Schweitzer Fachinformationen
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Prolog
Sonntag, 27. August 1995
Der Abend, der alles veränderte, war ein ganz gewöhnlicher Sonntagabend. So wie alle anderen Sonntagabende auch, an denen Dennis Schäfer kurz nach 21 Uhr seine Wohnung im Süden Frankenthals verließ.
Sein Weg führte ihn zu seinem Arbeitgeber, einer großen internationalen Spedition in Ludwigshafen, für die er mit seinem Tiefkühltransporter Waren durch ganz Europa transportierte.
Fünf Tage war er zumeist unterwegs mit langen Fahrten auf Hunderten Kilometern eintönigem Asphalt, einsamen Fernsehabenden in seinem Führerhaus auf verwahrlosten Rastplätzen ohne Duschen und funktionierenden Toiletten und schlechtem Handyempfang, um sich bei seinen Liebsten zu melden. Wenn er überhaupt eine Verbindung herstellen konnte, was in den meisten europäischen Ländern nicht der Fall war. Dafür war er dann wenigstens am Wochenende zu Hause, was ihn für all diese Strapazen entschädigte. Und zu Hause, das bedeutete, bei seiner Frau Jessica und seiner kleinen Tochter Lilly zu sein, die nach den langen Sommerferien gerade erst seit wenigen Tagen wieder in den Kindergarten ging.
Lilly, meine kleine Prinzessin, dachte er wehmütig und musste sich zusammenreißen. Nicht schon wieder über das Für und Wider seines Jobs nachdenken. Über die vielen Stunden, in denen er nicht bei ihr sein und sie aufwachsen sehen konnte. Wenn er die Stunden zusammenrechnete, die er nicht zu Hause bei seiner Familie war, dann ergaben sie schon mehr als ein halbes Jahr. Am liebsten würde er sofort umkehren.
So, wie er es am Abend vor ihrem vierten Geburtstag getan hatte, vor knapp sechs Monaten. Wie immer hatten sie miteinander telefoniert, so gut es eben ging - er war längst auf der Autobahn Richtung Spanien unterwegs gewesen -, und sie hatte ihm von ihrem Geburtstag erzählt, von ihren Freundinnen, die alle in ihrem Wohnblock lebten und die morgen alle mit ihr feiern würden. Vom Schokoladenkuchen, den Mama zum ersten Mal für sie backte. Und von seinem Geschenk, das er ihr schon gezeigt hatte, das sie aber erst am nächsten Morgen nach dem Aufstehen und Zähneputzen öffnen durfte. Er konnte sich jetzt noch sehr gut daran erinnern, wie aufgeregt sie gewesen war, und er wusste, dass es nicht nur an der Größe seines Geschenks lag, das er sehr vorsichtig in Zeitungspapier eingewickelt hatte.
Eigentlich hatte er seine Überraschung schön einpacken und mit buntem Glitzer und roten Herzen verzieren wollen, doch seine Frau hatte ihm empört einen Vogel gezeigt und gemeint, er solle bloß kein teures Geschenkpapier kaufen, das nach dem Auspacken sowieso nur weggeworfen werden würde. Das Geld brauchen wir für Lillys Schuhe, einen neuen Staubsauger oder den nächsten Einkauf, hörte er auch jetzt noch ihre Worte nachklingen.
"Schade, dass du nicht da bist, Papi. Aber ich werde dir morgen Abend alles erzählen. Versprochen!", hatte Lilly gesagt und mit einem "Hab dich lieb!" das Telefonat beendet.
Er war dann noch knapp 20 Kilometer weitergefahren, mit Tränen in den Augen, einen weiteren Geburtstag seiner Tochter nicht miterleben zu können, ehe er die nächste Ausfahrt genommen, seinen Truck gewendet hatte und zurück nach Hause gefahren war.
Kurz nach 23 Uhr hatte er Lilly dann völlig übermüdet, aber überglücklich aus ihrem Kinderbett gehoben und sie fest an sich gedrückt, um dann mit seiner Tochter in ihren Geburtstag hineinzufeiern. Sie hatten gemeinsam Kuchen gegessen - er hatte vorher noch schnell einen kleinen eingeschweißten Kuchen von der Tankstelle besorgt -, Fangen und Versteck-Dich gespielt und gekuschelt. Doch am schönsten war ihre überschwängliche Freude gewesen, als sie um kurz nach Mitternacht endlich ihr Geburtstagsgeschenk auspacken durfte. Das übergroße Plüschpferd mit braunem Fell, weißer Blesse und schwarzem Schweif hatte er für sie vor gut einem Jahr auf dem Strohhutfest geschossen und bei einem Kumpel versteckt, damit seine kleine vorwitzige Tochter es nicht schon vor ihrem Geburtstag entdecken würde.
"Papi, Papi, ein Pferd, ich habe ein Pferd", hatte sie gerufen und war wie ein kleiner Gummiball durch die Wohnung gehüpft. Ihm jagte heute noch eine Gänsehaut über den Körper, wenn er sich daran zurückerinnerte, wie sehr sie sich an das Pferd aus Kunstfell geschmiegt hatte. Er wusste, er würde ihr niemals ein Pony, vielleicht nicht einmal Reitstunden, schenken können, aber dann sollte sie wenigstens das schönste und größte Plüschpferd der Welt besitzen.
So war er erst gut vier Stunden später als geplant losgefahren und im weiteren Verlauf gar mit einer Verzögerung von fast zehn Stunden auf der iberischen Halbinsel angekommen, was verärgerte Kunden in Spanien, eine Ausfallgebühr für die Spedition und eine Abmahnung für ihn bedeutet hatte.
Dabei war eine Abmahnung gerade das, was sich seine kleine Familie am allerwenigsten leisten konnte. Der nächste, auch noch so kleine Vorfall würde seine Entlassung bedeuten, so hatte es sein Chef sehr deutlich formuliert. Sie waren angewiesen auf das Geld, das er verdiente. Seine Frau und er hatten keine Ausbildung und sie hatten sich immer mit Gelegenheitsjobs und Aushilfstätigkeiten durchgeschlagen, ehe sie schwanger geworden war und er vor mittlerweile drei Jahren diese Arbeit als Fernfahrer angenommen hatte.
Sollen sie mich doch rausschmeißen! Ich würde es immer wieder tun, dachte er an Lillys Geburtstag zurück und wählte die Nummer von zu Hause. Vielleicht verlier' ich meinen Job, dachte er, aber meine Tochter verlier' ich nie.
"Hi, ich bin's", begrüßte er Jessica, die wie immer leicht gehetzt klang.
"Geh' mal ran, da ist wer für dich", hörte er sie dann auch sagen, ehe sie den Hörer direkt weiterreichte.
"Kommst du schon wieder nach Hause?", fragte Lilly erfreut.
"Ich bin doch gerade erst losgefahren und wollte dir nur schnell noch mal 'Gute Nacht' sagen."
"Wohin fährst du denn?"
"Nach Spanien", sagte Dennis und setzte den Blinker, um seinen Laster auf die Abbiegespur zu lenken, die ihn von der Autobahn 61 auf die Autobahn 65 und damit weiter in die Südpfalz und dann Richtung Frankreich führte. "Bis kurz vor Afrika."
"Bringst du mir was mit?"
"Lilly!", rief Jessica dazwischen, aber Lilly ließ sich vom genervten Zwischenruf ihrer Mutter nicht beirren: "Ja, Papi? Bitte!"
"Und was hättest du gerne?"
"Ein Pferd!"
"Aber du hast doch schon eins."
"Ein echtes Pferd, Papi. Das mäht ..."
"Du meinst wiehert." Dennis musste grinsen. "Ein Pferd passt doch gar nicht in meinen Lkw oder soll es erfrieren?"
"Dann ein Pony."
Dennis lachte auf.
"Ein kleines Pony, zum Kuscheln." Seine Tochter ließ nicht locker.
"Jetzt ist es aber gut!", hörte er erneut seine Frau aus dem Hintergrund.
"Versprichst du es mir, Papi? Bitte!", schob Lilly noch schnell hinterher, ehe ihr der Hörer aus der Hand gerissen wurde.
"Fertig machen, Lilly. Es ist Heia-Zeit. Morgen ist wieder Kindergarten. Und Zähne putzen nicht vergessen."
"Jessy ..."
"Nichts Jessy! Du musstest ja auch heute unbedingt mit ihr zum Ponyhof."
Auch durch den Hörer konnte er sehen, wie Jessica die Augen rollte.
"Sie war so glücklich ..."
"Ich brauche jetzt wieder Tage, ihr diesen Floh aus dem Ohr zu holen. Ich bin mit ihr die Woche über allein, während du dich vor solchen Dingen drücken kannst."
"Jessy, das ist jetzt unfair."
"Ist doch wahr! Ich kann manchmal einfach nicht mehr."
"Wegen eines Ponys?" Dennis lachte erneut. Aber es klang gequälter als noch wenige Augenblicke zuvor.
"Warum will mich nur niemand verstehen?!" Er hörte, wie Jessica resigniert durchschnaufte, dabei hatte er sie nur etwas necken wollen. Ihr die Leichtigkeit zurückgeben wollen, die er so an ihr liebte. Geliebt hatte.
"Wir beide wissen doch ganz genau, woher sie das hat. Du wolltest doch auch immer ein Pferd haben, als du ein kleines Mädchen warst."
"Das war doch ganz was anderes. Damals, Dennis! Wir waren Kinder und saßen im Sandkasten. Aber ist ja auch egal. So, Lilly, und du sagst jetzt 'Gute Nacht' und dann heißt es ab ins Bett. Es wird höchste Zeit und morgen geht's wieder früh raus."
"Tschüss, Papi", hörte er im Hintergrund Lilly schreien, während sich das Rauschen der Toilettenspülung unter ihren Abschied mischte.
"Lilly, Hände waschen nicht vergessen, Lilly!", brüllte plötzlich Jessica in sein Ohr.
"Und nein, es wird jetzt keine Schokolade mehr gegessen, junges Fräulein. Lilly! Warte, Fräulein, wenn ich dich erwische ..."
"Lass sie doch!"
"Dennis, ich muss jetzt ... Deine Tochter bringt mich noch um ..."
Jetzt ist sie wieder meine Tochter, dachte er, und jetzt war er es, der tief Luft holen musste, ehe er sagte: "Drück' sie noch mal ganz lieb von mir." Aber da hörte er bereits das Besetztzeichen im Telefon.
Ja, Lilly konnte einem wirklich alles abverlangen. Mit einem Lächeln konzentrierte er sich jetzt wieder auf die Straße. Die A 65 war kaum befahren. Wie so häufig an einem Sonntagabend. Die Hauptrouten für Brummis waren andere Autobahnen. Diese Autobahn diente lediglich als Zubringer nach Karlsruhe und weiter nach Stuttgart, München und zum Balkan. Sein Ziel lag jedoch auf der anderen Seite Europas und er würde an der Ausfahrt Kandel Süd und einem kurzen Stück über die Bundesstraße 9 auf die französische Autobahn 35...
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