1. Als Kind wohlbehütet, aber fürs Leben zu unselbstständig
Wie nicht anders zu erwarten, begann mein Lebensweg mit der Geburt. Es war an einem Spätsommertag im September 1975, als ich in einer Kreisstadt des mittleren Erzgebirges das Licht der Welt erblickte. Aufgewachsen bin ich aber nicht dort, sondern in einem kleinen Erzgebirgsdorf in der Nähe meines Geburtsortes. Wir bewohnten ein geräumiges Einfamilienhaus mit Garten und grüner Umgebung. Mit anderen Worten: Ich wuchs auf an einem Ort, an dem sich ein Kind wohlfühlen kann. Auch an Fürsorge fehlte es nicht, denn immerhin kümmerten sich drei weibliche Wesen um mich. Neben meiner 39-jährigen Mutter gab es meine Schwestern Mareike und Ronja im Alter von 19 bzw. 15 Jahren. Der große Altersunterschied zu meinen Geschwistern verleitete mich dazu, als Kleinkind zu ihnen ebenfalls "Mama" zu sagen. Wem ist es schon vergönnt, drei Mütter zu haben? Später stellte sich heraus, dass ein solches Glück auch seine Schattenseiten hat. So wurde ich eben auch von drei "Müttern" erzogen und das in einem Stil, bei dem nicht allzu viel Freiraum für eine selbstständige Entwicklung, für das Sammeln eigener Erfahrungen blieb. Natürlich habe ich als Kind auch so manches falsch gemacht. Wer macht besonders in jungem Alter keine Fehler?
Doch mehr als bei anderen Kindern wurde jeder meiner "Fehltritte" zu Hause registriert. Dies ganz einfach deshalb, weil ich weder Kinderkrippe noch Kindergarten kennenlernen durfte.
Meine Mutter war Heimarbeiterin. Sie häkelte Babywäsche. Mein Vater arbeitete als Zimmermann auf dem Bau. Nach altem Rollenverständnis war die Mutter für meine Erziehung zuständig, der Vater ging als Haupternährer der Familie auf Arbeit. Für meine Mutter war es eine Selbstverständlichkeit, dass auch ich bis zum Schulbeginn zu Hause blieb.
Mareike und Ronja gingen der Mutter im Haushalt zur Hand und halfen tüchtig bei meiner Erziehung. Doch diese Erziehungshilfe bestand nicht selten darin, mich mit Vorwürfen zu überhäufen. Manchmal fühlte ich mich nicht als willkommener Nachzügler, sondern als Familienproblem. So bekam ich von Mareike zu hören: "Erst seitdem es dich gibt, gehen wir jeden Tag in die gute Stube. Früher hielten wir uns nur in der Küche auf und konnten so die Stube schonen."
Und Ronja hieb mit in dieselbe Kerbe: "Ja, ja, deinetwegen mussten unsere Eltern alles neu kaufen. Unsere Kindersachen hatten sie ja weggeben, denn mit dir hatte niemand mehr gerechnet. Nun geht alles wieder von vorn los."
"So ist es", setzte Mareike in solchen Situationen meist noch eins drauf, "erst seit du da bist, hat unsere Mutter weiße Haare. Sieh sie dir doch an!"
Solche Strafpredigten verletzten meine Seele, wenngleich möglicherweise alles gar nicht so ernst gemeint war. "Was kann ich denn dafür, dass es mich gibt?", fragte ich mich und weinte nicht selten still vor mich hin. Auch hatte ich das Gefühl, meine Schwestern seien neidisch auf mich. Sie verglichen ihre Kindheit mit der meinen. So besaß ich eine tolle Puppenstube, die zu Weihnachten im hellen Lichterglanz erstrahlte. Auch ein kleiner Kaufmannsladen gehörte zu meinen Spielsachen ebenso wie ein luftbereifter Roller und eine gepolsterte Schaukel, auf der ich mich im Garten vergnügte. Im Unterschied zu mir besaßen meine Schwestern in ihrer eigenen Kindheit, die damals schon eine ganze Zeit zurücklag, nur einen Holzroller und eine Schaukel, die lediglich aus einem Holzbrett bestanden hatte. Irgendwie hatte ich das Gefühl, ich müsse mich für meine besseren Spielsachen entschuldigen.
Möglicherweise lag es aber auch an meiner großen Sensibilität. Doch diese Schwäche wurde durch solche Bemerkungen nur noch verstärkt.
Natürlich gab es in meiner daheim verbrachten Vorschulzeit auch freudige Momente. Gern erinnere ich mich an die Stunden, in denen mir meine Mutter vorlas oder mein Vater Märchen erzählte. An Winterabenden spielten wir ab und zu Mensch ärgere dich nicht. Diese Stunden familiärer Gemeinsamkeit habe ich immer sehr genossen. Im Winter fuhr meine Mutter mit mir Ski, bis sie eines Tages stürzte und aus Angst vor einem neuen Sturz das Skifahren aufgab. Daraufhin stieg ich auf den Schlitten um. Im Sommer hatte ich auch meinen Spaß, wenn ich als Sozius auf dem Moped meines Vaters Platz nehmen durfte und er mit mir durch die Gegend fuhr. Im Garten betreute ich ein eigenes Beet, das ich mit Gartenkresse bepflanzte. All das hat mir schon gefallen.
Aber da waren immer wieder Momente, die mich kränkten. Meine Schwestern hatten bereits in jungen Jahren eine Vorliebe für Handarbeiten. Sie häkelten, strickten, stickten und nähten gern, womit ich mich überhaupt nicht anfreunden konnte. Ich zog es vor, im Sommer ins Schwimmbad zu gehen, wovon meine Geschwister wiederum gar nichts hielten. Meine Mutter wunderte sich nur, wie ich bei gleicher Erziehung doch so ganz andere Interessen haben konnte. Offensichtlich stellte ich mich bei den Handarbeiten auch recht ungeschickt an, sodass meine Mutter schließlich resigniert aufgab. Schon fühlte ich mich wieder schuldig, weil ich ihren Erwartungen in dieser Frage nicht entsprach.
Ich erwähnte bereits, dass mein Vater als Zimmermann auf dem Bau arbeitete. Als Hauptverdiener stellte er seine Arbeit über alles andere. Deshalb war er auch selten zuhause. Ich habe ihn als Kind sehr vermisst. War er einmal daheim, so kümmerte er sich weniger um mich als um sein Hobby. Das waren seine Haustiere. Ich fühlte mich von ihm vernachlässigt. In dem Zusammenhang erinnere ich mich an einen meiner Geburtstage. Es war der zwölfte. Von Herzen wünschte ich mir, er möge sich wenigstens an diesem Tag einmal für mich Zeit nehmen, so wie das in der Vergangenheit doch zumindest hin und wieder der Fall gewesen war. Aber was bekam ich von ihm zu hören? "Soll ich neben dir sitzen und etwa Händchen halten?"
Diese Bemerkung hat mich zutiefst verletzt und zugleich verunsichert, denn ich kam in meiner kindlichen Naivität zu dem Schluss: Ein vertrautes Nebeneinandersitzen ist also ein Zeichen von Schwäche. Schwäche aber darf man nicht zeigen. Erst viel später habe ich erfahren, wie heilsam und wohltuend es sein kann, wenn jemand da ist, der in einer schwierigen Situation die Hand hält. Wer mir dafür die Augen öffnete, war ein Sanitäter, der mich in späteren Jahren nach einem verheerenden Wohnungsbrand betreute. Er zeigte mir, dass man getrost auch einmal schwach sein darf. Doch bis zu dieser Erkenntnis durchlebte ich noch so manch psychisches Tief.
Dass ich als Kind nicht auch einmal schwach sein sollte, hatte ich mir zum Teil selbst verordnet. Ich wollte pflegeleicht sein, keine Umstände machen. Darunter litt auch mein Verhältnis zu den Großeltern, die schon im fortgeschrittenen Alter waren, als mich meine Mutter gebar. Ich erlebte Oma und Opa nie als zweites Elternpaar wie meine beiden älteren Schwestern, die bei Oma und Opa auch mal in den Ferien weilten. Für mich hieß es immer nur schön leise und artig zu sein, wenn wir sie einmal besuchten.
Auch zu Hause hatte ich das Bedürfnis zu funktionieren, was nicht immer gelang. Meine Schwester Ronja drohte in solchen Situationen sogar mit den Worten: "Wenn du nicht machst, was unsere Mutter sagt, dann kommst du ins Heim. Für die Schule bekommst du dann einen alten Ranzen, den vor dir schon viele Kinder benutzt haben." Die Angst, die mich bei ihren Worten beschlich, habe ich regelrecht verinnerlicht. Selbstvertrauen und Selbständigkeit blieben auf der Strecke, zumal ich keine Aufgaben, keine Verantwortung bekam, woran ich hätte wachsen können. Ich wurde ganz einfach nicht mit in die häusliche Verantwortung einbezogen. Kein Wunder, dass dann im Ernstfall auch manches danebenging. Als ich 15 war - meine Schwestern waren schon lange verheiratet und aus dem Haus - wurde meine Mutter eines Tages krank, sodass sie im Haushalt meine Hilfe brauchte. Wir hatten Wäsche und die musste auf die Leine, die zunächst zu spannen war. Dabei stellte ich mich offenbar sehr tollpatschig an. Warum? Ich stand vorher nie vor einer solchen Aufgabe. Weder war mir das Spannen einmal gezeigt noch das Wäscheaufhängen übertragen worden. Also ging es bei der ersten Bewährungsprobe schief, wofür mich meine Mutter in rauem Ton anherrschte. "Du bist aber auch zu allem zu dämlich", sagte sie wörtlich.
Ich erinnere mich so genau an diese Situation, weil mir ihre schroffen Worte sehr wehgetan haben. Es war weniger ihre Kritik, die mich verletzt hatte, wohl aber ihre Wortwahl, denn dadurch fühlte ich mich für die häusliche Arbeit als unfähig abgestempelt.
Doch drehen wir die Zeit erst einmal wieder bis zur Einschulung zurück. Ich sagte schon, dass mir das Erlebnis Kindergarten versagt blieb. Dabei wäre ich zumindest das letzte Jahr vor Schulbeginn gern dorthin gegangen, um mit Gleichaltrigen zusammen zu sein. Aber meine Mutter wollte das nicht. So hatte ich es als de facto Einzelkind zunächst schwer, mich in den Schulalltag einzugewöhnen und allein in der Außenwelt zurechtzufinden. Als dann eines Tages die Werklehrerin auch noch sagte "Dass du nicht im Kindergarten warst, merkt man, denn du bringst nichts", deprimierte mich das sehr. Glücklicherweise fand ich Trost bei Luise, einem freundlichen und aufgeschlossenen Mädchen, mit dem ich in der ersten Klasse zusammensaß. Unser Klassenleiter hatte das so veranlasst. Ich sollte durch Luise etwas lebhafter und sie durch mich etwas...