Schweitzer Fachinformationen
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Hinter der Tür erstreckte sich ein Zimmer weit in die Finsternis. Auf dunklen Holztischen, die U-förmig angeordnet waren, erkannte Linna Papierstapel, benutzte Kaffeetassen und Kugelschreiber. Irgendwie erinnerte der Raum sie an ein Lehrerzimmer. Sie ließ den Schein ihrer Taschenlampe weiterwandern. An den Wänden standen hohe Bücherregale mit edel verzierten Buchrücken und in der Ecke hing ein goldener Käfig. Als sie ihn anleuchtete, hörte sie Stroh rascheln. Ein Hase mit Schlappohren hüpfte aufgeregt darin herum. Linna wollte gerade die Taschenlampe senken, als er sie anbellte.
Vor Schreck stolperte sie ein paar Schritte zurück. Der Hase kläffte wie ein ausgewachsener Hund und hörte nicht auf, bis Linna sich aus ihrer Schockstarre löste und den Lichtstrahl woandershin richtete. Doch auch hier bewegte sich etwas: In der Ecke des Zimmers wirbelte ein Schneesturm. Winzige Flocken flogen in rasender Geschwindigkeit umher und glitzerten im Schein der Taschenlampe. Jetzt, wo sie den Sturm sah, spürte Linna auch die Kälte, die von ihm ausging.
»Kann man hier nicht mal in Ruhe schlafen?« Eine schnarrende Stimme ließ Linnas Herz einen Satz machen. Hastig leuchtete sie in die Richtung, aus der die Stimme kam, doch sie konnte weit und breit keinen Menschen erkennen.
Stattdessen sah sie - Pokale. Ein Wandregal, über und über mit goldenen und silbernen Trophäen bestückt.
Mit klopfendem Herzen näherte sich Linna. Zweiter Platz im Bergeversetzen, stand auf einer davon. Deutscher Meister im Illusionslauf, las sie auf der daneben. Was für seltsame Disziplinen sollten das sein? Sie hatte noch nie davon gehört.
»Was guckst du mir so aufs Schild?«, ranzte sie plötzlich jemand an. Nein, nicht jemand, der Pokal! »Erst die gesamte Bewohnerschaft wecken und dann auch noch blöd starren«, meckerte er weiter. »Du siehst so aus, als hättest du noch nie was von Bergeversetzen gehört.«
»Lass sie doch«, wandte eine helle Stimme ein, die eindeutig von einer schmalen Trophäe mit einer Glaskugel und goldenen Splittern darin kam. »Nimm es nicht so schwer, Herzchen. Er ist immer so mürrisch. Außerdem hast du sicher schon etwas von Bergeversetzen gehört, nicht wahr?«
Linna war wie erstarrt. Das musste ein Traum sein. Pokale konnten nicht sprechen und Hasen nicht bellen.
»Ähm . «, stammelte sie, »nein.«
»Nein?«, donnerte der Pokal. »Ich glaube, dem Mädchen ist nicht mehr zu helfen.«
»Jetzt erkläre ihr schon, was Bergeversetzen ist«, ermahnte ihn die Trophäe mit der Glaskugel.
»Du willst wissen, was das ist?«, fragte der Pokal mit erhobener Stimme. »Na, man schiebt einen Berg von einer Stelle zur nächsten, ganz einfach. Aber sie ist ohnehin zu schwach, da müsste sie schon ein wenig mehr Riesenblut in sich haben.« Letzteres fügte er so leise hinzu, dass Linna sich nicht sicher war, ob es für ihre Ohren bestimmt war.
Ein Kichern. »Zu schwach vielleicht, zu klein aber nicht. Das Mädchen kann kaum eine Zweitklässlerin sein und hat schon eine beachtliche Größe.«
Eine Zweitklässlerin? So jung war sie schon lange nicht mehr!
Der Hase begann wieder zu bellen.
»Nie kann man hier eine ruhige Nacht verbringen«, mischte sich eine weitere Stimme ein. »Am Tag muss ich mir das Geschwätz der Lehrer anhören und in der Nacht das von euch.«
Nach und nach schien das gesamte Regal zu erwachen. Stöhnen, Gefluche.
»Und dieser Köter erst!«
»Haben wir entschieden, dass wir nicht schlafen? Dann können wir auch eine Konferenz abha-«
»Halt die Klappe, Wanderpokal. Du bist nächstes Jahr eh nicht mehr hier.«
Linna ging ein paar Schritte zurück. Keine der Trophäen schien mehr auf sie zu achten. Sie diskutierten lautstark weiter, ohne sich um die Fremde zu scheren, die sich hierhin verirrt hatte.
Linna bewegte sich durch das Zimmer und leuchtete an der Wand entlang. Gerahmte Bilder, Pinnwände mit Post-its darauf. Dahinter hing eine große Tafel aus Messing mit eingravierten Namen. ERSTE GENERATION stand in Großbuchstaben darüber. Linna hob die Hand, als wollte sie darüberstreichen, hielt aber kurz vor der metallenen Oberfläche inne. Anna Fechenbach las sie. Paulo Herzfeld, Vinditta Fidei und Eduard Zerran. Es mussten Hunderte Namen sein.
Sie war so fokussiert darauf, dass ihr viel zu spät auffiel, wie ruhig es geworden war. So ruhig, dass sie beinahe ihr Herz klopfen hören konnte. Die Pokale stritten sich nicht mehr und der Hase hatte aufgehört zu bellen.
Anders als Linna hatten sie die Schritte rechtzeitig bemerkt, die sich draußen näherten. Und so stand Linna völlig schutzlos da, als jemand die Tür aufzog und das Licht anknipste.
Eine Frau hatte das Zimmer betreten und starrte sie verwundert an. Sie hatte dunkle Haut und kurze, hellgraue Locken, die ihr wirr ins Gesicht fielen. Unter ihrem langen Cardigan blitzte noch ein Stück ihres Satinpyjamas hervor, der so gar nicht zu ihren Turnschuhen passte.
»Schüler sind nicht befugt, das Lehrerzimmer zu betreten«, sagte sie barsch und zog ihren Cardigan enger, »vor allem nicht nachts.« Sie kniff die Augen zusammen und musterte Linna. »In welcher Jahrgangsstufe bist du überhaupt? Du kommst mir nicht bekannt vor.« Sie tastete an ihrem Hals nach etwas, ließ die Hände aber mit einem Seufzen wieder sinken. »Himmel, Herrgott, nie habe ich meine Brille dabei, wenn ich sie brauche.«
»Ich . ich bin in der sechsten«, erwiderte Linna kleinlaut.
»In der sechsten?« Die Frau wirkte mehr als verwundert. »Das ist nicht möglich.« Sie kam ein paar Schritte näher und musterte Linna mit gerunzelter Stirn. »Wie bist du in das Lehrerzimmer gekommen?«
»Durch die Turnhalle.«
»Durch die Turnhalle?« Noch während sie sprach, wurde ihr offenbar etwas klar. Kam es Linna nur so vor, oder wirkte sie ein wenig blass um die Nase? »Mein Kind, auf welche Schule gehst du?«
»Auf das Gebrüder-Grimm-Gymnasium.« Auf welche Schule sollte sie auch sonst gehen? In dieser Ecke von Köln gab es nur eine.
Doch die Frau sah erschüttert aus. Sie betrachtete Linna mit einem Kopfschütteln, als hätte sie behauptet, sie würde mit ihren zwölf Jahren bereits an der Universität studieren.
Vom Regal hörte sie einen der Pokale flüstern: »Wusste ich doch, dass sie eine Nichtwissende ist.«
Eine Nichtwissende? Schon wieder ein Begriff, mit dem sie nichts anfangen konnte. Und doch kam sie sich exakt so vor: als wüsste sie überhaupt nichts von alldem, was geschah.
»Das .«, begann die Frau und strich sich eine Locke aus dem Gesicht, ». ist nahezu unmöglich.«
»Was ist nahezu unmöglich?« Linnas Gedanken wirbelten nur so umher.
Die Frau schüttelte den Kopf. »Dass eine Nichtwissende den Weg hierher findet, nachdem sie an einer anderen Schule angenommen wurde.« Mit schnellen Schritten ging sie zur Eingangstür und zog an dem Seil einer Glocke, das daneben hing. Ein Zwitschern ertönte. »Das hat es Jahre, ach was, Jahrzehnte nicht gegeben, mein Kind. Ich habe das Kollegium in Kenntnis gesetzt«, erklärte sie Linna, die den Blick nur zögerlich von der zwitschernden Glocke abwandte. »Dass ich so was noch mal erlebe!« Die Lehrerin atmete tief ein und aus, als müsste sie sich erst fassen. »Entschuldige, dass ich mich noch nicht vorgestellt habe, aber das ist einfach . unglaublich.« Sie streckte Linna die Hand hin. »Cassandra Douglas. Ich unterrichte hier im Schuldorf Angewandte Trainingswissenschaft für Wandler sowie Sportmagiegeschichte. Wie ist dein Name?«
»Linna«, antwortete Linna und schüttelte verwirrt Frau Douglas' Hand. Trotz schmaler Finger hatte sie einen festen Druck. »Linna Landsteiner. Aber . wenn das hier nicht zum Gebrüder-Grimm-Gymnasium gehört, wozu gehört es dann?«
»Das hier« - die Lehrerin machte eine ausladende Geste in den Raum hinein - »ist ein Teil von Olympia Magica, dem Schuldorf für magische Athletinnen und Athleten.«
Linnas Mund formte sich zu einem erstaunten »Oh!«. Für magische Athletinnen und Athleten? Das konnte nicht wahr sein. Egal, wie sehr sie sich auch wünschte, dass Magie existierte. Womöglich war sie in der Turnhalle eingeschlafen und träumte. Doch es fühlte sich so echt an. Sie wollte daran glauben, dass es sprechende Pokale gab und verzauberte Schneestürme, die im Innern eines Gebäudes umherwirbelten.
Mit angehaltenem Atem sah sie dabei zu, wie Frau Douglas den goldenen Käfig öffnete und den Hasen kraulte. Er knurrte zufrieden.
Ein Klopfen an der Tür, bevor sie sich öffnete. »Du hast mich gerufen?«
Linna schnappte nach Luft. »Herr Kastner?«
Er war es wirklich! Herr Kastner zog irritiert die Augenbrauen hoch. Im...
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