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Das Leben ist eine Reise, die sich selbst überschreibt, jeder Gedanke, jede Empfindung ist ein neuer Weg, der den eigenen Kern freilegt und die Sinne verfeinert. In Bewegung zu sein, das war, in der Obhut des Südens, schon in frühester Kindheit ein natürlicher Zustand für mich. Auch jetzt, auf meiner Reise zurück zum Kern des Kerns, zu jenen Landschaften, Orten und Menschen, die mich geprägt, geformt, geknetet und geliebt haben, erscheint mir nichts so normal wie das Unterwegssein zu ihnen. Jedes Mal, wenn ich einen Koffer packe, spricht aber auch die Erinnerung mit, sie weiß um Krieg und Frieden, um Glück und Unglück, ist immer die stille Mitschreiberin. Auf allen Umwegen, die meine Wege sind, arbeitet sie der inneren Zeit zu. Es ergeben sich dabei neue Kreise, innere und äußere Ränder eines Lebenslabyrinths, die sich an Stellen miteinander berühren, an denen ich es am wenigsten erwarte, wie damals in der Kindheit, als mein Vater mir die Sterne erklärte.
Das Kreuz des Südens, sagte er, und seine Hand zeigte ehrfurchtsvoll nach oben, es liegt inmitten des hellen Bandes der Milchstraße und beschützt uns hier unten. Dich und mich, fragte ich, oder die ganze Erde? Er nickte, sagte, alles, dich und mich, unseren Planeten, den Mandel- und den Walnussbaum, die Maulbeere, den Hof, das Pferd, die Garage, den geräucherten Schinken, den Esel (den ganz besonders), die Katzen und die Hühner und deine Tante Anastazija, ihre Träume, wenn sie schläft. Das bewegte jede Faser in mir. Auch wenn das Kreuz des Südens nicht zu sehen war, hatten meine Augen ein neues Ziel. Mein Körper hatte einen neuen Ort. Meine Vorstellungskraft hatte eine neue Heimat. Das ganze Universum, die kosmische Melancholie, sie gehörte jetzt mir wie das Maiwetter, wie Heiligabend, die Wolken, das »Vater Unser« an den Sonntagen. Mit der Vorstellungskraft kamen aber auch die Fragen in meinen Kopf. Die Schönheit der nie zu Ende erklärten Lücken hat mich stets zu neuen Erkundungen geführt. Zum Geheimnisumwitterten gehörten die Tränen des Heiligen Laurentius, die dieser, so sagte es mir Vater, als Sternschnuppen wieder auf die Erde schickte, um an sein Schicksal als Märtyrer zu erinnern, jedes Jahr, an jedem 13. August. Laurentius starb 258 auf einem glühenden Rost. Hatte er seinen Schmerz verwandelt? Vater gab mir darauf keine Antwort, stand aber manchmal in der Nacht auf und weckte mich dann vor der Morgendämmerung, um mir die Sternschnuppen zu zeigen. Ich müsse mir etwas wünschen, sagte er, der Heilige Laurentius sei für uns alle gestorben, um uns etwas über den nächtlichen Himmel beizubringen. Und ich wusste nie, was ich mir wünschen sollte, weil an die Stelle der Wünsche immer zuerst Fragen traten. Weshalb konnte ein Mensch, der vor so langer Zeit gestorben war, etwas mit meinem Schicksal zu tun haben? Schon bald war der Sternschnuppensegen vorbei, und in meinem wunschlosen Kopf wohnten neue Rätsel. Wieso kann ich plötzlich Fragen stellen?, fragte es selbsttätig in mir. Und dann wurde mir das Lebendigwerden des Wortes »beschützen« zuteil. Wo kommt das Wort und seine Bedeutung her? Aus Vaters Mund oder aus seinem Inneren? Würde es möglich sein, in meinen Träumen dem römischen Märtyrer Fragen zu stellen? Beschützte der Sternenhimmel mich genauso wie meinen Vater? Er denkt etwas, und ich denke es auch. Wenn man beschützt wird, dann doch von intelligenten Wesen? Und was passiert, wenn ein Krieg ausbricht? Beschützer haben doch auch dann ein Herz? An der Stelle des Herzens kann doch kein Loch sein! Beschützer können, müssen doch auch im Krieg lieben! Das geht doch nur mit dem Herzen? Ja, klar, sagte mein Vater, die Perseiden etwa haben nicht nur ein Herz, sondern auch eine Lunge, die Sterne können atmen. »Wer atmen kann, ist verwandt mit mir.« Dieser Gedanke beginnt, sich allein in mir zu denken. Die unbedingte Kraft des Gedankens nimmt mich so in Beschlag, dass ich alles mit der Haut fühlen kann, was mein Kopf in Worten denkt. Verwandt oder nicht! Die Sterne waren also in jedem Fall Wesen. Mein Leben hing zwar nicht von diesem Wissen ab, aber jetzt sehe ich mit inneren Augen, wie ein Fluss in meinem Kopf entsteht, direkt neben dem Kreuz des Südens - alles Lebendige ist miteinander verbunden.
Die hellsten Sterne tragen Namen wie Acrux, Becrux, Gacrux und Decrux, sagt der Vater, das sind Abkürzungen für alpha, beta, gamma und delta in Verbindung mit dem Namen crux. Das ist Latein, sagt er, zwinkert mir zu, wichtigtuerisch. All diese Worte, sie waren und sind Musik in meinen Ohren, innere Farben, innerer Klang. Aber Vater, wo ist das Kreuz des Südens, und Latein, was ist denn Latein?, frage ich ihn. Eine Sprache, sagt er, ich weiß auch nur, dass es sie gibt. Er hat sie nie gelernt. Dennoch oder gerade deswegen bleiben mir die unbekannten Worte als Musik in Erinnerung. Wie hat er die Wörter gelernt? Als Rhythmen? Er sagt es mir nicht, er erklärt nichts, er, der Vater, deutet nur an, dass es etwas mit den Träumen zu tun habe, mit dem Leben und der Sprache und der Musik in ihnen.
In mir bildet sich ein Überzeugungsraum, dass es so gewesen sein könnte. Wenn ich es denken kann, dann muss er es angedeutet haben. Oder etwa nicht? Fragen kann ich ihn nicht mehr, er kann es mir nicht mehr erzählen, mein Vater ist tot. Aber das Latein jener Sternennacht, der Nachhall seiner Worte bebt und schwebt in mir, rätselhaft melodisch, Teil meiner unfertigen Nachtbilder und szenischen Warnungen, Teil jener allnächtlichen Prophetien, die mich nach meinem Platz in der Welt fragen lassen. Ganze Landschaften erträume ich mir, um ihm Fragen zu stellen. Aber die Toten sprechen nicht.
Ich lerne sehr früh, dass Worte Handlungen sind, Brücken zum Bleibenden. Für meinen Vater war Sprache nur die Bedeutung der Wörter. Da fing sie an, die allmählich sich manifestierende Absonderung von ihm. Von innen fand sie statt. Der Zweifel hatte sich in mir abgelegt. War mein Vater ein Lügner oder ein Alleskönner? Ich schließe die Augen. Die Musik der Kindheit und die Musik der Träume, sie sind Teil meiner erzählenden Lunge, und in ihr ist ein autonomes Verlangen nach Wachheit, das Verlangen nach Weisheit, nach jedem Wort von König Salomon, nach der Mitarbeit der Psalmen. Anders kann ich die lichternden Sterne nicht verorten, die auch in mir sind, besonders morgens, kurz nach dem Aufwachen fühle ich das ferne Licht der Träume, wie man den flimmernden Schlaf des Sommers am eigenen Körper fühlt. Eine Himmelsleiter verbindet sie mit mir. Das unsichtbare Dazwischen ist ein Land. Ich will die Treppen zu diesem Land finden. Nicht nur, indem ich in den Wipfel des Mandelbaumes klettere. Wann bildete sich der Wunsch in mir aus? Vielleicht an jenem schreckverdichteten Tag, der auch noch ein Heiligabend war und an dem ich zum ersten Mal ahnte, was Krieg sein könnte und wie er entsteht, wie er sich einen Platz in einem Menschenleben verschafft.
Mein Vater drückte mir eine Pistole in die Hand und ließ mich in den Himmel schießen. Es half kein Weigern und kein Weinen. Schieß den Sternen in den Bauch, sagte er und hielt meinen Körper fest, der Schuss fiel, ich zitterte am ganzen Leib. Habe ich die Sterne erschossen, fragte ich ihn, erhielt aber keine Antwort. Er schob mich von sich, nahm die Pistole in die Hand und verschwand wortlos im Haus. Ich roch den schwefeligen Schuss noch lange, die Luft war von ihm durchsetzt. Ich sah in den Himmel und dachte, ich will ihn in diesem Leben nie wieder lieben. Stattdessen erlebte ich die Zeugenschaft der Sterne, ihre Art Mutterschaft, ihr immerwährendes Leuchten und meinen in die Lungen abgesunkenen Kummer. Mit geschlossenen Augen will ich die Stufen in mir nehmen und so zu den Sternen sprechen, Teil ihres Lichtes sein, den Kern ihrer Mitteilungen erfassen. Diese Stelle, an der die Sterne sich uns noch zusprechen, nennt der Chirurg und Schriftsteller Carl Ludwig Schleich einen »Taubenposten unserer Gedanken«. Das seien die Elemente am Webstuhl der Seele, die Materialen, aus denen die Orgel des Gehirns gebaut sei. »Sehen wir zu«, schreibt er, »wie die Schiffchen gleiten, wie die Register spielen und was die Tasten leiten.« Ich sehe mein Leben lang zu, den Fliegen, den Vögeln, dem Gras, den Perseiden, dem Muster und den Nachrichten der Wolken. Allem und allen. Und irgendwann fange ich auch damit an, mir selbst zuzusehen. Der Atem hilft mir dabei, der Atem hilft mir zu sehen. Die Bilder haben immer eine tiefere Schicht, je länger ich sie ansehe, desto mehr lösen sie sich auf, wie Punkte in meinem Kopf; Punkte und Wunden, die zu Wundern werden, zu meiner Einweihung ins innere Leben. Ein innerer Sternenkompass entsteht dabei und verbündet sich mit den Träumen. Wie macht er das? Wie bei allen Rätseln, liegt die Wahrheit darin, dass wir die letzte Wahrheit nicht kennen und sie uns nur soweit vorstellen können, wie sie unseren inneren Erfahrungen entspricht. Aber vielleicht liegt ein Schritt zur Geheimniseinsicht darin, dass wir uns alle in der Zeit wesentlich endlicher als im Raum fühlen. Das Unendlichkleine in der Zeit und das Unendlichgroße im Raum haben einen Vermittler: den Traum. Er unterrichtet uns. Wie entwickeln sich Menschen? Maurice Maeterlinck ging davon aus, dass jede Entwicklung zum Besseren ein Vorbild voraussetzt. Hat mein Vater irgendetwas beabsichtigt, als er die Sternenwelt erwähnte? Was auch immer ihn dazu gebracht hat, mir die Tränen des Heiligen Laurentius zu zeigen, es hat den Funken der Hoffnung in mir geweckt. Und nicht der Vater, nicht seine Gewalt, aber sein Blick in den Himmel (zu den Welten öffnenden Sternsporen) und die zuerst...
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