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Es war jedes Mal dasselbe.
Immer wenn Corinna einen Brief nach Bonn aufsetzen musste, schwebte ihre Feder so lange unschlüssig über dem Bogen, bis sich ein Tropfen Tinte löste und auf das Blatt fiel. Diese Flecken ließen ihre Episteln äußerst lustlos erscheinen.
Das waren sie allerdings auch. Nicht dass Corinna nicht hätte schreiben wollen, aber es war - strapaziös. Seit dem Unfall, dem ihr geliebter Mann Felix und ihr einziger Sohn Johann zum Opfer gefallen waren, hatte sie den Kontakt zu ihren Schwiegereltern so gut es ging vermieden. Sie waren darauf aus, zu reden. Stellten Fragen, vor allem die eine, die ihr die Kraft zum Weitermachen raubte. Warum hatte ihr Sohn mit ihrem Enkel unbedingt die Kutsche besteigen müssen, trotz des Sauwetters, das ihnen schließlich zum Verhängnis geworden war? Weil sie nach Hause gewollt hatten, so einfach war das. Zurück zu ihr, Corinna, die zu Hause in Krefeld geblieben war. Wäre sie mitgefahren, hätten sie alle gemeinsam in Bonn ausgeharrt und bessere Bedingungen abgewartet.
Das schlechte Gewissen brachte sie schier um. Und der Verlust sowieso.
Deshalb war dieser Brief so schwierig. Corinna seufzte unglücklich und untersagte es sich, am Federkielende zu knabbern.
Die bevorstehenden Weihnachtstage blieben besser unerwähnt. Weihnachten, das Fest der Familie, des heimeligen Beisammenseins, der glänzenden Kinderaugen. Darüber konnte sie nichts zu Papier bringen. Es ging einfach nicht. Nicht, nachdem das einzige Kind, mit dem sie diesen Tag hätte verbringen mögen, nicht mehr da war.
Sie strengte sich an, ruhig weiterzuatmen, was ihr schwerfiel, wenn die Erinnerungen an ihren Sohn sie überschwemmten. Drei Jahre hatte sie sich an ihm erfreut, ihm unbekümmert ihre grenzenlose Liebe schenken, ihn verwöhnen dürfen. Drei Jahre waren kurz. Viel zu kurz.
Sosehr sie auch grübelte, ihr fiel nichts ein, was sie hätte schreiben können. Jedenfalls nichts, was über Allgemeinplätze hinausging; jedes Wort blieb fad und blass. Erkundigungen nach dem Wetter, gemeinsamen Bekannten, den aktuellen Geschehnissen, das alles interessierte sie nicht, sie wollte diese Fragen nicht stellen. Bonn allgemein war ihr zuwider, obwohl die Stadt hübsch und sie dort glücklich gewesen war. Das war lange her. Und sie wollte nicht darüber nachdenken.
Angestrengt blickte sie aus dem Fenster, auf der Suche nach Inspiration. Ein paar vereinzelte Schneeflocken tanzten unentschlossen vom Himmel herab, und Corinna zog fröstelnd den Schal enger um die Schultern. Daran kann man sehen, wie überspannt ich bin, dachte sie. Das Zimmer war warm genug, es gab keinen Grund, sich kalt und verloren zu fühlen.
Auf der Treppe waren Schritte zu vernehmen, bedächtige, feste Tritte. Corinna steckte die Feder zurück ins Tintenfass und wandte sich hoffnungsvoll zur Tür. Welch eine Erleichterung, wenn ausgerechnet jetzt jemand käme und sie von der unangenehmen Pflicht entbände, ihren Brief fertigzustellen. Oder ihn wenigstens zu beginnen.
Die freudige Erwartung verblasste, als ihr Onkel den Raum betrat. Er kam ihr plötzlich so dünn vor, trotz des kleinen Embonpoint, der sich durch die elegante Weste drückte. »Ist dir nicht wohl?«, fragte Corinna besorgt.
»Unsinn.« Er legte ihr kurz die Hand auf den Nacken, als er an ihr vorbei zum Sofa schritt. »Mit mir steht alles zum Besten. Wie war dein Tag?«
Grau und öde. Es auszusprechen, würde indes nichts ändern, dafür aber Theodor ein schlechtes Gefühl verursachen. Das wollte sie nicht, denn er hatte sie bereitwillig bei sich aufgenommen, als ihre Welt zerbrach, und ihr mehr geholfen, als sie jemals hätte in Worte fassen können.
»Ich hatte es wirklich behaglich«, erklärte sie daher. »Denn ich war so schlau, das Haus nicht zu verlassen. Stattdessen habe ich brav die Wäsche sortiert, ein wenig an meinem Aquarell gearbeitet und erfolgreich vermieden, mich den Noten zu widmen.«
»Du weißt, ich spekuliere auf ein Weihnachtskonzert.« Ihr Onkel blickte sie erwartungsvoll an, und Corinna war klar, dass sie ihn enttäuschen würde. Mit dem Klavierspiel kam sie zurecht, doch wenn er sie zwang, selbiges am Weihnachtsabend stimmlich zu begleiten, würde er es bitter bereuen. Sie traf keinen Ton, sosehr sie sich auch bemühte. Theodor konnte das nicht wissen. Seit er sie nach Köln geholt und in seinem Haushalt aufgenommen hatte, kurz nach dem Unfall, bei dem sie ihre Familie verlor und in der Folge beinahe sich selbst, hatte sie kaum mehr musiziert. Dazu gehörte eine gewisse Lebensfreude, und Corinna fand es schwer, diese in sich zu wecken.
»Es wird nicht besser, wenn du nicht übst.« Ungeachtet der strengen Worte sah Theodor sie liebevoll an.
»Es wird auch nicht besser, wenn ich übe.«
Er lachte leise, die Miene harmlos und liebenswürdig wie immer, wenn er argwöhnte, Corinna könne irgendetwas beunruhigen. Gleichwohl lagen unter seinen Augen Schatten, die nicht dorthin gehörten. Es konnte nicht sein, dass ausstehende Weihnachtsgesänge ihn derart aus der Fassung brachten.
Corinna schob den Brief in die Mappe mit unerledigter Korrespondenz und erhob sich. »Ich lasse dir eine heiße Schokolade bringen. Und dann erzählst du mir, was dich bedrückt.«
Der Morgen war von einem klaren hellen Grau, die Frühnebel hatten sich gerade erst verzogen, und es war sehr kalt. August Wohlfert spürte davon nichts. Mit großen Augen stand er auf dem Hof, ergriffen, glücklich und nervös. Vor allem nervös.
Er tastete nach seinem perfekt geschlungenen Halstuch, zog die Weste zurecht und war sich bewusst, dass er den großen Moment hinauszögerte. Wie ein Knabe, der vor einem kunstvoll verpackten Geschenk steht und innehält, weil er dessen Geheimnis ein Quäntchen länger bewahren will. War es gelüftet, verlor sich vielleicht der Zauber.
Er stand tatsächlich vor einem Geschenk. Einem sündhaft teuren, das er sich selbst beschert hatte. Vor einer halben Stunde erst waren ihm die Schlüssel ausgehändigt worden. Noch einen Augenblick, und er würde zum ersten Mal als Eigentümer in das Gebäude treten.
Ein tiefer Atemzug. Dann schritt August seiner Zukunft entgegen.
Sie bestand aus einer Halle von Ausmaßen, die geradezu einschüchternd wirkten. Der Raum, hoch und weit, lichtdurchflutet durch die eng aneinandergereihten Lanzettfenster, war vollkommen leer, doch er sah bereits Tische entlang der Westwand vor sich, gegenüber erst eine Reihe Maschinen, später eine zweite, eine dritte gar - bis die Halle zur Gänze ausgefüllt wäre und er eine zusätzliche anbauen ließe. Noch existierte das alles nur in seiner Fantasie, aber bald würde dieser Raum mit Menschen bevölkert sein, die für andere Menschen Kleidung anfertigten. Für solche, die nicht selbst Hand anlegen wollten, sich einen Schneider jedoch nicht leisten konnten.
Zukunftsmusik, sphärische Klänge. August, der sich als nüchternen, vernunftgeleiteten Geschäftsmann sah, gestattete sich für den Moment, sich daran zu berauschen. Das Glücksgefühl würde ohnehin nicht andauern. Zu viel war noch unklar, die Finanzierung sehr knapp kalkuliert, die Suche nach Partnern nicht abgeschlossen, das ganze Projekt längst nicht in trockenen Tüchern. Aber hier und jetzt, da erlaubte er es sich, das Morgen in glühenden Farben zu malen. Ohne Zuversicht wurde aus der besten Geschäftsidee nichts.
Und seine war hervorragend. Dabei war er gar nicht der Erste, der darauf gekommen war. Nur der Erste in Köln, den eine Berliner Manufaktur inspirierte, in der in serieller Herstellungsweise Mäntel angefertigt wurden. Die Sache ließe sich ausweiten, hatte er sofort gedacht. Nicht nur Wollmäntel konnten auf diese Weise preisgünstig produziert werden, auch einfache Kleidungsstücke aus einfachen Stoffen für einfache Männer. In verschiedenen Größen gefertigt und bevorratet, ohne umständliche Anproben und Absprachen an den Kunden gebracht. Confection nannte man das, hatte August sich belehren lassen.
Kurz drifteten seine Gedanken ab zu seinem Vater. Er hatte nicht mit ihm über seine Pläne gesprochen, und das würde er auch erst tun, wenn es sich nicht länger umgehen ließ. Unmöglich, dass Wohlfert senior sein Vorhaben guthieß. Das tat er nie, da konnte August anpacken, was er wollte, inzwischen sollte er daran gewöhnt sein. War er sogar, aber schmerzen tat es immer, auch wenn er sich in seinen Entscheidungen schon lange nicht mehr davon beeinflussen ließ. Unternehmer mussten alles daransetzen, fortschrittliche Wege zu gehen. Bliebe alles stets beim Alten, müsste Fleisch heute noch roh verspeist werden, weil die Menschheit verabsäumt hätte, das Feuer zu erfinden.
Der Grundstein für den neuen Geschäftszweig war gelegt, die Sache angelaufen. August hatte zwei Schneider und zwei Frauen eingestellt, die vorerst in einer gemieteten Hütte im Hinterhof einer Bäckerei untergebracht waren und auf engstem Raum ihrer Arbeit nachgingen. Die Schneider entwarfen bereits die Modelle und sollten später die Stoffe vorbereiten, die Frauen das Zubehör zusammenstellen, alles in handliche Pakete schnüren und diese an eine Vielzahl...
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