1. Kapitel
»Ruby, verdammt noch mal, wo bleibst du?«
Der Steamer gab ein lautes Zischen von sich, und ich konnte Eleanors Umrisse durch die gewaltige Wolke, die er ausstieß, nur verschwommen erkennen. Ihre Worte klangen dagegen umso schärfer. Schnell steckte ich das Dampfbügeleisen zurück in seine Halterung.
»Ich will nur noch die Knöpfe annähen, gib mir fünf Minuten, dann ist mein Jumpsuit fertig«, antwortete ich.
»Ah, dein Jumpsuit.« Eleanors Stimme triefte vor Ironie, während sie Nicole, Janes Lieblingsmodel, im Spiegel begutachtete. Nicole trug ein langes helles Kleid mit dunkelblauem Ikat-Print und hohem Beinausschnitt. Sie überragte Eleanor um einen Kopf.
»Vergiss es! Diese alten Klunker machen ihn auch nicht besser.« Ich hatte in einem Vintageladen in Hackney Knöpfe aus den Fünfzigerjahren gekauft, die mit mintfarbenem Stoff überzogen waren. Exakt fünfzig Stück. Fünf für den Jumpsuit, der am kommenden Montag auf dem Laufsteg bei der Präsentation der Capsule Collection von Jane & the Gang gezeigt werden würde. Und den Rest für die übrigen Stücke, die später in der limitierten Kollektion zu kaufen sein würden.
»Drei Minuten«, wisperte ich. Während sich draußen am Fenster Eiskristalle gebildet hatten, war die Luft im Studio stickig und vor Anspannung geladen. Am kommenden Montag, in vier Tagen, würde die Präsentation stattfinden.
Zum ersten Mal hatten es auch zwei meiner Entwürfe in die Kollektion geschafft, die eine Hommage an Adrian war, den legendären Kostümbildner, der in den Fünfzigerjahren die Silhouette der Hollywoodfilme mit seinen hypereleganten, körperbetonten Kleidern geprägt hatte: ein bodenlanges Kleid aus cremefarbenem Chiffon mit tiefem Rückenausschnitt und ebendieser fließende, wunderschöne Jumpsuit aus grüner Seide, der sich wie eine zweite Haut an den Körper schmiegte.
Ich hatte mich wochenlang mit Adrians Kreationen beschäftigt, mir fast alles angesehen, was er für Greta Garbo, Jean Harlow, Katharine Hepburn oder Joan Crawford geschneidert hatte. Mich dann Tage und Nächte mit meinen Skizzen und Entwürfen beschäftigt, die Tiefe des V-Ausschnitts am Jumpsuit immer wieder geändert, bis er in meinen Augen perfekt gesessen hatte. Mit den Vintageknöpfen wollte ich eine besondere Verbindung zu Adrian herstellen.
»Schluss, du kannst meinetwegen die ganze Nacht Knöpfe annähen, aber jetzt bewegst du dich sofort hierher. Bei keinem anderen Label der Welt steckt die Atelierleitung selbst ab. Als Nächstes bittest du mich auch noch zu steamen.« Eleanor stieß einen erbosten Laut aus, der wie ein trockener Husten klang, drehte sich um und stapfte in Richtung Tür. Mit einem dramatischen Schnauben öffnete sie diese und knallte sie hinter sich zu. Das energische Klackern ihrer High Heels hallte noch eine Weile nach.
Janes rechte Hand sah mit ihrem strengen dunklen Pagenkopf und der Brille mit den getönten Gläsern ein bisschen aus wie Anna Wintour, die legendäre Chefin der amerikanischen VOGUE - und sie benahm sich in den letzten Monaten auch ähnlich exaltiert. Vergangene Woche hatte Eleanor sogar eine Tasse nach meinem Kollegen Juan geworfen. Sie hatte ihn nur knapp verfehlt. Kurz: Ihr Verhalten uns gegenüber war unterirdisch - auch wenn ich Verständnis dafür hatte, dass ihre Nerven gerade blank lagen. Denn die Präsentation der Capsule Collection war für Jane Carter, Gründerin und Chefdesignerin von Jane & the Gang, immens wichtig.
Die Sommerkollektion war komplett verrissen worden: zu düster, zu schwer, zu einfallslos. Sie hatte weder die Modekritiker der großen Magazine und Zeitungen noch die Einkäufer der Luxusstores begeistern können, nur ein paar Influencer posteten Fotos von sich in den armeegrünen, braunen und schwarzen kastigen Entwürfen, aber denen hatten wir die Kleider auch geschenkt.
Ich seufzte und sah auf die Uhr. 22.31 Uhr. Maria, Carla und Juan, die ebenfalls zum Designteam gehörten, waren bereits nach Hause gegangen. Wir hatten um sieben Uhr morgens mit dem letzten Fitting der Kleider angefangen. Mir tränten die Augen, und ich bemerkte ein leichtes Zittern in meiner linken Hand.
»Alte Hexe«, sagte Nicole, als ich mit einer Dose voller Klammern und Sicherheitsnadeln neben ihr stand. »Jane sollte sie feuern.«
»Das wird nicht passieren, eher fliegen wir alle raus«, antwortete ich mit einem gequälten Lächeln. Bis auf das Kleid, das Nicole trug, und »meinen« Jumpsuit waren alle anderen Teile bereits sorgfältig in Plastikhüllen verpackt, auf eine Stange gehängt und mit Nummern versehen worden.
Vorsichtig steckte ich Nicoles Kleid unter den Achseln je einen halben Zentimeter enger, und wir betrachteten das Ergebnis im Spiegel.
»Was meinst du?«, fragte ich sie. »Fühlt sich das besser an?«
»Ja, definitiv.« Nicole lächelte und kniff mich liebevoll in die Wange. »Du siehst todmüde aus und bleich wie ein Gespenst.«
»Eher wie ein Zwerggespenst - neben dir«, gab ich zurück. Nicole war beinahe zwei Köpfe größer als ich. Sie besaß schier endlos lange Beine. Ein Magazin hatte einmal geschrieben, sie habe die längsten Beine Englands mit ganzen 105 Zentimetern. Ich ging ihr mit meinen 165 Zentimetern gerade mal bis kurz unter die Schulter.
Während ich meine dunklen Locken meistens zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte, damit sie mich bei der Arbeit nicht störten, trug sie ihre Haare raspelkurz und weißblond gefärbt, und ihre Augen, die ein wenig schräg standen, strahlten in einem faszinierenden dunklen Blau.
»Seid ihr fertig?«, keifte plötzlich Eleanors Stimme aus dem Hintergrund.
»Sind wir, Eleanor«, antwortete Nicole ruhig, ohne den Kopf zu wenden. »Jetzt sitzt das Kleid dank Rubys Fingerspitzengefühl perfekt.«
Eleanor trat hinter uns. »Dreh dich mal um.« Mit zusammengekniffenen Augen sah sie an Nicole hinunter. »Gut«, sagte sie knapp und nickte.
»Dann gehen wir jetzt nach Hause«, antwortete Nicole und lächelte sie an.
»Du schon, Ruby ab...«
»Kommt mit. Ich fahre um diese Uhrzeit ungern allein mit der Tube.«
Eleanor öffnete den Mund, als wollte sie etwas sagen. Dann schloss sie ihn wieder. Für einen Moment herrschte Stille.
»Wir sehen uns morgen um acht Uhr, Ruby.« Sie drehte sich ohne ein Wort der Verabschiedung um und ließ mich stehen.
Der Wind blies Nicole und mir eisig ins Gesicht, während wir nebeneinander durch die dunkle Novembernacht zur U-Bahn-Station Notting Hill Gate stapften.
»Ich verstehe nicht, warum du dich von der alten Ziege so herumkommandieren lässt«, sagte Nicole. »Du hast so viel auf dem Kasten, und sie behandelt dich wie eine kleine Praktikantin.«
»Ist das nicht bei den meisten Modelabels so?«, fragte ich. »Von Donatella Versace habe ich echt fiese Geschichten gehört. Und von Phoebe Philo ...«
»Eleanor ist weder Donatella noch Phoebe. Sie ist Janes Atelierleitung. Und niemand, auch nicht das größte Modegenie, hat das Recht, seine Mitarbeiter schlecht zu behandeln oder auszubeuten.«
Ich seufzte. »Weißt du, ich hoffe, dass die Präsentation der Kollektion am Montag gut läuft und vielleicht sogar irgendjemand meine beiden Teile ein bisschen aufregend findet und dann ...«
»Ein bisschen?« Nicole sah mich empört an. »Du bist so talentiert! Du musst groß träumen. >Ein bisschen< ... Wenn ich das schon höre! Weißt du was? Ich spendiere uns ein Taxi. Ich will heute einfach so schnell wie möglich nach Hause.«
Sie winkte ein Black Cab heran und gab dem Fahrer unsere beiden Adressen; wir wohnten nur etwa fünf Autominuten voneinander entfernt in Knightsbrigde. Erschöpft ließ ich mich auf die Rückbank sinken und blickte aus dem Fenster.
Auf der Kensington Church Street waren die Läden und die Fassaden der Häuser bereits festlich dekoriert und beleuchtet; in den Fenstern hingen Sterne, Nikoläuse und bunte Kugeln. London hatte sich wie jedes Jahr im November in eine Art Weihnachtswunderland verwandelt. Und im Radio verkündete Bruce Springsteen mit heiserer Stimme: »Santa Claus is coming to town.«
Langsam entspannte ich mich.
»Können Sie bitte den Sender wechseln?«, fragte Nicole den Taxifahrer.
Er reagierte nicht.
»Entschuldigung?« Ihre Stimme wurde lauter, und sie beugte sich vor.
»Ach, komm, ich mag das Lied.« Ich legte ihr eine Hand auf die Schulter.
»Ja, ich weiß. Und als Nächstes läuft dann Driving Home for Christmas. Der Song ist so ein Scherz! Weiß du, wie viele Menschen es gibt, die in diesen Tagen gar kein Zuhause haben? Ich bin echt froh, wenn Weihnachten vorbei ist. Alle sind genervt und gestresst, man schlägt sich zwei Tage lang den Bauch voll und heuchelt Nächstenliebe und dann? Weitere zwei Monate grauer Himmel und...