SELBSTWAHRNEHMUNG UND -REFLEXION
Ein konsequenter Umgang mit dem eigenen Hund ist ein fairer Umgang. Konsequenz ist berechenbar und gibt Sicherheit. Doch um herauszufinden, in welchem Bereich wir mit unserem Hund noch klarer und konsequenter sein dürfen, müssen wir unsere ehrliche Selbstwahrnehmung einschalten. Nur, wie können wir uns selbst trainieren, um in unserer Selbstwahrnehmung immer besser zu werden?
Wahrnehmung anderer
"Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist grün!"
Meine beiden Töchter lieben dieses Spiel, besonders auf langen Autofahrten, wenn wir im Stau stehen. Löst sich der Stau nach einer Weile auf und die Fahrt gewinnt wieder an Geschwindigkeit, erhöht sich auch der Schwierigkeitsgrad dieses Spiels erheblich, da man sich mit dem Raten beeilen muss, weil das gemeinte Objekt jeden Moment vorbeihuschen kann. Kinder kündigen das Spiel an, wenn sie es spielen wollen. Wir Erwachsene sind anders: Wir alle spielen dieses Spiel in der Gegenwart anderer oft unbewusst, meist ohne Ankündigung und viel zu selbstverständlich. Besonders wir Hundehalter sehen mehr als andere. Lass es mich erklären.
Dir fällt es bestimmt auf, wenn du jemanden siehst, der mit seinem Hund unfair umgeht, ungeduldig wird, gereizt reagiert oder gar brutal mit ihm wird. Sicher fallen dir auch Details auf, z.?B. wenn jemand mit seinem Hund ungenauer wird und ihm widersprüchliche Signale gibt, ihn verwirrt oder verunsichert. Überraschenderweise sind wir richtig gut darin, die Fehler oder bestimmte Verhaltensweisen bei anderen zu erkennen und zu benennen. Es ist schon fast ein gesellschaftliches Phänomen, ganz nach dem Motto: "Der liebe Gott sieht alles, aber die Nachbarn sehen mehr!"
Wahrnehmung von sich selbst
Doch wie sieht es bei einem selbst aus? Siehst du bei dir selbst, jeden Tag, in jeder Situation, wie du mit deinem Hund umgehst? Bemerkst du, welchen Ton du bei deinem Hund anschlägst? Bemerkst du immer, wenn du ungenaue Anweisungen gibst, unfair bist oder gar verwirrend auf deinen Hund wirkst? Seien wir mal ehrlich, wahrscheinlich nicht.
Oft sind wir Menschen innerlich sehr abgelenkt. Es fällt uns gar nicht ein, unser Handeln, Fühlen und Denken zu hinterfragen, ganz zu schweigen davon, uns aus der Sicht unseres Hundes wahrzunehmen. Jeder möchte mit seinem Hund freundlich umgehen und ihm gerecht werden, auch in der Kommunikation. Der eigene Hund ist uns wichtig, er ist Teil der Familie, Teil unseres Alltags und liegt uns am Herzen. Doch gibt es Situationen, da kommt das Leben einfach dazwischen und alle guten Vorsätze wie Fairness, Geduld und Klarheit werden innerhalb eines Augenzwinkerns über Bord geworfen.
UNTER ZEITDRUCK
Vielleicht sind wir unter Zeitdruck, dann muss alles "schnell-schnell" gehen. Auch unser Hund soll bitte schön jetzt zügig und schnell unserer Anweisung Folge leisten. Auf unsere Hektik reagiert unser Hund auf jeden Fall, nur nicht so, wie wir es uns in diesem Moment wünschen. Denn meist antwortet der Hund mit Beschwichtigungsverhalten und wird daraufhin langsamer in seiner Bereitschaft, uns zu folgen. Er vermeidet Blickkontakt, lässt sich viel Zeit, macht Umwege auf dem Weg zu uns, schnuppert mehr und tut so, als wären wir nicht da. In unserer zeitlich knappen Wahrnehmung scheint es, als würde er absichtlich versuchen, die Zeit in die Länge zu ziehen. Der Gedanke, dass wir unserer Zeit beraubt werden, macht uns kribbelig. Ungeduld macht sich breit, unsere Anweisungen werden ungenau, unser Ton wird unangenehm und wir werden inkonsequent.
Der Hund reagiert daraufhin mit noch mehr Zögern, Verwirrung, Verunsicherung oder sogar Ablehnung. Dann kommt der Moment, in dem der Hund gewisse "Knöpfe" bei seinem Hundehalter drückt. Wir werden emotional und gestresst, vielleicht sogar wütend und reagieren gereizt. Dieses Gefühlschaos des gegenseitigen Verunsicherns, Gestresst- und Enttäuscht-Seins zieht sich immer wieder durch die Kommunikationsebenen mit unserem Hund.
STRESS MACHT UNGEDULDIG
In stressigen Situationen verlieren wir oft den guten Ton. Unsere Selbstwahrnehmung ist dann taub und blind zugleich. Wir merken gar nicht, dass wir mit unserem gehetzten und ungeduldigen Verhalten bedrohlich auf unseren Hund wirken. Unser erlebter Stress verhindert zu erkennen, dass wir selbst der Grund sind, warum unser Hund nicht so gut folgt, wie wir es uns wünschen. Diese Erkenntnis könnte uns in Zukunft helfen, uns selbst bewusster wahrzunehmen. Das allerbeste Mittel, um sich in Hundeführung und im Hundetraining zu verbessern, ist der Blick auf sich selbst, auf das eigene Verhalten. Bevor du das fehlende kooperative Verhalten deines Hundes persönlich nimmst, nimm es als Aufforderung, dich aus der Sicht deines Hundes wahrzunehmen.
Hunde sind sensationelle Lehrmeister für unsere Selbstwahrnehmung.
Das gilt nicht nur für Beschwichtigungsverhalten von Hunden, sondern auch für alle Verhaltensweisen deines Hundes, die dir als "schwierig" erscheinen. Je mehr uns der Hund mit seinem Verhalten anstrengt und wir in Stress geraten, umso eher ist es ein Hinweis darauf, dass es an Klarheit, Konsequenz und Ordnung in der Kommunikation unsererseits fehlt. Unsere Hunde reagieren auf uns stets unmittelbar und ehrlich und sind somit großartig darin, die Auswirkung unseres Verhaltens zu spiegeln. Denn seien wir mal ehrlich: Geben wir unserem Hund eine Anweisung, dann sind wir es, die etwas vom Hund wollen und nicht umgekehrt. Da ist es nur fair, dass wir es so vermitteln, dass unser Hund uns versteht und der Anweisung auch folgen kann.
DER BLICK VON AUSSEN
Fast jeder meiner Kunden erzählt mir in der ersten Trainingsstunde, was für "Themen" er mit seinem Hund hat, was ihn am Verhalten seines Hundes stört und warum er es ändern möchten. Gleich danach folgen Aussagen wie: "Ich habe den Verdacht, dass es an mir liegen könnte, dass mein Hund nicht richtig folgt. Doch weiß ich nicht, was ich anders machen soll. Deshalb bin ich hier".
Manchmal reicht es schon, wenn dich jemand darauf aufmerksam macht, was deinen Hund gerade verunsichert oder verwirrt. Dabei kann ein Hundetrainer, der einen offenen und fachkundigen Blick auf dein Verhalten mit deinem Hund wirft, eine gute Hilfe sein. Vier Augen sehen mehr als zwei!
Mein Mann führt schon eine Ewigkeit Jagdhunde, trainiert sie und bildet sie aus. Ich bin ebenfalls mit Hunden in einer Jägerfamilie mit integrierter Jagdhundezucht groß geworden und trainiere Menschen und ihre Hunde schon mein halbes Leben. Da möchte man meinen, dass wir jeden Tag in jeder Minute einen hoch professionellen Umgang mit unseren Hunden ausüben. Um ganz ehrlich zu sein, sind auch wir nur Menschen, haben ein Leben mit Höhen und Tiefen und erleben gute und schlechte Tage, so wie jeder andere Hundehalter auch. Aber wir beide sind froh darüber, uns gegenseitig zu haben, wenn es darum geht, uns auf den ein oder anderen Umgangs-Fauxpas mit unseren Hunden aufmerksam zu machen.
Auch Profis nehmen diese Hilfe in Anspruch. So haben beispielsweise Profisport-Reiter, die für die Olympiade mit ihren millionenschweren Pferden die höchste Kunst der Dressur vorführen, einen Trainer, der von außen regelmäßig einen Blick auf Reiter und Pferd wirft.
Unstimmigkeiten erkennen
Macht uns jemand auf eine Unstimmigkeit in unserem Verhalten aufmerksam, können wir es selbst wahrnehmen und die Situation in Zukunft verbessern. Denn manchmal haben wir uns eine Angewohnheit zu eigen gemacht, die für uns selbst unsichtbar geworden ist, aber uns daran hindert, Erfolg im Umgang mit dem eigenen Hund zu haben.
Hat man keinen Menschen mit passendem Blick oder Fachwissen zur Hand, dann kann es eine gute Hilfe sein, wenn man sich von einer Spaziergang-Begleitung im Umgang mit seinem Hund filmen lässt. Ein Vorteil unserer heutigen Smartphone-Technik ist, dass jeder eine Kamera bei sich führt. Hierzu fällt mir ein passendes Erlebnis auf einem meiner letzten Workshops ein.
Aus der Praxis
Auf einem meiner Hundeworkshops haben wir in der Pause alle Hunde der Teilnehmerinnen auf einer großen Wiese im späten Herbst frei laufen lassen. Einige haben gespielt, die anderen waren mit Schnuppererkundungen zugange. Eine Teilnehmerin hatte aus Spaß ihren spielenden Hund gefilmt, als eine andere Dame ihre Bracke aus der Gruppe heranrief. Ihr Hund hatte zuerst gar nicht auf ihr Rufen reagiert. Nachdem sie ihre Bracke wiederholt ansprach und das Kommando gleich viermal wiederholen musste, bis ihre Hündin sich entschloss, zu ihr zu kommen, verging einige Zeit. Doch alles wurde dabei auf Kamera festgehalten. Später wurden alle Fotos und Videos unter den Teilnehmern ausgetauscht und die Dame mit der Bracke sah sich und ihren Hund auf Film. Ihre Augen wurden immer größer und sie schlug ihre Hände über ihrem Kopf zusammen und sagte laut: "Um Himmels willen, warum hat mir denn keiner gesagt, wie hysterisch ich mich in Wirklichkeit anhöre, wenn ich meinen Hund zu mir rufe?!" Diese Erkenntnis über ihren eigenen Ton ihrem Hund gegenüber hatte ihre Selbstwahrnehmung diesbezüglich enorm geschärft. Sie setzte sich selbst zum Ziel, in Zukunft auf ihren Ton zu achten und ihn zu verbessern. Vor allem erkannte sie, dass auch sie nicht bei solch einem hysterischen und...