Schweitzer Fachinformationen
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OKTOBER
1»Dann sehen wir uns am Donnerstag um zwei am Flughafen. Ich bitte um pünktliches Erscheinen.«
Gerda Lundin klopfte mit dem Hammer auf den Tisch und nickte den Reichstagsabgeordneten zu, die zu beiden Seiten des ovalen Konferenztisches saßen.
Sie war guter Dinge. Hier im Reichstag gefiel es ihr, hier gehörte sie hin. Die schwedische Bevölkerung schien derselben Meinung zu sein, denn die Regierung, der sie angehört hatte, war abgewählt worden. Doch selbst im Fall eines Wahlerfolgs wäre Gerda wohl nicht wieder im Kabinett, sondern unter den Abgeordneten des Reichstags gelandet. Noch während ihrer Amtszeit als Justizministerin hatte ihr der Parteivorsitzende mehrfach angeboten, Regierungspräsidentin, Botschafterin oder Generaldirektorin einer staatlichen Behörde zu werden. Aber Gerda hatte sich an ihrem Posten festgekrallt, wohl wissend, dass viel passieren musste, ehe ein Ministerpräsident eine Ministerin während eines Wahljahrs entließ.
Der Raum, in dem der Justizausschuss getagt hatte, wirkte trotz der Kristallleuchter an der Decke recht trostlos. Einzig eine blaue Glasskulptur und einige wie Blumenvasen geformte Karaffen mit Trinkwasser sorgten für etwas Abwechslung.
Nach und nach verließen die Mitglieder des Justizausschusses den Saal, während die Büroangestellten weiter hinten sitzen blieben.
»Jan-Olov!«, rief Carlos Fernandez. »Es wäre schön, wenn wir uns noch kurz zusammensetzen könnten!«
Viele hielten erstaunt inne. Nicht etwa, weil hier ein Kollege mit einem anderen reden wollte, sondern weil ein Mitglied der Volkspartei einen Sozialdemokraten um ein Gespräch unter vier Augen bat. Auch Gerda wunderte sich. Was hatten die beiden miteinander zu schaffen? Wenn Carlos Gesprächsbedarf über die Parteigrenzen hinweg sah, sollte er erst einmal innerhalb der offiziellen Gremien darüber diskutieren. Aber so waren sie halt, die neuen Abgeordneten. Dabei sollte auch Carlos die festen Grenzen zwischen den politischen Blöcken akzeptieren, Grenzen, die nicht mir nichts, dir nichts überschritten werden konnten. Wie sieht das denn aus, dachte Gerda und stand auf. Bei nächster Gelegenheit würde sie ihm einen kleinen Vortrag über politische Umgangsformen halten. Wenn man schon Kontakt mit dem politischen Gegner aufnahm, dann diskret. Man rief nicht einfach quer durch den Raum.
Doch nun redete Carlos unbeschwert auf Jan-Olov Pettersson ein, ja er gab ihm sogar einen freundschaftlichen Klaps auf den Rücken, als sie den Raum verließen! Sein sozialdemokratischer Kollege, eines der langjährigsten Mitglieder des Reichstags, wirkte ein wenig irritiert. Dennoch nahmen die politischen Gegner gemeinsam den Lift nach unten und spazierten einträchtig zur Parteizentrale der Volkspartei hinüber.
Obwohl Jan-Olov Pettersson seit achtzehn Jahren im Reichstag saß, hatte er nie einen Fuß ins Feindesland, also in eine Zentrale einer sogenannten bürgerlichen Partei gesetzt. Wenn man sich mit dem politischen Gegner traf, dann auf neutralem Boden, vorzugsweise in der Reichstagskantine. Allerdings weckten solche Zusammenkünfte stets die Neugier der Journalisten, die sich ständig in der Kantine aufhielten. Wie Jan-Olov wusste, lungerten viele von ihnen von früh bis spät im Reichstag herum, nur um vielleicht irgendeine berichtenswerte Neuigkeit aufzuschnappen.
Jetzt betraten sie einen der Verbindungsgänge, die zur Altstadt führten, der sogenannten Gamla Stan. Wie Maulwurfsgänge zogen sie sich unter dem Reichstag und der Regierungskanzlei hindurch, bis unter die halbe Stockholmer Innenstadt. Am Schwimmbad des Reichstagsgebäudes nahmen sie den Lift zur Zentrale der Volkspartei, gingen durch einen Korridor, der mit Wahlplakaten tapeziert war, und kamen in einen Versammlungsraum. An der Wand hing das Bild einer großen Kornblume.
»Das hier ist unser Klubzimmer«, erklärte Carlos und stellte ein paar seiner Mitarbeiter vor, die sich gerade im Raum aufhielten.
Auch Carlos' Leute wirkten erstaunt. Was machte denn der Sozi hier? Der Allgemeinheit war Jan-Olov weniger vertraut, doch im Reichstag war sein Gesicht altbekannt. So aufschlussreich hatte ich mir das gar nicht vorgestellt, dachte Jan-Olov, als er den Kollegen von der Volkspartei zunickte und Carlos auf einen weiteren Korridor folgte.
Jan-Olov hatte einen langen Atem bewiesen. Schon während er zu Hause in Värmland als Maler gearbeitet hatte, hatte er sich gewerkschaftlich engagiert. Bald hatte sich die Partei bei ihm gemeldet und um Unterstützung bei der politischen Arbeit gebeten. Eine Bitte, der er gern nachkam, denn für ihn gab es nur eine Partei - die Sozialdemokraten. In seiner Familie war seit jeher sozialdemokratisch gewählt worden. Allmählich wuchs sein Aufgabenbereich, bald kümmerte er sich um gezielte Mitgliederwerbung und große Gewerkschaftsveranstaltungen im gesamten Regierungsbezirk. So ging es ein paar Jahre weiter, bis ihm eines Tages ein Posten als Ombudsmann seines Bezirks angeboten wurde. Zwar wäre er lieber seinem Beruf treu geblieben, doch für ihn war es eine Selbstverständlichkeit, dem Ruf der Partei zu folgen. Den Kontakt zur Malergewerkschaft und zum Schwedischen Gewerkschaftsbund erhielt er dennoch aufrecht, denn er zählte sich entschieden zum linken Flügel der Sozialdemokraten. Wenige Jahre später staunte er nicht schlecht, als ihm auf einmal ein Reichstagsmandat in Stockholm in Aussicht gestellt wurde. Es geschah nicht alle Tage, dass einem Provinzpolitiker ein solches Amt angetragen wurde; abseitigere Regierungsbezirke wurden meist von gebürtigen Stockholmern vertreten. Dass sich seine politische Karriere so lange hingezogen hatte, machte ihm nichts aus. Umso mehr Erfahrung hatte er vorzuweisen, und das Wohl der Partei stand ohnehin über jedem Privatinteresse. Wenn er eines nicht ausstehen konnte, dann diese Quereinsteiger ohne jegliche Verankerung in der Partei. Dieser Bodström war sogar ohne Parteibuch Minister geworden!
Normalerweise hätte er sich niemals auf Carlos' Vorschlag eingelassen, denn im Grunde betrachtete Jan-Olov alle rechten Parteien als erbitterte politische Gegner. Doch er hatte dem gemeinsamen Projekt aus einem ganz bestimmten Grund zugestimmt: Nach achtzehnjähriger Reichstagszugehörigkeit hatte ihn die Partei in den Justizausschuss abgeschoben, und das nahm er ihr persönlich übel. Wie die meisten Sozialdemokraten zog er Arbeitsmarkt-, Wirtschafts- und Finanzausschüsse vor. Kriminalfragen interessierten ihn herzlich wenig; damit konnten sich die Konservativen herumschlagen.
Niemand hatte ihm gesagt, warum ausgerechnet er in den Justizausschuss strafversetzt worden war. Aber auch hier galt das eherne Gesetz: Wenn die Partei rief, folgte man ihrem Ruf widerspruchslos.
»Setz dich doch«, sagte Carlos und zeigte auf den Besucherstuhl, während er selbst hinter seinem Schreibtisch Platz nahm.
Sofort fiel Jan-Olov die penible Ordnung in Carlos' Büro auf. In seinem eigenen Büro regierte das Chaos, türmten sich Aktenberge auf dem Tisch. Er räusperte sich. »Du willst also, dass wir eine Initiative gegen Rassismus ins Leben rufen.«
Carlos nickte.
»Ich glaube, wir verleihen der Sache am meisten Gewicht, wenn wir gemeinsam dafür einstehen. Das Wichtigste ist doch, die Lebenssituation der Migranten zu verbessern. Die ständigen Diskriminierungen müssen aufhören.«
Jan-Olov strich sich über den grau melierten Bart.
»Jedes Jahr werden über dreißigtausend Anträge gestellt, aber fast nie über die Parteigrenzen hinweg.«
»Findest du das nicht auch merkwürdig? Dabei sollte in den grundlegenden Fragen doch Einigkeit herrschen. Selbstverständlich werde ich auch die anderen Parteien um Unterstützung bitten.«
Jan-Olov lachte. »Du bist neu im Reichstag, das merkt man. Normalerweise halten wir die Reihen eng geschlossen.«
*
Rechtsanwalt Mattias Berglund verließ an der Seite seines Mandanten das Stockholmer Amtsgericht.
Auf der großen grauen Steintreppe blieben sie stehen. Unten auf der Straße drängten sich wie immer Busse und Autos, Passanten hasteten über die Bürgersteige, Laub segelte von den Bäumen und blieb in Haufen auf dem Boden liegen. Der Wind blies so kalt, dass Mattias den Reißverschluss seiner Jacke zuzog.
»Ich glaube, wir können zufrieden sein«, sagte er, »vor allem angesichts der Tatsache, dass Sie zweifach vorbestraft sind.« Sein Mandant war soeben wegen Trunkenheit am Steuer und unerlaubten Führens eines Fahrzeugs zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden.
Wie gewohnt achtete Mattias darauf, sich nicht allzu übereilt von seinem Mandanten zu verabschieden. Er wollte einen guten Eindruck hinterlassen, zumal der Mandant erneut straffällig werden und seine Hilfe benötigen könnte. Aus demselben Grund bot es sich stets an, dem Kunden vor Augen zu führen, dass sein Anwalt ein gutes Urteil herausgeholt hatte. Nur war das natürlich nicht immer ganz einfach.
»Ich weiß ja, dass ich zufrieden sein sollte«, entgegnete der Mann und verzog das Gesicht. Das Gericht hatte eingesehen, dass er ein Alkoholproblem hatte, eine ärztliche Behandlung aber für unnötig gehalten.
Wieder mal ärgerte sich Mattias, dass so viele Menschen zwischen die Stühle fielen, wenn es um Alkoholmissbrauch ging. Seine Kollegen in der Kanzlei lächelten darüber - das würde doch neue Aufträge generieren! Aber er weigerte sich, so zu denken. »Normalerweise landet man dafür im Gefängnis«, sagte er jetzt. »Und einer der Schöffen hat sich ja auch für eine Haftstrafe ausgesprochen.«
»Wird der Staatsanwalt Berufung...
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