn des 13. Jahrhunderts kaum mehr denkbar war. Andere Inschriften, die auf die Götterwelt anspielen, stellen wiederum typische Manifestationen mittelalterlichen Aberglaubens dar und haben mit Heidenglauben nichts zu tun, zeigen aber, dass die alten Überlieferungen bis zu einem gewissen Grad in den breiteren Bevölkerungsschichten durchaus noch präsent waren. Es ist durchaus umstritten, inwieweit man das überraschende Bild, das die Runen von Bryggen von der hochmittelalterlichen Alltagswelt vermitteln, verallgemeinern kann, doch darf man wohl annehmen, dass auch anderswo in Skandinavien nach der Bekehrung noch Mythen lebendig waren. Nur in Island aber wurden diese mündlichen Traditionen in die Literatur überführt.
Die Christianisierung Islands ging nicht einher mit größeren Veränderungen im sozialen Gefüge; die Eliten, die in der heidnischen Periode über die politische und ökonomische Macht verfügten und auch den Kulten vorstanden, waren dieselben, die im Laufe des 11. und 12. Jahrhunderts die zentralen Positionen der Kirche besetzten: Sie hatten die Bistümer im südisländischen Skálholt (seit 1056) und in Hólar im Norden der Insel (seit 1106) inne, wobei die Bischöfe auf dem Althing gewählt und danach erst geweiht wurden. Auch die Prioren der Klöster rekrutierten sich aus den mächtigen Familien, die auf ihren Höfen häufig Eigenkirchen errichteten und sich damit auch die Einsetzung der dort wirkenden Geistlichkeit vorbehielten. Diese bemerkenswerte Kontinuität hat das Überdauern vorchristlicher Überlieferungen zweifellos begünstigt, bedeutet sie doch, dass die tonangebenden Geschlechter die mit dem...
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