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Was meinen wir, wenn wir von Realität sprechen? Was bedeutet Realismus im Denken? Wie tritt der Mensch in Kontakt mit der Wirklichkeit und bildet ein Bewusstsein von ihr aus? Diese Grundfragen der Philosophie haben Hans Blumenberg zeit seines Lebens beschäftigt und sind als wichtige Unterströmung in vielen seiner Bücher präsent. Eine eigene Monographie zum Thema hat er nie publiziert, er hat sie aber projektiert, wie aus seinem Nachlass hervorgeht. Dort findet sich unter dem Kürzel REA ein umfangreiches Konvolut druckreifer Texte aus den 1970er Jahren, und auch einen Buchtitel hatte sich Blumenberg schon notiert: »Realität und Realismus«.
In intensiver Auseinandersetzung mit dem Wirklichkeitsbegriff, und zwar sowohl in systematischer als auch in historischer Hinsicht, arbeitet Blumenberg meisterhaft dessen historische, anthropologische und kulturelle Dimensionen heraus. Er zeigt unter anderem, dass die Thematisierung dessen, was wir Wirklichkeit nennen, auf Umwegen geschieht und auch erst dann, wenn wir durch eine Störung gezwungen werden, unseren selbstverständlichen Weltzugang zu hinterfragen. Realismus und Realität ist ein Glanzstück und entscheidender Baustein von Blumenbergs Theorie der Lebenswelt.
Der Wirklichkeitsbegriff einer Epoche bleibt in ihren Zeugnissen stumm. Er ist mit den klassischen Mitteln der historischen Dokumentation nicht zu belegen. Das ist kein zufälliger Mangel, sondern wesentlich begründet in der eigentümlichen Selbstverständlichkeit, mit der das Wirkliche sich jeweils als solches ausweist. Dieser Selbstausweis ist weitgehend nackte Lebensbedingung und insoweit gesichert gegen Problematisierung. Problematisierung ist Luxus. Sie wird erst dann vorgenommen, wenn ihr Risiko nicht mehr letal ist, und von denen vorgenommen, für die es am wenigsten letal werden kann. Der beamtete Lehrer ist der geborene Problematisierer.
Jede geschichtliche Gegenwart macht von ihrem Wirklichkeitsbegriff ständig Gebrauch - also mehr als von jedem anderen ihrer expliziten Begriffe -, aber nicht in der Weise, daß sie von ihm redet. Erst dadurch, daß das Verständnis von Wirklichkeit selbst Geschichte hat, der Geschichte unterliegt, daß es also abgelöst werden kann und abgelöst wird durch ein anderes Verhältnis zur Wirklichkeit - erst dadurch entstehen überhaupt charakteristische Zeugnisse für den Wirklichkeitsbegriff. Sie sind Zeugnisse der Kritik am Wirklichkeitsverhältnis der jeweils vergangenen Geschichtsphase, und zwar gerade dadurch, daß sie dieses überhaupt auszusprechen für nötig befinden, und durch die Antriebe, die dies nötig machen. Solche Zeugnisse geben uns überhaupt Aufschluß über den Wandel der Merkmale, an denen sich Realität herausstellt und kraft deren sie sich als solche durchsetzt.
Für diesen Sachverhalt gilt Hegels Verdikt über die Philosophie, daß die Eule der Minerva ihren Flug erst in der Dämmerung beginnt. Nur begreifen wir anders, weshalb das so ist. Nicht weil die Arbeit des Begriffs die späte oder gar letzte ist, sondern weil der Sachverhalt erst zutage tritt, wenn die triviale Selbstverständlichkeit seiner Geltung durchbrochen wird, wenn die Überholtheit der Formeln, in denen sich der implikative Begriff verbirgt, den Hohn seiner Kritiker hervorruft. Es 38ist immer zu spät, über die schon eingetretene Unverbindlichkeit nicht nur der Normen, sondern auch der letzten Begriffe von Wirklichkeit zu spotten; aber es ist nicht zu spät zu begreifen, wie der Mechanismus der Selbstverständlichkeit funktioniert, wenn man sich der Drohung seiner Dekadenz bewußt wird. Wir gewinnen dadurch, daß wir Geschichte haben und sie sich uns in den Formeln der Entleerung und Verblassung präsentiert, zumindest an Aufmerksamkeit für das, was uns evident erscheint, es aber nicht dauerhaft sein muß.
Aufschlußreich für kritische Umbruchsituationen im elementaren Untergrund der Implikationen, die nicht das Unbewußte sind, ist die sich äußernde Enttäuschung über die Leere der Sprache. Es würden >bloße Worte< gemacht, es würde nicht von den Sachen selbst und nicht von den Realitäten, auf die es ankomme, gesprochen, es würde um die Sache herumgeredet, es sei alles bloße Rhetorik - dieser Komplex von Vorwürfen und Vorhaltungen ist ein wichtiges Indiz für die Krise, in die die Sprache gerade dadurch kommt, daß es unsicher geworden ist, welches die letzte Instanz für alles Sprechen sei, welches das Kriterium sei für Realismus, für den Wirklichkeitszugang. Es ist die Entdeckung der Renaissance, die doch ihrerseits für unser Verständnis hochgradig rhetorisch ist, daß die Scholastik aus bloßen Begriffskunststücken und leeren Worthülsen ihre Summen aufgebaut habe. Da entsteht dann auch, wie etwa bei Francis Bacon, der Verdacht, die Sprache gehöre zu den großen Verführern des Menschen. Sie mache ihn zu seinen Illusionen zumindest geneigt. Sie sei das Medium der sozialen Unwahrhaftigkeit. Sie lasse vergessen, daß sie zumindest einen Anfang habe oder nehmen müsse bei den einfachen Sachverhalten, den schlichten Wahrnehmungen, den nackten Wahrheiten. So erwehrt sich der Positivismus noch der vermeintlichen Spätform von Metaphysizismen mit seiner Forderung, alles auf Protokollsätze zu reduzieren, in denen dem Atomismus der Natur der Atomismus der Sprache angeglichen werden soll. So widersetzt sich die beginnende Phänomenologie dem Anspruch der sich der Physik annähernden Psychologie, alles durch den Mechanismus der Assoziationen erklären zu können, indem sie das Postulat der ausschließlichen und strikten Beschreibung von Anschauungen aufstellt. Das verbindet sie mit der Erwartung oder der Erweckung der Erwartung, nun endlich werde durch die Verkleidungen der sprachlichen Kon39vention und der wissenschaftlichen Fachterminologien durchgestoßen >zu den Sachen selbst<.
Es gilt heute als beschlossene Sache, daß der Mensch, wenn nicht der Gefangene der Sprache, so doch ihr Verführter sei. Aber in der Erfahrung, daß die Sprache in Krisen geraten kann, wird doch diese Gefangenschaft aus der Situation der Entlassung gedeutet. Damit zugleich wird auch in Erfahrung gebracht und in Wachsamkeit umgesetzt, daß sie nicht das notwendige und undurchbrechbare Verhängnis ist. Darin liegt die Bedeutung der geschichtlichen Krisen des Wirklichkeitsbewußtseins und ihrer sprachlichen Manifestation.
Wirklichkeit ist ein Kontrastbegriff. Für den Wirklichkeitsbegriff können sprachliche Äquivalente dem lexikalischen Bestand nicht leicht entnommen werden. Der Grund dafür ist seine vorwiegend pragmatische Funktion. Für diese ist die Vermeidung des Unwirklichen noch wichtiger als das Auftreffen auf das Wirkliche. Wirklich ist, was nicht unwirklich ist. Diese Formel verweist auf den Umweg über das, was jeweils unter der Schwelle nicht so sehr der Wahrnehmbarkeit als vielmehr der Wahrnehmungswürdigkeit, der Beachtbarkeit, der Einkalkulierbarkeit liegt. Die Geschichtlichkeit des Wirklichkeitsbegriffs beruht gerade darauf, daß die Möglichkeiten von Unwirklichkeit unerschöpflich sind und jeweils die Richtung angeben, in der auf das Residuum gezielt und geachtet werden kann, das den Namen >Realität< trägt. Die Freilegung des Illusionären garantiert nie für den Rest des derart nicht Freigelegten, daß es bleibend und zuverlässig das Reale wäre. Theoretisch ausgedrückt: Die Falsifikation ist das schlechthin nicht Einholbare. Es könnte alles nach dem Muster der Zwiebelschälung verlaufen. Davon später.
Daß Wirklichkeit ein Kontrastbegriff ist, bedeutet, daß im Erlebnis und im Ausdruck gerade auftritt und aufgemacht wird, was als das jeweils Unwirkliche durchschaut werden kann, entzaubert und bloßgestellt werden soll. Das vermeintlich Überlebte ist das, was unglaubhaftig gemacht wird, die Illusionen von gestern sollen zum Ärgernis werden, indem sie bis zur Karikatur herauspräpariert werden. >Kritik< wetzt sich an dem, was schon nicht mehr selbstverständlich ist. So paradox es klingen mag: nicht Wirklichkeit wird als Wirklichkeit erfahren, sondern Unwirklichkeit als Unwirklichkeit. Das heißt: Realität ist ein implikatives Prädikat, da sie schon kein reales Prädikat mehr ist.
40Daß ein Wissenschaftshistoriker von einem der Großen der Naturwissenschaft (Kepler) sagt, er habe einen neuen Begriff der Wirklichkeit gehabt oder hervorgebracht, verstehen wir als eine starke Behauptung, aber erst im zweiten Schritt werden wir uns dessen bewußt, daß wir nicht sehr genau wissen, was damit als der >alte Wirklichkeitsbegriff< mit hereingezogen wird.[25] Oder wenn von einem anderen der großen Urheber gesagt wird, es sei der Begriff der Wirklichkeit selbst, der ihn bewegt (Descartes), dann ist das gewiß keine sinnlose Behauptung, aber auch eine, für die sich sehr schwer eine genauere Umschreibung geben ließe.[26]
Selbst den Platonismus mit seinem absoluten Wirklichkeitsvorrang der Idee vor der Erscheinung kann man benutzen, um einen anderen Wirklichkeitsbegriff durch Diskriminierung eben des platonischen anzuheben. Zu sagen, etwas sei wirklicher als die Idee, ist von rückwärts her gesehen eine Ungeheuerlichkeit, obwohl Plato selbst die Hyperbel mit der Idee des Guten epekeina tes ousias[27] gewagt hat. Aber rhetorisch und momentan ist das genau diejenige Übersteigerung, die ein Wirklichkeitsbegriff benötigt, um sich selbst für uneinholbar und unüberbietbar zu erklären. Es ist genau diejenige Unüberbietbarkeit, die im Begriff der Idee selbst einmal gelegen hatte und liegen sollte, als sie gegen den Leichtsinn der...
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