Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Ein kleines Porträt von Klaus Reichert
Seinesgleichen gab es nicht noch einmal in diesem Land. Er war ein Intellektueller vom Schlage Börnes, ein Gelehrter, der ein Dutzend Sprachen las, ein gefürchteter Kritiker, weil seine Urteile aus Sachverstand und historischem Wissen stammten. Er war ein Querdenker, ein Widerspruchsgeist, zornig, bissig, ein Polemiker aus Liebe und Leidenschaft, von dem sich immer wieder neu lernen ließ, was es heißt, selber zu denken. Er vertrat niemandes Position außer der eigenen, und die gründete in einer Vernunft, die mehr mit Diderot und den französischen Enzyklopädisten zu tun hatte als mit irgendwelchen Ideologien oder deren angesagter Kritik aus dieser oder jener Ecke. Er war für nichts und von niemandem vereinnehmbar, ein freier, unabhängiger Geist und ein meisterhafter Stilist.
Walter Boehlich war Verlagslektor, Übersetzer, politischer Publizist, genauer Kenner der unseligen Geschichte der Germanistik, für die sich vor '68 noch kaum jemand interessierte, Polemiker gegen die deutschen Formen der Lexikographie (etwa des >Grimm<), denen er die gelungenen Wörterbücher der Dänen, Spanier und Engländer gegenüberstellte, Entdecker vergessener Seiten der deutschen Geschichte. Doch am bekanntesten war er wohl als Literaturkritiker - ganz früh, in den vierziger Jahren, im Merkur, dann in der Zeit, in der Süddeutschen, in der Frankfurter Rundschau, später in der Titanic: immer auf den Gegenstand bezogen, immer überprüfbar, das heißt ohne Gefälligkeiten, ohne Geschmacksurteile, ohne Literaturpolitik betreiben zu wollen, dabei oft erbost über die Leichtfertigkeit, mit der jemand es wagte, kenntnislos zu schreiben, zu übersetzen, zu kommentieren. Wenn er etwas nicht wußte, ruhte er nicht, bis er es wußte - welcher Rezensent gibt sich solche Mühe? - und machte die Arbeit, die ein Autor, ein Übersetzer sich hätte machen sollen.
Ich entsinne mich einer langen Rezension der deutschen Ausgabe von Gertrude Steins Drei Leben in den späten fünfziger Jahren - es war die erste längere Arbeit überhaupt, die über diese Autorin in Deutschland erschien -, in der er dem Übersetzer erst einmal geduldig die unverstandene Struktur des Buches erklärte, um dann zu einem großen Verriß auszuholen, der um so plausibler war, als er das Verfehlte immer wieder mit einer gelungenen Übersetzung, der von Cesare Pavese, kontrastierte. Dem gegenüber, was heute so eilig und eifernd an Übersetzungen rezensiert wird - denn eine Übersetzungskritik, die diesen Namen verdient, gibt es bis heute nicht -, sind Walter Boehlichs Besprechungen Kabinettstücke der Gelehrsamkeit - oder schlicht: der Bildung -, die man vielleicht nicht gleich bemerkt, weil sie in der Eleganz seines makellosen Stils aufgegangen ist.
Unbestritten, wenn auch erst spät gewürdigt, ist seine Leistung als Übersetzer aus einem halben Dutzend Sprachen. Sieht man ab von Kierkegaards Briefen und Debrays Chilenischem Weg, hat er nur Werke der sogenannten schönen Literatur übersetzt, deren Tod - wie solche, die sich nur von Gerüchten nährten, behaupteten - er verkündet haben soll: Giraudoux und Duras, Bang, Blicher, Söderberg und Karen Blixen, Valle-Inclán und Ramón J. Sender, den er für das deutsche Publikum entdeckte. Wer nur den scharfen Kritiker kannte, staunte über die Zartheit und Leichtigkeit, mit der er etwa den dänischen Sommer des für unübersetzbar geltenden Herman Bang nachgeschaffen hatte. Der letzte große Roman, den er übersetzte, war Virginia Woolfs Mrs Dalloway. Es war erstaunlich mitzuerleben, welche Mühe er jahrelang auf sich nahm, um bis in die kleinsten Verästelungen hinein den so schwer zu treffenden Ton zu finden und dabei, Satz für Satz, dem Original treu zu bleiben.
Und dann seine Tätigkeit als Herausgeber - die Briefe Prousts zu seinem Werk, Kardinal Retz, Gutzkow, Gervinus, David Friedrich Strauß, die von ihm betreute Bibliothek Suhrkamp, später eine Romanreihe bei Rowohlt. Vor allem galt sein - darf man sagen: geradezu existentielles - Interesse der Herausgabe übergangener oder verdrängter, nicht zur deutschen Nationalgeschichte zählender historischer Schriften aus dem 19. Jahrhundert. Mehrfach aufgelegt wurde seine Dokumentation des Berliner Antisemitismusstreits von 1880, der mit dem Namen Treitschkes und, auf der Gegenseite, dem Mommsens verbunden ist. Er wies nach, daß der Antisemitismus, damals schon akademisch vielerorts abgesichert, als Waffe in politischen Interessenzusammenhängen benutzt wurde, die mit Antiliberalismus, Antisozialismus, Antiemanzipation, Gegenaufklärung usw. gekoppelt waren. Aber er konnte auch zeigen, mit welcher Empörung, damals noch, viele von Treitschkes auch nicht-jüdischen Kollegen auf seine Judenhetze (»Die Juden sind unser Unglück«) reagierten. Der Streit hätte ein Exempel sein können für das, was '33 kam beziehungsweise nicht kam. - Das zuletzt herausgegebene Werk, an dem er mit großer Liebe hing, kam wieder aus einer anderen Ecke: es war der Briefwechsel des jungen Freud mit seinem Freund Silberstein, der zum Teil auf spanisch geschrieben ist, das die Jünglinge zu lernen versuchten. Hier mußte entziffert werden, gemutmaßt, was gemeint sein könnte, übersetzt, kommentiert. Mit detektivischem Scharfsinn und der Hartnäckigkeit eines Gelehrten, wie es ihn heute nicht mehr gibt, in jahrelanger Kleinstarbeit, fand und verfolgte er die Spuren und konnte manche biographische Lücke schließen.
Schließlich ist an den politischen Kommentator zu erinnern, der in seinen Beiträgen für den Westdeutschen oder den Hessischen Rundfunk, für Konkret oder Titanic Dinge sagte, wie man sie in solcher Klarheit der Argumentation anderswo nicht hören oder lesen konnte. Er nahm zur Wiedervereinigung ebenso Stellung wie zu Urteilen des Bundesverfassungsgerichts, zu Fassbinders angeblich antisemitischem Stück wie zum Fahneneid der Bundeswehr, zur Politisierung der Frankfurter Buchmesse 1967 wie zur Boykottierung der Leipziger, deren Land er, zur Empörung vieler, nicht in Anführungszeichen setzte, zu den Notstandsgesetzen in den sechziger Jahren ebenso wie zu der von oben angemaßten verunglückten Rechtschreibreform in den Neunzigern. Nie ließ sich von seinen Kommentaren vorhersagen, in welche Richtung er argumentieren würde. Er legte sich mit den Linken ebenso an wie mit den Rechten und der Grauzone dazwischen. Liest man heute Walter Boehlichs Kommentare in ihrer chronologischen Folge, ergibt sich ein ganz anderes Bild der politischen Geschichte der Bundesrepublik als das in den überregionalen, >meinungsbildenden< Blättern vertretene.
Leidenschaft, Zorn und die unerschöpfliche Geduld im Erklären, in der Hoffnung auf Vernunft - sie gründen in den drei großen Traumen seines Lebens (die er so nicht genannt hätte, weil es ihm widerstrebte, persönliche Erfahrungen publik zu machen). Für den am 16. September 1921 in Breslau als Zwilling Geborenen war die Nazi-Barbarei die erste Erschütterung. Er wurde zur Infanterie eingezogen, aber bald wegen Wehrunwürdigkeit (seine Mutter war Jüdin) wieder entlassen und wurde Automechaniker, was ihm später nichts nützte, weil er nur Holzvergaser reparieren konnte. Nebenher studierte er als Gasthörer (einschreiben durfte er sich ja nicht) Germanistik, Geschichte und Kunstgeschichte. Ein paar mutige Professoren - Paul Merker, Will-Erich Peuckert - ließen ihn in ihren Fachzeitschriften publizieren. Im Februar '45 verließ er auf dem Fahrrad die >Festung Breslau< und geriet bei einer Tante in Dresden in die Bombardierung am 13. Februar.
Nach dem Krieg nahm er das Studium in Hamburg wieder auf und wurde danach - ohne Examen - Assistent des großen Romanisten Ernst Robert Curtius in Bonn, den er bei keiner Erwähnung des Namens »meinen verehrten Lehrer« zu nennen vergaß. (Als er sich Curtius vorstellte, wurde er gefragt, welche Sprachen er könne. Er nannte ein halbes Dutzend. »Und wo ist Ihr Spanisch?« Also war das noch zu lernen.) Curtius, das hieß gründlichste philologische Ausbildung in vielen Sprachen, älteste und neueste Literatur, von Dante und dem Rosenroman bis zu Proust, Joyce und Eliot, Valéry, Ortega und Dámaso Alonso. Bonn hieß - die zweite Erschütterung -, daß es mit einer wirklichen Erneuerung - der Universität, der Justiz, der Beamtenschaft - so ernst nicht gemeint war. (Als er einem braunen Breslauer Germanisten in Bonn wieder begegnete, sagte der: »Sie wissen doch auch, daß ich immer dagegen war.« Boehlich: »Ich erinnere mich nur an das Gegenteil.« Der Professor: »Gerade Ihnen gegenüber konnte ich das ja nicht zeigen.«) Liest man die wissenschaftlichen Publikationen jener Jahre, so spürt man an dem immensen Wissen, welche akademische Karriere sich daraus hätte entwickeln lassen. Aber er verfolgte sie nicht, sondern beschloß, ein unabhängiger Kopf zu werden, undeformiert und unkorrumpierbar durch Institutionen.
Nach der Emeritierung von Curtius wurde er zunächst Lektor für deutsche Sprache an der Universität in Aarhus, dann in Madrid. Von dort holte ihn Peter Suhrkamp - aufmerksam auf ihn geworden durch eine sehr kritische Rezension der neuen Proust-Übersetzung - als Cheflektor in seinen damals noch kleinen Verlag. Elf Jahre lang arbeitete er prägend mit an der Entwicklung dieses Verlages zu einem der großen...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.