Prolog
Diesmal verziehen ihm seine Eltern nicht. Da war er sich sicher. Als er New York vor fünf Wochen mehr oder weniger fluchtartig verlassen hatte, hatte er auch einen Skandal hinterlassen, für den er jetzt sicherlich die Quittung bekam. Was sonst konnte der Grund für die plötzliche Rückbeorderung aus dem Urlaub sein?
»Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Tag, Sir«, verabschiedete sich der Chauffeur und reichte ihm seine Reisetasche, bevor er in die Limousine stieg und sich wieder in den Verkehr auf der Park Avenue einreihte.
»Ob ich den haben werde?« Stirnrunzelnd sah er zu den stockwerkhohen Fenstern zu seiner Linken, hinter denen sich das Arbeitszimmer seines Vaters befand. Mit gemischten Gefühlen blickte er zu dem doppelstöckigen Neo-Renaissance-Gebäude empor. Eine elegante Lady zwischen jungen Damen der Moderne. Vor etwas mehr als fünfzehn Jahren hatten seine Eltern dieses Haus erworben, und obwohl die Gartenanlage und der schmale Vorgarten gehegt und die Büsche gepflegt wurden, sah man der Villa ihr Alter an. Der Feinstaub der täglich vorbeirauschenden Autos hinterließ genauso seine Spuren auf den alternden Steinen wie die unzähligen Tauben ihren weiß-gräulichen Dreck. Der Straßenlärm der Park Avenue drang ihm unangenehm in die Ohren, und die Abgase stachen in der Nase.
»Schön, Sie zu sehen, Sir.« Der junge Portier kam auf ihn zu, nahm ihm die Tasche ab und eilte voraus, um die Eingangstür aufzuhalten. »Die neue Frisur und der Bart stehen Ihnen ausgezeichnet, wenn ich das anmerken darf.«
»Vielen Dank.« Er fasste sich an den Bart. So richtig daran gewöhnt hatte er sich noch nicht.
»Die Herrschaften werden Augen machen.«
»Da bin ich mir sicher«, brummte er. Am besten wäre er zuerst nach Hause gefahren. Er brauchte dringend eine Dusche und ein paar Stunden Akklimatisierung. Das heutige Gespräch würde unangenehm werden. Für ihn. Seufzend betrat er das Haus. So wie immer erschlug ihn das verschwenderische Dekor aus Stuck, Säulen und Marmorfliesen. Seine Schritte hallten unheilvoll auf dem polierten Marmorboden.
»Ich werde Bescheid sagen, dass Sie eingetroffen sind.«
»Danke, Martin.« Er lächelte, und während der Portier um die Ecke verschwand, zog er sich seine dünne Jacke aus und öffnete die Tür, hinter der sich die Garderobe verbarg. Ein pinkfarbener Schulranzen stach ihm ins Auge. Der sollte eigentlich nicht hier sein. Genauso wenig wie der dunkelgraue Kaschmirmantel seines Vaters, der direkt darüber hing. Das unangenehme Gefühl in seinem Magen nahm zu. Er besah sich im Spiegel und kämmte sich mit den Fingern durch die kinnlangen, fettigen Haare, bevor er sie mit einem Haargummi zusammenband.
Ein gedämpftes Freudenquietschen drang in die Empfangshalle. Wenige Sekunden später kam ein kleines Mädchen auf Socken um die Säulenecke geschlittert. Lachend ging er in die Hocke und breitete die Arme aus. Das Mädchen jauchzte, rannte auf ihn zu und warf sich in seine Arme. Er schloss die Augen und presste die kleine Schwester fest an sich.
Sie drückte ihm einige feuchte Küsse aufs Gesicht, bevor sie sich zurücklehnte und sich die Nase zuhielt. »Iih, du stinkst. Mama hat gesagt, du warst im Dschungel. Warum hast du einen Bart? Hast du mir was mitgebracht?«
Lachend richtete er sich auf und wirbelte Carly einige Male herum, woraufhin sie erneut freudig jauchzte und die Flut der Fragen abbrach. Eigentlich war sie mit ihren zehn Jahren zu alt für diese Spiele, aber als er sie wieder absetzte, strahlte sie ihn noch immer an.
»Ja, ich war im Dschungel, und da gibt es nicht überall eine Dusche. Außerdem wollte ich schnell zurückkommen, weil ich dich vermisst habe.« Er tippte Carly auf die Nase. »Und ja, ich habe dir etwas mitgebracht. Würde es dir gefallen, wenn ich den Bart behalte?«
Einen Moment dachte sie darüber nach, dann schüttelte sie wild den Kopf. »Nein. Du siehst aus wie Mr Hazelham, und der ist immer voll streng zu uns.«
Wieder musste er lächeln. »Ich weiß zwar nicht, wer dieser Mr Hazelham ist, aber dann sollte ich ihn wohl schnell wieder abrasieren.« Er zog seine Augenbraue hoch und fixierte Carly mit seinem Blick. »Und warum bist du hier? Solltest du nicht im Internat sein, junge Dame?«
Carlys Augen blitzten verschlagen. »Meine Klassenräume sind überflutet. Bis zum Knöchel standen wir im Wasser. Wir mussten sogar unser Klassenmaskottchen eva… evakulieren …«
»Evakuieren.«
»Meine ich doch … evakulieren … Auf jeden Fall ist die Schule zwei Wochen geschlossen. Dad hat einen Privatlehrer eingestellt, der ganz andere Sachen mit mir macht. Ich mag ihn nicht.« Die letzten Worte flüsterte sie und zog dabei eine Grimasse.
»Warum denn nicht?«
»Er ist alt und hat graue Haare«, flüsterte sie ihm ins Ohr.
Er sah sich in der weitläufigen Halle um. »Carly, wo ist Mum?«
Sie deutete auf die breite Treppe zum Obergeschoss. »Oben bei Dad. Er hustet die ganze Zeit und verbraucht bestimmt tausend Taschentücher am Tag. Er war am letzten Wochenende fischen und ist ins Wasser gefallen. Am Montag hat Mum den Doktor angerufen und die ganze Zeit geschimpft. Daddy hat einfach nur gegrummelt und gehustet, nicht mal widersprochen hat er. Mum ist wie meine Hausmutter im Internat: Bewacht ihn, damit er sich nicht heimlich ins Büro schleicht.« Die letzten Worte flüsterte das Mädchen erneut.
Er hob Carly hoch und ging mit ihr auf die Treppe zu. »Hatte er denn Erfolg?«
»Fast. Er ist bis in die Eingangshalle gekommen, dann hat Mum ihn entdeckt und ihn schimpfend zurück ins Bett gescheucht.«
Mit gerunzelter Stirn sah er die weitläufigen Marmorstufen hinauf. Peter Geller war in den letzten Jahren nie krank gewesen. Vielleicht ging es gar nicht um die Fotos, sondern um etwas anderes. Er begann, sich ernsthafte Sorgen um die Gesundheit seines Vaters zu machen.
Der dicke, weinrote Teppich des Obergeschosses verschluckte seine Schritte, während er die breite Galerie entlangging, die in den linken Flügel des Herrenhauses führte. Dort befanden sich die privaten Räume der Familie. An den mit dunklem Holz vertäfelten Wänden hingen Bilder von Claude Monet und Henri Matisse, aber auch einige weniger bekannte Maler, die seine Mutter förderte.
Vor den Räumen seiner Eltern rutschte Carly langsam an ihm herab und ergriff seine Hand. Er schloss einen Moment die Augen und holte tief Luft. Die kleinen Finger seiner Schwester waren wie ein Rettungsanker, und er klammerte sich daran wie ein Ertrinkender. Er durfte sie nicht loslassen. Mit ihr an seiner Seite würden seine Eltern ihn vielleicht sogar herzlich willkommen heißen.
Mit bebenden Fingern klopfte er und drückte zögerlich die Klinke herunter. Vorsichtig steckte er den Kopf durch die Tür, bevor er mit Carly zusammen eintrat. In dem steinernen Kamin an der linken Wand des mit Mahagoniholz vertäfelten Raums flackerte ein Feuer und ließ die kleine Sitzgruppe davor golden schimmern.
Carly machte sich los und lief auf die Couch zu, auf der ihre Mutter saß. Beim Eintreten ihrer Kinder hatte Frances Geller die Zeitschrift, in der sie gelesen hatte, zugeklappt und zur Seite gelegt. Sie begrüßte ihre Tochter mit einem Kuss und erhob sich dann. Mit einem herzlichen Blick kam sie auf ihren Sohn zu. »Ben. Gott sei Dank.«
»Hi Mum«, sagte er mit einem Kratzen im Hals, beugte sich zu ihr hinunter und küsste sie.
»Himmel, wie siehst du denn aus? Und wie riechst du? Aber das ist erstmal egal. Gut, dass du da bist«, sagte sie und seufzte. Die Strapazen der letzten Tage sah man ihr an. Hoffentlich wurde sie nicht auch noch krank.
»Wirklich? Ich dachte, hier erwartet mich ein Erschießungskommando«, witzelte Ben, obwohl ihm nicht danach zumute war. Er deutete auf die angelehnte Tür, die ins Schlafzimmer führte.
»Schläft er?«
»Wohl kaum. Ich konnte ihn bis jetzt vom Arbeitszimmer fernhalten, aber er hat auf seinen Laptop und das Handy bestanden.«
Ben sah zweifelnd zu dem angrenzenden Raum. »Das sieht ihm ähnlich.«
»Er wäre nicht Peter, wenn er es nicht täte.«
Allmählich wich das mulmige Gefühl aus seinem Magen. Offensichtlich hatte er sich umsonst Sorgen gemacht. Er lächelte seine Mutter an und klopfte leise an die angelehnte Tür.
Ein ersticktes »Herein«, gefolgt von einem Hustenanfall, ertönte, und er fühlte sich, als beträte er die Höhle des Löwen. Vor zwei der vier deckenhohen Fenster waren die Vorhänge vorgezogen und tauchten den Raum in ein schummriges Licht, obwohl es draußen erst früher Nachmittag war. Im riesigen Doppelbett in der Mitte des Zimmers, zwischen zerwühlten Laken, saß Peter Geller. Er war blass und hatte tiefe Ringe unter den Augen. Sein grauer Bademantel war nur locker geschlossen, und ein himmelblauer Schlafanzug blitzte darunter hervor. Der rote Schal, den er um den Hals geschlungen hatte, bebte bei dem erneuten Hustenanfall, der ihn überkam. Die Haare standen wild um seinen Kopf und waren nicht wie sonst anständig mit Gel zu einem Seitenscheitel frisiert. Von dem toughen Geschäftsmann war nicht viel übrig geblieben. Er sah alt aus.
Ben überkam eine Welle des Mitgefühls. Seinem Vater ging es schlecht, und ihn hier so liegen zu sehen, ließ Ben alle Beunruhigung der letzten Stunden vergessen.
»Hallo Sohn«, presste Peter zwischen zwei Hustenanfällen hervor und sah ihn über den Rand des Laptops an, der vor ihm auf dem Schoß stand.
»Du solltest schlafen und nicht arbeiten.« Ben ging auf die...