Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
»Schließlich sollte man die Tricks, von denen ich gesprochen habe, dingfest machen, ihnen sehr drastische Namen geben, sie genau beschreiben, ihre Implikationen beschreiben und gewissermaßen versuchen, dadurch die Massen gegen diese Tricks zu impfen, denn schließlich will niemand ein Dummer sein.«
Theodor Adorno (1967)1
»Sich als Opfer zu definieren ist ein Bestreiten dessen, was uns zu Menschen macht.«
Jonathan Sacks (2015)2
Trotz zunehmender Sommerhitze strömen jährlich mehr und mehr Menschen aus aller Welt nach Griechenland, vor allem nach Athen und auf die Akropolis. Und das ist kein Zufall: Bis zu 80 Prozent der Landfläche sind von Bergen bedeckt, sodass sich die Menschen seit jeher an den Ufern der Flüsse und an den Küsten der vielen Inseln sammelten. Große Königreiche konnten sich dort kaum entfalten; Alexander der Große (356-323 v. Chr.) musste aus seiner Heimat nach Osten ziehen, um sich ein großes Reich erobern zu können.
Doch genau in dieser Zergliederung lag zugleich eine große Chance: Wie in anderen Gebirgsregionen entstanden viele kleinere Fürstenhöfe, aber auch Stadtstaaten und sogar Republiken mit Volksversammlungen. Als dann noch die Alphabetschrift vom heutigen Israel über das Mittelmeer kam, wurde buchstäblich »Geschichte geschrieben«: Mehr und mehr Briefe und Belege, Gesetze und Gedichte, schließlich Theaterstücke und Theorien entstanden, und viele blieben erhalten. So wissen wir heute sehr viel über die Mythen und Rituale, die Traditionen, die Schlachten, die Philosophien dieser Region, aber auch zum Beispiel über die Olympischen Spiele.
Die Hebräer, die ihr Alphabet vor allem für die Religion pflegten, führten ihre eigene Schrift auf den Noahsohn Sem zurück und identifizierten die griechische Tradition mit dessen Bruder Japhet. Das heutige Israel wurde zum Geburtsland der Bibel und des Monotheismus, das heutige Griechenland zum Ursprungsland von Philosophie und Wissenschaft.
Verbindungen beider Traditionen blieben nicht aus: So wurde Rabbi Jehoschua, der von seinen Anhängern als der erhoffte Moschiach (Messias) verehrt wurde, griechisch zu Iesous Christos. Er ist bis heute der erste Mensch, der in der Literatur als »Rabbi« (= Lehrer) bezeichnet wurde.3
Schon damals gab es - wie heute - Kritiker von neuen Medien. Zu diesen gehörte der Athener Sokrates (469-399 v. Chr.). Er hatte als tapferer Soldat gedient, war verheiratet, angesehen in der Stadt, und er pflegte eine Philosophie des gesprochenen Dialoges. Durch die Alphabetschrift sah er das traditionelle Verhältnis von Lehrenden und Lernenden bedroht - würde nicht »die Jugend« nur noch lesen, ohne sich wirklich auf die Dialoge der Weisheit einzulassen? Und so zog Sokrates hadernd durch die Straßen von Athen. Zudem hinterfragte er die staatstragenden Götter und nahm für seine Dialoge kein Geld, wie es seine Konkurrenten taten. Er wurde von einer Volksversammlung mit knapper Mehrheit zum Tode verurteilt und mit einem Giftbecher hingerichtet. Zumindest schrieben dies Schüler und Verehrer von ihm, vor allem Platon (428-348 v. Chr.), so auf.
Diese Geschichte vermittelt eine tiefe Erkenntnis über die Macht von Medien: Ohne die Alphabetschrift, die Platon nutzte, wüssten wir heute nichts von der Alphabetkritik des Sokrates. Die Sieger schreiben die Geschichte - das bedeutet im Umkehrschluss auch: Jene, die schreiben, bleiben. Wir begegnen dieser Medienmacht schon bei den ältesten Höhlenmalereien und bei allen folgenden Medien bis hin zur heutigen KI.
Aber zunächst interessiert uns: Was ist passiert? Warum ließ die erste bekannte Demokratie der Menschheit gleich mal einen friedlichen Philosophen hinrichten - und feierte ihn erst nach seinem Tod und bis heute? Und ist da nicht eine erstaunliche Parallele zum Schicksal vieler Juden einschließlich des Rabbi Jesus? Könnte es sein, dass wir Menschen oft mit Verschwörungsvorwürfen und Gewalt gerade auf jene Menschen reagieren, die uns mit unbequemen Wahrheiten konfrontieren?
Aus heutiger Sicht ist die klare Antwort: Ja, das ist so. Der Holocaust-Überlebende und große Philosoph zu Münster, Hans Blumenberg (1920-1996), formulierte es am Ende seines Lebens mit trauriger Weisheit so: »Nichts ist weniger sicher, als daß die Wahrheit geliebt werden will, geliebt werden kann, geliebt werden darf.«4
Und die meistgenutzte Waffe, mit der wir Menschen uns die Verkünder unbequemer Wahrheiten vom Hals schaffen, ist der Verschwörungsmythos: »Der« oder auch »die« stünden mit fremden Mächten im Bunde, würden die bestehende, heilige Ordnung bedrohen und die Jugend irreführen! Sie müssten vertrieben - oder besser noch: eingesperrt und hingerichtet - werden!
So tönte es schon im alten Athen, im alten Jerusalem, und genauso tönt es auch heute noch auf unseren Straßen und vor allem im Internet, sobald etwa eine Pandemie, ein Krieg, ein Skandal oder auch nur eine neue Technologie, eine neue Schreibweise die bisherige Ordnung bedroht: »Die« sind schuld! »Die« müssen weg! Diesmal haben sich »die« mit den Falschen angelegt!
Liebe Leserinnen, liebe Leser: Willkommen in der dunklen Welt der menschlichen Verschwörungsmythen! Danke, dass Sie den Mut haben, sich diesem schmerzhaften Thema zu stellen. Denn es widerspricht dem Menschenbild, das gerade auch wir Europäer uns seit rund zwei Jahrhunderten gern selbst erzählt haben: Wir Menschen, vor allem weiße Männer, seien grundsätzlich vernünftige, nach Wahrheit strebende und gutwillige Wesen, die die Welt Stück für Stück besser machen. Für die Jahrtausende von Sklaverei, Frauenhass und Menschenopfer, für massenhafte Hinrichtungen vermeintlicher Hexen und Verschwörer, für Antisemitismus und Rassismus, für all die Kriege und Massenmorde gerade auch des 20. Jahrhunderts haben wir uns feine Erklärungen zurechtgelegt, warum diese »uns« nicht mehr betreffen.
Doch in den fünf Jahren seit der ersten Ausgabe von »Verschwörungsmythen« haben mehr und mehr von »uns« begriffen, dass mit diesem Menschenbild etwas nicht stimmt und dass Verschwörungsmythen auch in den eigenen Familien, Freundes- und Bekanntenkreisen Anklang gefunden haben. In ihrer ebenso tiefen wie traurigen Graphic Novel »Der Große Reset« beschreibt Ika Sperling das Abdriften des eigenen Vaters aus einer rheinischen Kleinstadt in Verschwörungswelten bis zum kompletten Bruch mit Familie und Heimat.5 Inzwischen ist er verstorben.6
Und noch etwas hat sich in den letzten fünf Jahren verändert - noch während sich die Welt der Kommunikation durch antisoziale Medien revolutioniert, ist sogenannte Künstliche Intelligenz (KI) auf den Plan getreten und erweist sich als Gamechanger.
Bisherige Medienrevolutionen brauchten sehr lange, bis sie sich über die Welt ausbreiten und die Hälfte der Weltbevölkerung erreichen konnten: Das Alphabet brauchte dafür über zwei Jahrtausende, der Buchdruck um die fünf Jahrhunderte, Telegramm, Radio und Fernsehen immer noch mehrere Jahrzehnte. Doch das Internet als »World Wide Web« startete 1991, das erste Smartphone 2008, die erste große KI ChatGPT 2022 - und sie umspannten die Welt in wenigen Jahren, Monaten, Wochen, zuletzt Tagen.
Wer heute lebt, gehört zu den ersten Generationen der Menschheit, die gleich mehrere Medienrevolutionen miterleben und zu verarbeiten haben. Das klappt einerseits erstaunlich gut; noch nie in der Geschichte haben sich so viele Menschen »im Netz« etwa über Politik, die Wissenschaft der Klimakrise oder Krankheitserreger informiert. Es war aber auch noch nie so leicht, in die Welt der Verschwörungsmythen abzubiegen und sich einreden zu lassen, hinter Demokratien, der globalen Erhitzung und dem Covid-19-Virus stecke eine bösartige Weltverschwörung.
Immer mehr Menschen fühlen sich zeitweise überfordert - und ich nehme mich selbst dabei gar nicht aus. Gerade weil ich als Jugendlicher programmiert habe, mich sehr für Wissenschaft interessiere, täglich mit Medien arbeite und am KIT Karlsruhe Medienethik unterrichte, versuche ich, »up to date« zu sein. Das Ergebnis sind wachsende Stapel von Fachbüchern und -artikeln, eine tägliche Flut von Mails, Anfragen, auch Hassnachrichten, Einladungen sowie Anwendungen, die auszuprobieren seien. Gesund ist das manchmal nicht mehr.
Die Eltern meiner Frau schilderten, wie die Menschen in den türkischen Dörfern ihrer Kindheit zusammenliefen, wenn ein Reisender Nachrichten und Geschichten aus den großen Städten mitbrachte. Heute leben sie in einem rasenden Medienstrom in mehreren Sprachen und nutzen Computer, eBay, Smartphones, Elektroautos.
Manche meiner Studierenden im Alter unserer Kinder haben den immer schnelleren Wechsel aus Neugier, Begeisterung und Erschöpfung schon so oft durchlaufen, dass sie dazu nach Rat, nach Dialog suchen. Denn weder die biologische noch die kulturelle Evolution hat uns hierauf vorbereitet.
Verschwörungsmythen sind ein falscher Versuch, den tsunamiartigen Medienstrom wieder zu bändigen und zu ordnen: Es sei doch alles ganz einfach, »die da oben« seien schuld! Die Pandemie, der Krieg, die Wirtschaftskrise seien doch nur inszeniert, damit »die« noch mehr Macht und Reichtümer ansammeln könnten. In Fachdeutsch formuliert: Durch Verschwörungsmythen...
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