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EINS
Federica lag auf dem Balkon und wartete. Sie wartete, obwohl sie sehr gut wusste, dass es umsonst war: Es würde kein Luftzug wehen, nicht einmal der Hauch eines Luftzugs. Die drei staubigen Palmen in der Mitte des Hinterhofs standen matt und vollkommen reglos in der unbewegten Luft. Obwohl es schon halb eins war, zeigte das Thermometer noch immer unglaubliche 34 Grad Celsius. La grand' afa, die von Marokko kommende, lähmende Schwüle dieses Sommers lag schon seit Tagen wie ein heißes Tuch auf der Stadt und nahm den Menschen die Luft zum Atmen. Und das war erst der Anfang. Die alljährliche Sommerhitze, in der der Herzschlag zum Stillstand kommt, sich das Gehirn anfühlt wie gekochte Calamari und die Glieder schwer wie Blei werden, dauerte immer ziemlich genau drei Monate: von Juni bis Ende August, wo dann meist La burrasca di fin'estate, ein großes Unwetter, offiziell den Sommer beendete.
Doch der Juni hatte gerade erst begonnen.
Unter ihr klapperte das Gebläse der altersschwachen Klimaanlage von Il Piccio, der Trattoria von Pasquale Balducci, der sich, ebenfalls wie jedes Jahr, störrisch und zornig, so als sei die Hitze eine an ihn persönlich gerichtete Beleidigung, geweigert hatte, seine Trattoria wenigstens für ein verlängertes Wochenende zu schließen und mit seiner schwitzenden Familie zu Verwandten in die Berge zu fahren.
Doch nicht nur die Balduccis, auch die meisten anderen Bewohner des Viertels blieben den Sommer über in der Stadt und würden wohl höchstens zu Ferragosto ein, zwei Tage nach Ostia fahren.
Hier im Testaccio, dem alten, vergessenen Viertel rund um den ehemaligen Schlachthof von Rom, war das Geld knapp, und kaum einer konnte es sich leisten zu verreisen. Das Testaccio rühmte sich damit, dasjenige historische Viertel zu sein, das in jeder Hinsicht am weitesten vom heiligen Zentrum der Stadt entfernt lag. Passenderweise verfügte es auch über einen Bastard in seiner Mitte, den illegitimen »achten« Hügel der Stadt, den Monte Testaccio, der nichts anderes als ein antiker Scherbenhaufen war, ein kahler Hügel, entstanden aus den Überresten zu Bruch gegangener Amphoren des alten Roms. Zur Besichtigung gab der Hügel nichts her, und malerische Gassen suchte man rund um den alten Schlachthof mit seinen rechtwinklig angelegten Straßen auch vergeblich, und so hatte das Viertel nie den Kultstatus seiner pittoresken Schwester Trastevere jenseits des Tibers erreicht. Es gab hier keine Sightseeing-Busse, keine Schneekugeln mit Petersdom und kein menu turistico. Stattdessen eine Pyramide voll streunender Katzen und viele Verrückte, Einsame und Gestrandete.
Und jene schmale Straße, die den hochtrabenden Namen Via del Arcangelo trug. Versteckt zwischen alten Häusern, von denen der Putz vergangener Jahrzehnte blätterte, folgte sie im Verborgenen der Biegung des Tibers von der Ponte Sublicio bis zur Ponte Testaccio. Dort, in einem ehemals terrakottarot gestrichenen Haus mit einem kiesbedeckten Innenhof, lag Federica Mazzanti in der schwülen Hitze der Juninacht auf dem Balkon ihrer Dachgeschosswohnung und wartete auf den Schlaf, der nicht kommen wollte.
Sie war keine Römerin von Geburt an, sondern stammte aus einem kleinen Dorf südöstlich der Stadt, wobei jeder, der sie zum ersten Mal sah, geneigt war zu glauben, dass das nur die halbe Wahrheit war. Eine so hellhäutige, zarte junge Frau konnte einfach nicht aus einem Bauerndorf in den Bergen des Latiums stammen. Sie musste angeflogen sein, vom Wind zufällig dorthin geweht wie die Schirmsamen des Löwenzahns, die kilometerweit getragen werden, bevor sie schließlich zu Boden sinken und Wurzeln schlagen. Und vielleicht war das auch so. Denn ihre ganze Familie, ihre Mutter Maria, eine kurzbeinige, energische Person, Salvatore, ihr Vater, überzeugter Kommunist und ehemaliger Postbeamter mit sardischen Vorfahren, und ihre drei Brüder waren allesamt schwarzhaarig und stämmig, mit Augen dunkel wie Olivenkerne. Federicas Augen dagegen hatten die Farbe des Tibers, manchmal waren sie schwermütig grau und abweisend, meist aber, vor allem im Licht der Sonne, schimmerten sie hellgrün, mit goldenen Sprenkeln. Solche Augen waren ein unerhörtes Ereignis in einem Dorf in den Bergen südlich von Rom. Niemand konnte sich erinnern, jemals jemanden mit solchen Augen gekannt zu haben. Außerdem hatte auch niemand Haare wie Federica, hellblond und lockig, federnd, dünn und leicht wie Spinnweben. So etwas kannte man in dem Dorf nicht, wo alle dichtes, kräftiges Haar hatten, das mit strassbesetzten Kämmen, bunten Klammern oder großzügigen Portionen Gel gebändigt werden musste.
Dieses ungewöhnliche Erscheinungsbild, das noch dazu mit einer alles übertreffenden Schüchternheit einherging, hatte ihr in ihrer Kindheit den Spitznamen La Diafana eingebracht, die Unsichtbare, so benannt nach einer ungeschickten Fee in einem Kinderbuch, die sich zu ihrem Leidwesen immer nur fast unsichtbar machen konnte. Und genau wie La Diafana hatte es auch Federica stets zutiefst bekümmert, dass es ihr nicht gelingen wollte, zwischen all den lauten, lebhaften, dunkelhaarigen Dorfkindern vollkommen unsichtbar zu werden. Auch als sie längst erwachsen war, wurde sie nicht müde, diese Kunst weiter zu perfektionieren. Die Tatsache jedoch, dass es ihr immer besser gelang, je älter sie wurde, war sehr bedauerlich, denn so entging den meisten, was ein aufmerksamer Beobachter durchaus hätte erkennen können: Hinter der verträumten, stillen Fassade verbarg sich nicht nur ein großes, mutiges Herz, sondern auch eine eigensinnige, unbeirrbare Persönlichkeit. Ihrer Familie entging zumindest letztere Eigenschaft jedoch nicht: Es wurde allgemein vermutet, dass der für ein so zartes Mädchen überraschende Starrsinn in irgendeiner Weise etwas mit den sardischen Vorfahren des Vaters zu tun haben musste, die allesamt als schlimme Sturköpfe galten, oder aber, noch wahrscheinlicher, mit den sardischen Eseln, deren Dickschädel sprichwörtlich war. Dies war die bevorzugte Meinung von Federicas Mutter, deren überschäumendes Temperament immer wieder am stummen Widerstand ihrer einzigen Tochter abprallte wie der Sturm an einem der stoisch ins Meer ragenden Wellenbrecher an der Küste von Ostia.
Im Gegensatz zu Pasquale Balducci, der sich jedes Jahr aufs Neue verbissen an die Hoffnung klammerte, dass die Touristen, die die glühende Stadt während der Sommermonate wie Termitenschwärme heimsuchten, doch endlich auch seine Trattoria entdecken mochten, waren Federica die Touristen egal. Zwar hing einer ihrer beiden Jobs in gewisser Weise davon ab, aber andererseits war das Albergo Il Nido, Das Nest, in dem sie als Frühstücksfräulein arbeitete, so verschlafen und fernab aller Massentourismusströme gelegen, dass sich nur sehr selten größere Reisegruppen hierher verirrten.
Trotz der Hitze überfiel Federica jetzt ein leichter Kälteschauer, als sie an ihre Arbeit im Albergo dachte. Obwohl sie nun schon einige Jahre dort arbeitete, bereiteten ihr die Gäste nach wie vor Unbehagen. Es lag immer etwas Forderndes in ihren Stimmen, eine Ungeduld, die sie nicht verstand, und Erwartungen, die sie nur enttäuschen konnte, weil sie keine Antworten auf ihre Fragen hatte oder aber weil es die falschen Antworten waren. Zum Beispiel, warum die Signora Zafferano darauf bestand, ausschließlich Frühstück all'italiano zu servieren, und zu keinerlei Zugeständnissen an den Geschmack der Gäste bereit war. Im Nido gab es Espresso, Cappuccino, Milchkaffee oder Malzkaffee, Zwieback mit Nutella, Obst, Kuchen und süßes Gebäck. Basta. Keine Wurst, niemals - Dio mio! - Käse und noch nicht einmal Eier. Einzig zu Tee hatte sich die Signora durchgerungen, jedoch nur, weil sie ihn selbst gerne trank und er nicht viel Arbeit machte. Dafür kamen die Cornetti und Brioches von einer ausgezeichneten Pasticceria, es gab blütenweiß gestärkte Tischdecken, bestickte Servietten und altes Silberbesteck, und die Gäste wurden allesamt persönlich bedient. Von Federica, dem Frühstücksfräulein.
Federica versuchte, die beunruhigenden Gedanken an die Gäste in der Pension zu verscheuchen. Wenn es so weiterging, würde sie nie einschlafen können, und dabei musste sie in dreieinhalb Stunden schon wieder aufstehen. Sie drehte sich um, was einen neuerlichen Schweißausbruch verursachte, und schloss die Augen. Pasquales Klimaanlage im Erdgeschoss schnaufte wie Signora Bevilacqua, die Vermieterin, wenn sie vom Einkaufen die Treppe heraufkam. Sie wohnte im zweiten Stock, direkt unter Federica. Im ersten Stock wohnte Pasquale Balducci mit seiner Familie, die allesamt in der Trattoria arbeiteten. Federicas kleines Apartment lag unter dem Dach, dort, wo es im Sommer am heißesten war. Vor allem im Schlafzimmer, in das fast den ganzen Tag die Sonne schien, war es dann kaum auszuhalten. Deshalb schlief sie im Sommer auf dem Balkon, der auf den etwas schattigeren Hinterhof hinausging. Ebenso wie ihr unmittelbarer Nachbar, Mimmo Batticinque, der Mieter der zweiten Dachwohnung. Auch er hatte, wie Federica, ein Klappbett auf den Balkon gestellt, zwischen allerlei Kräutern und Pflanzen und frisch gewaschenen Socken, die, von der Sonne ausgedörrt, an der Wäscheleine baumelten, welche ihre beiden Balkone miteinander verband. Mimmo arbeitete sechs Tage in der Woche als Kellner in einem Restaurant an der Piazza Navona. Sein richtiger Name war Mimmo Gallo, doch jeder nannte ihn Batticinque, Gib mir fünf, weil er die Angewohnheit hatte, alle, die er traf, abzuklatschen, als ob es ständig etwas zu feiern gäbe. Er sah aus wie Roberto Benigni in jungen Jahren, mit hoher Stirn, krausen...
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