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Jetzt steht sie da, vielleicht anderthalb Meter vor Anna, als hätte sie Angst, näher zu kommen. Die anderen sind zur Seite getreten, bilden einen Halbkreis. Sie ahnen, daß sie nicht stören dürfen, wenden sich ab, zögernd, gehen ein, zwei Schritte, schauen in ihre Taschen, ihre Hefte, auf ihre Uhren. Nach Annas Vortrag hat sie in der Menge gestanden und gewartet, bis die anderen ihre Fragen gestellt, mit Anna gesprochen haben, hat ihnen über die Schultern geschaut, auf Annas Tisch, auf das Papier, die Stifte. Anna ist es seltsam vorgekommen, aber sie hat sich nichts dabei gedacht, sich nicht gefragt, wer sie sein könnte, weil es viele gibt, die das tun: stehenbleiben, wenn andere schon da stehen.
Sie fragt Anna: Bist du -?, und sagt Annas Namen, als ob Anna eine andere sein könnte, wo doch hier jeder weiß, wer sie ist, schon weil es auf den Plakaten auf dem Gang, an der Tür und am Podium steht. Später sagt sie, gleich habe sie gewußt, daß sie es ist, Anna, sie hätte nicht fragen müssen. Im Radio habe sie das Gespräch mit ihr gehört, am Morgen, in einem dieser neuen Magazine, als sie ihren ersten Tee getrunken habe, erklärt sie, fast, als müsse sie sich entschuldigen, dafür, daß sie hier steht und Anna anspricht. Aufgesprungen sei sie, um das Radio lauter zu drehen, die anderen seien sofort still gewesen, um zuzuhören, und dann sei sie durch die Stadt gefahren, habe auf ihre Uni, ihre Kurse verzichtet, ihre Eltern seien einverstanden gewesen, sei durch diese Halle gelaufen, durch diese große Halle, um jetzt, hier, vor Anna zu stehen. Sie fragt, also, bist du?, und sagt Annas Namen, ihren ganzen Namen, mit einer Stimme, die wenig sicher, die fast ängstlich klingt, und Anna denkt, was fällt ihr ein, was erlaubt sie sich, sie weiß doch, daß ich es bin, jeder hier weiß es, und sie sagt, ja, die bin ich, in einem Ton, der zu verstehen gibt, daß sie nicht angesprochen werden will, als sei sie für jedermann jederzeit ansprechbar.
Márti ist es, die jetzt ihren Namen sagt, den Anna schon weiß: Márti. Anna kennt ihre Eltern. Sie kennt sie gut, besonders ihre Mutter, und sie fragt, obwohl es unnötig ist, dann bist du die Tochter von -? Márti nickt, schnell, eifrig, als habe Anna sie endlich erlöst, endlich befreit, mit dem Namen ihrer Mutter, den Anna jetzt noch einmal sagt, Zsóka, langsam, als wollte sie jeden einzelnen Buchstaben klingen lassen, Zs-ó-k-a, um dann Mártis Namen zu sagen, mit einem überdeutlichen: Du bist also, als müßte sie sich dem Gedanken, daß sie es ist, für die Anna sie von Anfang an gehalten hat, doch erst annähern. Anna liegt dieser Satz auf den Lippen, vom Zeitvergehen, vom Großwerden, aber sie sagt ihn nicht.
Sie gehen einen kleinen, bleibenden Schritt aufeinander zu, oder nur Anna geht ihn, und Márti bleibt stehen. Sie umarmen sich, ungeschickt und kurz, als wüßten beide nicht, wie man sich umarmt, in solchen Momenten. Márti kämpft mit den Tränen, entschuldigt sich dafür, sucht nach einem Taschentuch, in das sie sich schneuzen kann, und Anna sagt schnell, was ihr als erstes in den Sinn kommt, vielleicht, um Mártis Suchen etwas entgegenzusetzen. Sie sagt, wir haben uns lange nicht gesehen, ich glaube, als du acht warst, warst du mit deinen Eltern bei uns, kann das sein? Ich weiß noch, wie du warst, als Mädchen, ich weiß es noch genau, auch daß du den Tee nicht hattest trinken wollen, wegen seiner Farbe. Márti schaut ungläubig, vielleicht, weil Anna sich an Dinge erinnert, die andere sofort vergessen, und über die sie redet, als seien sie entscheidend. Anna fragt, wie alt bist du, und Márti antwortet, genau zwischen einundzwanzig und zweiundzwanzig, in einem Ton, der Anna etwas entgegenhalten soll, fast auftrumpfend, als sei das die beste Antwort, die man auf Annas Frage geben kann.
Sie stehen ein bißchen verloren. Anna sagt, ich habe keine Zeit, du siehst ja, dreht sich um und deutet in die Menge, mit einer Geste, die ihr nicht gefällt, weil sie zu groß geraten ist. Márti erwidert, ja, ich sehe es, bleibt aber trotzdem stehen, rührt sich nicht, als sei das kein Grund, nicht für sie, als habe sie das Recht, das unbedingte, bei Anna, mit Anna zu sein. Sie verabreden sich für den nächsten Tag. Anna schlägt vor, sie solle ihre Eltern mitbringen, die anderen auch, am besten die ganze große Familie, und Márti sagt, das werde ich, wieder in diesem Ton, lauter, forscher, als habe sie gesiegt, einen Kampf für sich entschieden. Sie umarmen sich noch einmal, zum Abschied, etwas länger, etwas fester, ihnen gelingt ein Lachen, und Anna sagt, wie zur Belohnung, schön, daß du gekommen bist, es ist schön, dich zu sehen.
Sie treffen sich an einer der großen Straßen, die sonst mit ihrem Lärm die Stadt zerschneiden, sonntags aber kaum befahren sind. Anna sieht sie von weitem, wie sie an der verabredeten Ecke stehen, wenige Schritte hinter der Oper. Sie drehen sich suchend um, sie wissen nicht, von wo Anna kommt, sie kennen weder die Straße noch das Hotel, in dem sie übernachtet. Anna kann sich ihnen nähern, unbeobachtet, plötzlich hinter ihnen stehen, auf eine Schulter tippen, die Arme ausbreiten, als sei das die Geste, auf die alle gewartet haben, und sagen, hallo, da bin ich. Sie haben sich nicht verändert. Anna könnte nicht einmal sagen, ob sie älter geworden sind. Vielleicht sind sie schmaler, blasser auch, aber nur, wenn sie genau hinsieht.
Mártis Vater, Anna hatte ihn größer in Erinnerung. Sein Bart zeigt ein erstes Grau. Zsóka hat sich kein bißchen verändert. Nicht einmal ihr Haar trägt sie anders. Es ist immer noch so, wie sie es trug, mit fünfzehn, mit zwanzig, mit dreißig, und wie Anna es mochte, dunkel, kurz, an der Seite gescheitelt, mit einem Schwung in die Stirn gekämmt, mit dicken Strähnen, die sie mit einer schnellen Bewegung hinter die Ohren klemmt. Sie hat diesen kleinen roten Dreiecksmund, der spitz nach oben zeigt, viel redet und nie etwas Dummes sagt. Schwarz trägt sie. Das ist neu. Einen engen Rock, dazu eine Bluse, am Kragen etwas Spitze, die den Blick bis zu den Schultern zuläßt, und als sei es etwas, das Anna vergessen hat, das sie vergessen konnte, fällt ihr jetzt wieder ein, wie sehr sie alle mochte, wie sehr sie ihr gefielen, und sie begreift nicht, wie sie es zulassen konnte, daß sie nichts voneinander gehört, nichts voneinander gewußt hatten, in diesen Jahren, die Márti haben so groß werden lassen.
Márti ist eine Mischung aus Vater und Mutter, als habe man die beiden geteilt und ineinander verwoben. Sie trägt ihr dunkles Haar im Pferdeschwanz, den sie nicht im Nacken, sondern hoch oben mit einem weißen Tuch gebunden hat, so daß er ihr als Fragezeichen in den Nacken fällt. Ihre Sonnenbrille, mit Gläsern, die nicht zu dunkel sind, steckt über der Stirn im Haar. Ihre Haut ist hell, zeigt winzige braune Punkte unter den Augen, auf den Wangen. Ihr Blick ist so, als entgehe ihm nichts. Sie sehen sich an, beteuern einander, wie wenig, wie gar nicht sie sich verändert haben. Sie stehen an dieser großen Straße, auf der es still bleibt, an einem Sonntag, im März, unter einem blauen Stadthimmel, der den Frühling lockt und zum ersten Mal, seit Anna hier ist, das Grau der Fassaden verdrängt.
Blumen haben sie für Anna mitgebracht, kleine gelbe und weiße Blumen, und niemand spricht diesen Vorwurf aus, vor dem Anna Angst hatte und auf den sie alberne Antworten vorbereitet hat, der Vorwurf, warum sie sich nicht meldet, wenn sie in der Stadt ist, auf einem dieser Kongresse, die sie nicht mag und doch immer wieder besucht, warum sie nicht anruft, nach so vielen Jahren, um zu sagen, ich bin da, um zu fragen, habt ihr Zeit, wollen wir uns sehen?, und warum sie Anna erst im Radio hören müssen, zufällig, beim Frühstück, am Samstagmorgen, wenn sie bei ihrem ersten Tee sitzen, schlaftrunken, kaum wach, um zu erfahren, daß sie hier ist, nach Jahren zum ersten Mal wieder hier ist, und warum Márti dann durch die ganze Stadt fahren muß, um sie aufzusuchen und ihr zu sagen, wir wollen dich treffen, wir wollen dich sehen.
Gestern abend hat sie darüber nachgedacht, als sie ins Hotel gefahren ist, zurück vom Kongreßzentrum, mit ihren Unterlagen, ihren Zetteln und farbigen Folien, im Taxi, da sie die U-Bahn nicht erträgt, mit den endlosen Rolltreppen in die Tiefe, dem Gestank, der Hitze, den Türen, die sich in Sekundenschnelle schließen, als müßten sie etwas zerschneiden, und später, in ihrem Hotel, in dem sie kein Zimmer, sondern eine ganze Wohnung hat, mit Küche und Schlafzimmer und einem Bad mit freistehender Wanne, in die sie sich jeden Abend gelegt hat, um sich den Staub, den Schmutz abzuwaschen, von dem sie immer noch glaubt, daß er wie nichts anderes mit dieser Stadt verbunden ist.
Anna hat an Antworten gefeilt, auch später noch, als sie im Bademantel vor dem Fenster saß, vor diesem großen Fenster, das von einer Wand zur anderen reicht, von der Decke bis zum Boden, und das Haus gegenüber zeigt, das so nah steht, daß man hinüberspringen könnte, ein Haus mit abgeschlagener, dunkler Fassade, blätterndem Putz, mit braunen Fensterrahmen aus Holz, die nackte Glühbirnen in ein Rechteck setzen. Anna hat nachgedacht über lächerliche Antworten, auch heute morgen noch, in diesem Frühstücksraum ohne Fenster, in dem es jeden Morgen das gleiche gibt, weißes Brot, trockenen Käse, Marmelade in Blechdöschen, und in dem die ganze Woche eine Frau mit zwei Kindern, zwei blonden Mädchen, neben ihr gesessen hat. Anna hat keine Zeitung gelesen, nicht heute morgen. Sie hat nachgedacht, über Antworten, die sie geben könnte, die aber alle nicht erklären, warum sie sich nicht gemeldet...
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