Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Klima, Corona, Ukraine: Die immer schnellere Abfolge von Krisen hat etwas Endzeitliches. Längst ist klar, dass unser nicht-nachhaltiges Modell nicht mehr haltbar ist. Allerdings beteuern viele Klimaaktivisten und Nachhaltigkeitsforscherinnen, dass eine sozial-ökologische Transformation das Schlimmste noch verhindern kann.
Dieses Versprechen, argumentiert Ingolfur Blühdorn, verkennt die Realität der Spätmoderne. Das öko-emanzipatorische Transformationsprojekt zerbricht selbst an seiner eigenen Logik und inneren Widersprüchlichkeit. Diese doppelte Unhaltbarkeit, so Blühdorns Diagnose, führt in eine neue Moderne jenseits liberaler Zentralwerte wie Mündigkeit und Partizipation. Diese Entwicklung ist längst im Gange, wird aber bislang nicht als große Katastrophe erfahren.
»Ende oder Wende!«, »Weiter so ist keine Option!«, »Fünf vor zwölf!«, »Sozialökologische Transformation oder Unbewohnbarkeit des Planeten!«. Seit den Anfängen der Umweltbewegung bestimmen diese und ähnliche Formeln den umweltpolitischen Diskurs. Bis in die Gegenwart werden sie wiederholt: »Wir stehen am Abgrund!«, sagte UN-Generalsekretär António Guterres im November 2022. »Die Menschheit hat die Wahl: Zusammenarbeiten oder Untergehen. Entweder ein Pakt der Klimasolidarität oder ein Pakt des kollektiven Selbstmords.«[1] Aber diese Rhetorik ist alt und stumpf geworden. Sie verfehlt die Realität spätmoderner Gesellschaften. Die Bedrohungen sind heute tatsächlich größer und akuter denn je. Doch dieses Denken verdunkelt mehr, als es erhellt. Es ist an der Zeit, aus dem Dualismus von Einsicht oder Untergang auszubrechen.
Um die Wende zu den achtziger Jahren bekamen ökoapokalyptische Untergangsvisionen erstmals große, breitenwirksame Mobilisierungskraft. Neben tiefgreifenden Umweltveränderungen waren damals Großtechnologien wie die Atomkraft, die Gentechnik, die aufkommenden Heimcomputer sowie das Wettrüsten im Kalten Krieg entscheidende Auslöser. Vor diesem Hintergrund 10formierte sich das Projekt des zivilgesellschaftlich organisierten sozialökologischen Umbaus der kapitalistischen Industrie- und Konsumgesellschaft. Es sollte ein demokratisch-emanzipatorischer Umbau sein, der ein selbstbestimmtes und gutes Leben für alle in einer intakten natürlichen Umwelt ermöglichen sollte. Das Projekt zielte letztlich auf eine sozial und ökologisch befriedete Weltgesellschaft. Zwischenzeitlich entstand mal der Eindruck, dem Projekt gehe die Luft aus. Der gesellschaftliche Wertewandel, der für dieses Projekt ganz entscheidend war, schien zum Erliegen zu kommen. Eine neue »Zeitenwende« sei erkennbar, behaupteten führende Meinungsforscher: »Die Verbissenheit ist verschwunden, [.] der Weltuntergang findet nicht statt.«[2] Sogar von einem »Aufstand gegen die siebziger und achtziger Jahre« war die Rede, von einer »aufgestauten Gegenrevolte«.[3] Doch der Protest gegen die fortschreitende Zerstörung, gegen die sozialökologischen Auswirkungen der Industrie-, Wachstums- und Konsumgesellschaft hielt an. Das Bewusstsein einer sich zuspitzenden Krise und die Einsicht, dass ein »Weiter so« nicht möglich ist, wurden immer breiter.
Heute ist der Glaube an die unbedingte Notwendigkeit dieses Umbaus beinahe hegemonial geworden, auch wenn die Wege zur praktischen Umsetzung weiterhin unklar sind. Ein gesellschaftlicher Konsens scheint erreicht, dass gerade in den reichen Ländern des Globalen Nordens ein grundlegender Strukturwandel unver11zichtbar und dringend ist. »System change, not climate change!«, skandieren nicht nur Klimaaktivisten, sondern inzwischen äußern sich sogar die Spitzen der Wirtschaft, der Europäischen Union oder der Vereinten Nationen in diesem Sinne. CO2-Neutralität ist dabei jetzt das große Mantra. Firmen, Gemeinden, Bundesländer, Nationalstaaten, die EU - alle haben mittlerweile klar deklarierte Jahreszahlen, bis zu denen sie CO2-neutral sein wollen. Über Jahrzehnte haben Philosophen, Bürgerinitiativen, soziale Bewegungen, grüne Parteien, internationale NGOs, kritische Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler und vielfältige andere Akteure als gesellschaftliche Avantgarden für die große Transformation gestritten. Doch just in dem Moment, in dem mehr Einigkeit zu herrschen schien denn je und in dem auch die ökologisch-soziale Dringlichkeit höher scheint denn je, ist das ökoemanzipatorische Projekt selbst plötzlich in eine tiefe Krise geschlittert.
Klimapolitisch, ökologisch, sozial und auch sicherheitspolitisch ist die Lage heute fraglos noch brisanter als in den achtziger Jahren. Mit der digitalen Revolution und der rasanten Entwicklung künstlicher Intelligenz gibt auch der technologische Fortschritt heute nicht weniger Grund zur Sorge als in den achtziger Jahren. Aber in spätmodernen Gesellschaften breitet sich ein Gefühl der politischen Macht- und Einflusslosigkeit aus. Der zivilgesellschaftliche Optimismus und das Vertrauen der Bewegungen in die eigene Organisationsfähigkeit und politische Gestaltungsfähigkeit sind sichtbar angeschlagen. Die Aktionen von Gruppen wie Extinction Rebellion oder Letzte Generation wirken hilflos - und 12lösen trotz allseitiger Bekenntnisse zum Ziel der Nachhaltigkeit erhebliche Gegenreaktionen aus. Tatsächlich wird der inzwischen klima- und nachhaltigkeitswissenschaftlich umfassend begründete Konsens, dass ein grundlegender Strukturwandel moderner Gesellschaften unbedingt erforderlich und deren größte Herausforderung ist, mit Verve wieder aufgeschnürt. Agrarwende, Energiewende, Verkehrswende, Artenschutz, Klimaziele, all das wäre sicher politisch wünschenswert, aber angesichts akuter Krisen - Pandemie, Inflation, Krieg, Terrorismus, Migration, Weltmachtanspruch Chinas - scheint anderes dringender.
Die Prioritäten verschieben sich; ökologische Agenden werden zurückgestellt. Atomkraft - ein Symbolthema für die Umweltbewegung wie kaum ein anderes - wurde von der EU mit dem 1. Januar 2023 als »nachhaltig« eingestuft und entsprechende Investitionen damit für »klimafreundlich« erklärt. Kohle erlebt im Zeichen der westlichen Sanktionen gegen Russland und seinen Krieg in der Ukraine weltweit eine Renaissance. Nicht nur in der Verkehrspolitik werden Klimaziele nachgeordnet. Europäische Vereinbarungen zum Naturschutz werden in vielen Ländern nur verzögert und unvollständig umgesetzt. Tierwohl, Flächenschutz und ökologischer Landbau scheinen zweitrangig. Primär sind demgegenüber die Sorge um den erreichten Wohlstand und die Angst vor dem Groll potenzieller Rechtswähler. In Alaska hat US-Präsident Joe Biden mit Willow im Frühjahr 2023 wieder ein gigantisches neues Ölbohrprojekt bewilligt. In Europa wehrten sich liberale und konservative Parteien erfolgreich gegen das zügige Verbot von 13Verbrennungsmotoren. Die aufwändige Energiesanierung der Innenstädte treibe die Mieten in die Höhe und die Gentrifizierung voran, heißt es. Erhöhte Anforderungen an das Tierwohl treibe die Bauern in den Ruin und mache das Schnitzel zum Privileg der Besserverdiener. Die hohen Kosten erneuerbarer Energien bedrohten die Konkurrenzfähigkeit des Wirtschaftsstandorts. Sozial und ökologisch produzierte Textilien oder Elektronikartikel seien für die meisten Menschen unbezahlbar. Allenthalben wird dabei das Argument der sozialen Gerechtigkeit und Teilhabe ins Feld geführt. Und die Masse derer, die das Ökologisch-Soziale schlicht nicht bezahlen können, wird gegen die privilegierteren Teile der Gesellschaft und ihr ökoemanzipatorisches Projekt in Stellung gebracht. Und überhaupt, so der österreichische Bundeskanzler Karl Nehammer, gebe es für die »Untergangsapokalypse« gar keine Beweise; mit dem Anstieg des Meeresspiegels könne man schon umgehen lernen.[4]
Hatten kritische Beobachter im Zusammenhang mit der Ideologie des Marktliberalismus noch gerade eine umfassende Entpolitisierung und eine Ära der Postpolitik diagnostiziert,[5] so ist gerade in der Klima- und Nachhaltigkeitspolitik plötzlich eine deutliche Repolitisierung mit zunehmend polarisierten Positionen unübersehbar. Dabei verschieben sich die Koordinaten und Konfliktlinien: Anders als in der klassischen Industriegesellschaft stehen nun nicht mehr die Arbeiter ge14gen das Kapital. Und anders als in den siebziger und frühen achtziger Jahren stehen auch nicht mehr die Neuen Sozialen Bewegungen (NSB) der postindustriellen Gesellschaft gegen die traditionelle Politik und ihre Institutionen. Vielmehr verlagert sich der zentrale Konflikt heute ins Zentrum der gesellschaftlichen Mittelklasse: Während sich im oberen Teil der Wohlstandspyramide und an deren Sockel Reichtum und Armut weiter stabilisieren und unveränderbar scheinen, verläuft die aktive politische Konfliktlinie zwischen denen, die um ihren mittelständischen Wohlstand und Lebensstil fürchten, und denen, die mit ihren Forderungen nach einer sozialökologischen Transformation als Bedrohung für beides wahrgenommen werden. Die »aufgestaute Gegenrevolte« scheint nun tatsächlich real: Die Vorkämpfer dieses Transformationsprojekts sehen sich plötzlich mit den...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.