Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
»Nichts ist weniger sicher, als daß die Wahrheit geliebt werden will, geliebt werden kann, geliebt werden darf.«
Hans Blumenberg (1920-1996)1
»Man muss das positiv sehen. Es ist zwar das Ende der Welt, wie wir sie kennen, aber wir lernen auch total viel über Statistik dabei!«
Lars Fischer, Wissenschaftsblogger2
Der große Philosoph Hans Blumenberg hat einst die Entdeckung gemacht, dass wir Menschen - alle Menschen - »Namen« und »Mythen« benötigen, um dem »Absolutismus der Wirklichkeit« standhalten zu können. Denn mit der Entwicklung des Bewusstseins hätten schon unsere Vorfahrinnen und Vorfahren die »Risiken des erweiterten Horizontes« erfahren: das Unbekannte, Zukünftige, Fremde, ja den unvermeidbaren Tod. Mit Bezug auf einen Hirnforscher hat Blumenberg erkannt, »daß Angst immer wieder zu Furcht rationalisiert werden muss«3 - also mit Namen benannt, mit Geschichten eingekreist und beherrschbar erzählt werden muss. »Geschichten werden erzählt, um etwas zu vertreiben. Im harmlosesten, aber nicht unwichtigsten Falle: die Zeit. Sonst und schwererwiegend: die Furcht.«4
Doch heute stürzt der vermeintlich so ferne »absolute« Horizont sowohl durch Digitalisierung wie Klimakrise direkt auf uns zu. Texte, Bilder, Töne rasen in einem niemals gekannten Tempo um den Erdball und globalisieren, beschleunigen und personalisieren die Wahrnehmungen. Noch nie war es so leicht, sich nahezu in Echtzeit etwa über die Covid-19-Pandemie oder die rasch eskalierende Klimakrise in allen Erdteilen zu informieren, zu lesen, zu hören, Bilder und Videos zu sehen. Gleichzeitig war es aber auch noch nie so leicht, sich in eine digitale Parallelwelt zurückzuziehen, in der die Existenz des Virus und die globale Erwärmung geleugnet und die Berichte als Weltverschwörung abgetan werden.
Auch die Abwehr-Sprache ist dabei religiös durchtränkt. So warf mir ein Kommentator noch am 7. August 2021 zu einem Blogpost öffentlich vor, ich sei ein »Zeuge Coronas und Klimawandeljünger respektive Klimawandelprophet«.5 Dieser Vorwurf wurde nicht zufällig auf meinem Wissenschaftsblog bei den scilogs von Spektrum der Wissenschaft kommentiert, auf dem auch der eingangs zitierte Lars Fischer seit vielen Jahren erfolgreich bloggt. Das einerseits hohe Interesse an wissenschaftlich informierten Texten, die andererseits massive und sogar zunehmende Abwehr dagegen gehören zu den Erfahrungen, von denen wissenschaftliche Bloggerinnen und Blogger heute täglich zu berichten haben.
Wenn wir Blumenbergs wegweisender »Arbeit am Mythos« weiter folgen, dann ist es kein Zufall, dass auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit dem religiös konnotierten Vorwurf als »Zeugen Coronas«, ja als Jünger, gar Propheten einer Klimareligion konfrontiert werden. Denn wir erleben jetzt den Zusammenbruch von Zukunftsvertrauen auch »durch« Forschungsergebnisse und gleichzeitig ein aggressives Aufkommen von Verschwörungsmythen »gegen« Wissenschaft. Damit träte nach Blumenberg aber ein religiöser Ernstfall ein, wenn die alten Mythologien ihre Funktion kaum mehr erfüllen könnten, denn der »Mythos repräsentiert eine Welt von Geschichten, die den Standpunkt des Hörers in der Zeit derart lokalisiert, dass auf ihn zu der Fundus des Ungeheuerlichen und Unerträglichen abnimmt«.6
Wir dürfen hier an einen Gottesdienst denken, in dem Geistlichkeit und Gemeinde einander segnen und beschützen, einen Zeit-Raum außerhalb der weltlichen Bedrängnisse und Nöte erschaffen. 2020 aber war doch genau das Gegenteil der Fall - wegen eines Virus mussten Gottesdienste abgesagt und ins Digitale verlegt werden, und auch gegen die globale Erwärmung erwiesen sich Gebete allein als wirkungslos. Wissenschaft und Tagesnachrichten konfrontieren uns mit einer Realität aus Klimakatastrophen wie allsommerlich eskalierenden Feuersbrünsten und schmelzenden Gletschern.
Dazu schilderte Blumenberg jene »Mythe« zur »Eroberung Athens durch Xerxes«, nach der »der Ölbaum neben dem Meerwasserbrunnen schon am zweiten Tag nach dem Brand aus dem Stumpf wieder einen Schoß getrieben« habe.7 Zudem präsentierte er den Noah-Sintflut-Mythos als »Verfahren des Nachweises von Zuverlässigkeit« des »durch den Regenbogen festgestellten biblischen Gottesschwures, keine zweite Ausrottung der Menschheit durch Wasser zu vollziehen«.8
Der vom NS-Staat wegen seiner jüdischen Mutter 1940 aus dem Priesterseminar gedrängte Blumenberg wusste dabei, wovon er sprach. Verfolgungen, Todesängste und Morde an Angehörigen, die militärische Niederlage des Deutschen Reiches, die beständige, auch atomare Bedrohung des »Kalten Krieges« und die beschleunigende Wirkung der elektronischen Medien Radio, Telefon und Fernsehen hatte er jeweils am eigenen Leib erlebt. Nach dem Warnruf »Die Grenzen des Wachstums« des Club of Rome von 1972 erfuhr sich der Philosophieprofessor in einer Zeit von wissenschaftlich, »professionell oder gar professoral ausgemalten Schrecknissen der Gegenwart und erst recht der Zukunft«, die jeden interessierten Menschen mit dem erschreckenden »Absolutismus der Wirklichkeit« konfrontierten.9 Menschen konnten darauf mit Ablenkung - Unterhaltung, Zerstreuung, Verdrängung - oder mit bedeutungsvollen, tröstenden, ermutigenden Mythologien reagieren.
Blumenberg entdeckte, »daß die Antithese von Mythos und Vernunft eine späte und schlechte Erfindung ist«, weil »die Funktion des Mythos bei der Überwindung jener archaischen Fremdheit der Welt selbst als eine vernünftige anzusehen« sei.10 Wir bräuchten Geschichten, um in der wissenschaftlich erkundeten Welt erst vernünftig, heimisch und tätig werden zu können.
Zuversicht und Weltvertrauen, die von gewachsenen und bewährten Mythen gespendet werden, würden laut Blumenberg auch von den Wissenschaften gebraucht, um sich, wenn auch eher langsam, im Bewusstsein von Menschen durchzusetzen: »Wissenschaft kann warten oder steht unter der Konvention, es zu können«, beobachtete er, wogegen »Rhetorik den Handlungszwang des Mängelwesens« voraussetze.11 Formulierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihre Forderungen zu laut und zu schnell, so würden sie auf die Furcht und die Abwehr vieler Menschen treffen - wie wir sie heute im ängstlichen Spott über »Zeugen Coronas« und »Klimapropheten« erfahren.
Stehen wir also vor einem schlimmen Szenario, in dem Millionen, wenn nicht Milliarden Menschen ihren alten Mythen nicht mehr vertrauen und die wissenschaftlichen Erkenntnisse etwa zur Klimakatastrophe nicht mehr ertragen können? Beobachten wir nicht bereits, dass sich große Teile der Weltbevölkerung einschließlich populistischer Anführer trotzig und oft aggressiv in die Schein-Wahrheit und Schein-Sicherheit von Verschwörungsmythen flüchten und geradezu Kreuzzüge gegen Wissenschaft und Wahrheit führen, statt sich der tatsächlich beängstigenden »absoluten Wirklichkeit« zu stellen? Und was bedeutet es umgekehrt für - nichtreligiöse wie religiöse - Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, dass sich so viele Menschen ihren Erkenntnissen verweigern, auch dann noch, wenn sich die Prognosen schon sichtbar einstellen?
In diesem Buch werde ich die These vertreten, dass wir mit dem Zusammenbruch der Welt, wie wir sie kennen, auch eine grundlegende Transformation von Mythologien, Religionen und insbesondere auch der Kirchen erleben. Auch das optimistische Menschenbild der liberalen Aufklärung - der Mensch als grundsätzlich vernunftbegabt und dialoggewillt - stürzt in sich zusammen. Neben dem millionenfachen »Rückzug« aus den Religionsgemeinschaften in eine angefochtene, säkulare Individualität steht ein nicht nur in den USA starker »Kreuzzug« gegen die als bedrohlich und verschwörerisch empfundenen Erkenntnisse der Wissenschaften.
Dieses Buch schließt eine Religions-Trilogie ab. Mit »Islam in der Krise« durfte ich auf Basis von Daten und eigenen Beobachtungen im Nahen und Mittleren Osten Befunde zum Zerfall einer großen Weltreligion veröffentlichen.12 Als wissenschaftlich überprüfbare Gründe wurden dafür die Verzögerung des Buchdrucks arabischer Alphabet-Lettern vom 15. bis ins 19. Jahrhundert sowie der massive Verkauf fossiler Rohstoffe durch strukturell autoritäre Öl-Rentierstaaten wie Libyen, Saudi-Arabien, Irak, Iran und Brunei aufgezeigt. Ermutigend war dabei, dass im Gegensatz zu manchen Vorhersagen gerade auch Musliminnen und Muslime überwiegend interessiert, ja dankbar auf die Erkenntnisse reagierten. Die Frage, warum die Wissensblüte der islamischen Zivilisationen ab dem 15. und 16. Jahrhundert abgerissen war, hatten sich längst viele gestellt - und die vielfach propagierte jüdisch-westliche Weltverschwörung als zunehmend unplausibel empfunden. Und der massive Einfluss der Medien auch auf den religiösen Glauben war vielen aus dem eigenen Umfeld wie auch im Hinblick auf das »digitale Kalifat« der Terrormiliz des selbsternannten »Islamischen Staates« völlig präsent.13 Schließlich bin ich zu Lesungen und Diskussionen zu »Islam in der Krise« sogar in Moscheen eingeladen worden.
Im zweiten Band...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.