Schweitzer Fachinformationen
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Unser hellrosa gestrichenes Holzhaus am Ortsrand von Hattorf passte sich den Farben wunderbar an. Die Stimmung im Feld hatte mich vergessen lassen, wie kalt es eigentlich war. Auf gefühllosen Stöcken stakelte ich zur Tür. Im Haus ließ ich die Hunde auf den alten Teppich im Hauswirtschaftsraum, hängte meine nassen Sachen auf die Wäscheleine und betrat in meiner schäbigsten Skiunterwäsche ahnungslos die Küche. Diese Unterwäsche passte mir schon vor Katinka, als ich noch 80 Kilogramm wog. Inzwischen wog ich 90, bei einer leider konstant bleibenden Größe von 1,60 m.
Es war ein Samstag. Richy, Katinka, Leonard und so ein blondes Mädchen saßen am Küchentisch, aßen Weihnachtskekse und tranken Tee. Die Kerzen auf dem Tisch tauchten den Raum in ein heimeliges Licht. Ich wollte gerade wieder zurück in den Hauswirtschaftsraum verschwinden - so wie ich aussah, konnte ich unmöglich der neuen Freundin unseres Sohnes begegnen - als die aufsprang und mir ihre schmale Hand entgegenstreckte.
»Guten Tag, ich bin Lulu.«
Etwas verärgert versuchte ich zu lächeln.
»Ich bin Suse. Tut mir leid, hätte ich gewusst, dass wir Besuch haben, hätte ich mich umgezogen.« Mist, meine Lippen waren immer noch taub von der Kälte.
»Macht doch nichts«, meinte Lulu.
Mein Mann Richy polterte daraufhin sofort los. »Wenn du dich noch einmal entschuldigst, Suse!«
Er hatte ja recht. Zu meinen schlechtesten Angewohnheiten gehörte es, mich immer für alles Mögliche zu entschuldigen. Trotzdem warf ich ihm einen empörten Blick zu. Mich hatte es doch mal wieder kalt erwischt und nicht ihn. Wir setzten uns. Ich goss mir Tee ein und umklammerte mit meinen Händen die warme Tasse. Dieses unwirkliche Schneetreiben draußen im Feld hatte mich so fasziniert, dass ich beinah festgefroren wäre.
Leonard hielt Lulu im Arm. Sie lächelte verlegen. Wie jung sie aussah mit ihrer Zahnspange und in dem lila Glitzer-Jäckchen. Den hellblonden Kükenflaum auf dem Kopf trug sie in alle Richtungen abstehend in Form gegelt. Leonard flüsterte ihr etwas zu, bevor sie aufstanden.
»Vielen Dank für den Tee und die Kekse«, sagte Lulu.
Leonard zog sie in sein Zimmer.
»Sag mal, die ist doch höchstens sechzehn.«
Mein Mann sah mich fragend an. Ich hatte keine Ahnung, wie alt sie war. Unser zwanzigjähriger Sohn wechselte öfter mal seine Frauenbekanntschaften. Katinka erschien in ihrer Winterjacke, auf dem Rücken baumelte ein prallgefüllter Rucksack. Richy sprang hastig auf, verschwand im Hauswirtschaftsraum. Kurze Zeit später kam er im Blaumann wieder.
»Ich nehme Katinka gleich mit zu Jeremy, wir sehen uns später«.
Wir wollten abends ausgehen und Katinka übernachtete bei unserem ältesten Sohn und dessen Lebensgefährtin. Ich konnte es nicht fassen, dass Richy an so einem Tag unbedingt noch in die Pension musste. Dieses alte Gebäude, das er und unsere Freundin Marga seit drei Jahren, seit dem Tod ihres Vaters, wieder instand brachten, war der Grund dafür, dass wir uns kaum noch sahen. Obendrein war vorauszusehen, dass die Kosten für die Renovierung uns demnächst den finanziellen Todesstoß verpassen würden. Aber nachdem ich von Richy gebeten worden war, mich da raus zu halten, tat ich, was von mir verlangt wurde. Obwohl ich gern mitrenoviert hätte, äußerte ich mich nicht mehr zu dem Fall.
Katinka nahm mich in den Arm. »Tschüss, bis morgen, Mama.«
»Deinem Gepäck nach zu urteilen sehen wir uns erst in drei Wochen wieder.«
Sie lachte.
Ich blies die Kerzen aus und auch das Teelicht im Stövchen. Dann räumte ich die leere Keksdose weg und packte die Tassen in die Spülmaschine. Das Mittagsgeschirr passte auch noch mit rein. Auf der Arbeitsplatte und der Spüle klebten noch die Soßenspritzer von den Sahne-Schnitzeln, die es mittags gegeben hatte. Mit Spülmittel und einem Schwamm rubbelte ich das angeklebte Zeug weg.
Ich hatte mir immer diese große Familie gewünscht. Und als die Kinder klein waren, hatte ich nie an mir und meinem Leben gezweifelt. Inzwischen kam ich mir manchmal noch nicht einmal mehr wie eine Hausfrau, sondern eher wie ein Dienstmädchen vor. Nein falsch, sagte ich mir, Dienstmädchen bekommen Geld für ihre Dienste. Mich ärgerte es, nicht einen Cent eigenes Geld, selbstverdient und nur für mich, zu haben.
Nach oben nahm ich die Hunde mit. Ich musste dringend warm werden und so kuschelte ich mich in unser Bett. Die Hunde legten sich davor. Ich bibberte. Erst als ich mir Richys Bettdecke auch noch rangezogen hatte und mich völlig darin eingrub, wurde mir langsam wärmer. Mit dem wohlig warmen Gefühl, das mich durchströmte, verbesserte sich auch meine schräge Laune etwas.
Durch meine schöne Kindheit war ich zu einer fröhlichen, positiv denkenden Erwachsenen geworden. Daran konnte selbst die wilde Jugend, in der ich leider auch Negatives erlebt hatte, nichts ändern. Deshalb gab ich mich dem Trugschluss hin, meine Energie würde sich nie verbrauchen. Mit zwanzig bekam ich Karlotta, mit vierundzwanzig Petronella, mit achtundzwanzig Jeremy, mit dreißig Jonathan, mit sechsunddreißig Leonard und mit fünfundvierzig Katinka. Das war jetzt schon elf Jahre her.
Inzwischen waren wir siebenfache Großeltern. Neben der Kindererziehung versuchte ich noch Lehramt zu studieren, woraus natürlich nichts wurde. Später ließ ich mich zur Heilpraktikerin ausbilden. Wenigstens das mit erfolgreichem Abschluss. Wir bauten zwei Häuser. An dem letzten, in dem wir auch leben, bauten wir ganze drei Jahre lang, weil wir beinah alles ohne fremde Hilfe bewerkstelligten. Als ich mit Katinka im fünften Monat schwanger war, starb meine Mutter an Herzversagen. Drei Jahre nach meinem Vater. Beide waren nur dreiundsechzig Jahre alt geworden. Selbst da dachte ich noch positiv. Bis ich drei Monate nach Katinkas Geburt einen Nervenzusammenbruch bekam. Ein halbes Jahr brauchte ich, um mit der Hilfe eines Psychiaters und meiner Familie da wieder raus zu kommen. Richy, der als Lehrer an einer KGS arbeitet, nahm sich ein Jahr unbezahlten Babyurlaub. Alleine hätte ich es nie geschafft. Nur ganz langsam erholte ich mich wieder. Aber bei einer so großen Familie waren Rückschläge anscheinend vorprogrammiert. Ein Jahr nachdem ich Katinka bekommen hatte, wurden wir zum zweiten Mal Großeltern. Unsere Tochter Petronella und ihr Freund Manuel bekamen ein Baby. Ein Mädchen, das sie Jane nannten. Als Jane drei Monate alt war, starb Manuel bei einem Autounfall.
Meine Oberschenkel fühlten sich inzwischen wie eine Wärmflasche an. Auf keinen Fall durfte ich jetzt einschlafen. Ob Albert Einstein das wirklich alles gesagt hatte, was ihm hinterher angedichtet worden war, weiß ich nicht. Aber an den Spruch erinnerte ich mich, und es war genau das, was mir in dem Augenblick guttat: Mehr als die Vergangenheit interessiert mich die Zukunft, denn in ihr gedenke ich zu leben.
Als ich mir sagte: Nur für einen Augenblick, ich werde schon von alleine wieder wach! und meine Augenlider immer schwerer wurden, hatte wahrscheinlich der Vollmond hinter dicken Wolken am Himmel des südwestlichen Harzvorlandes gestanden. Denn bei Vollmond träume ich immer.
Unsere Eltern waren nach Rom geflogen. Und deshalb verbrachte ich meine ersten großen Ferien zusammen mit meiner Schwester bei unseren Großeltern in St. Andreasberg. Opa Heinrich war Förster. In dem abseits im Wald gelegenen Forsthaus wohnte außer den Großeltern noch ein älteres Ehepaar namens Brönnecke. Meine zwei Jahre ältere Schwester hing Tag und Nacht über ihren Büchern. Seit sie sich mit fünf das Lesen beigebracht hatte, war sie davon nicht mehr wegzubekommen.
Oma Auguste ging mit mir im Wald spazieren. Wir hatten zwei Hunde dabei. Unsere Dackeldame Penny und den Jagdhund meiner Großeltern, Goso. Oma befühlte die Bäume, nahm Moos auf, roch daran. Sie schmiss das Moos hoch. Es landete mit der grünen Seite auf dem Waldboden. Oma setzte ihre Brille auf, betrachtete es genau.
»Wir haben Vollmond. Heute Nacht ist es sehr kalt und jemand wird sterben.« Sie blickte mich entsetzt an. »Kindchen, Suse, ich will dir keine Angst machen.«
Wir gingen zurück. Oma Auguste hatte das Moos mitgenommen. Vor dem Forsthaus begegnete uns das Ehepaar Brönnecke. Ich bekam gar nicht so richtig mit, worüber sie sich mit Oma unterhielten. Frau Brönnecke sah so anders aus. Viel bunter als ihr Mann. Obwohl sie einen graublauen Rock und eine graue Jacke trug, sah ich sie strahlender vor mir. Sie stach hervor. Sie sagte etwas zu mir und reichte mir die Hand.
»Danke«, sagte ich und war verlegen. Keines ihrer Worte hatte ich mitbekommen.
In der Nacht zog ein voller Mond in den Grautönen der Wolken über den Harz. Es war kalt und windig. Ich sah Frau Brönnecke vorm Fenster stehen. Sie winkte und war genauso hell wie der Mond. Ich winkte zurück. Ich schwebte über die dunklen Holzdielen den langen Flur entlang, die mit dem gemusterten Teppichboden belegte Treppe runter, an der Tür zu der Brönneck'schen Wohnung vorbei zu der schweren, verzierten Haustür, durch den Wind, der mich fing und zur Seite drückte, zu dem Toilettenhäuschen in Verlängerung des Schuppens.
Ein weiter Weg für eine Kleine wie mich und Oma, die an Geister glaubte, wollte nicht, dass ich nachts alleine zum Klo schwebte. Sie, Opa Heinrich und Silke waren die Einzigen, die nicht darüber lachten, wenn ich ihnen sagte, dass ich schweben kann.
Am nächsten Morgen weckte Oma mich. Bei ihnen gab es immer sehr zeitig Frühstück. Silke hatte ein Buch dabei und zitierte eine Stelle daraus: »Manche Pyramiden waren innen vergoldet, weil dadurch der Körper des Verstorbenen, der darin beigesetzt wurde,...
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