Gedankenverloren blickte Maren aus dem Wagenfenster. Die Landschaft zog an ihr vorbei, ohne dass die Bilder in ihr Gehirn vordrangen. Automatisch schüttelte sie den Kopf und versuchte, die ersten Eindrücke Rumäniens auf sich wirken zu lassen. Allein, es gelang ihr nicht. Seit Wochen hatte sie sich auf diesen Auftrag gefreut, gemeinsam mit Sophie. Dann war diese Royal-Story auf den Plan getreten, und Sophie musste Hals über Kopf nach England reisen.
In Erinnerung an Sophies Wutausbruch musste Maren unwillkürlich lächeln. Sophie und ihre bisweilen deftige Ausdruckweise waren schon eine Nummer für sich! »Welchen Leser interessiert es schon, wenn irgendein Cousin dritten Grades den Hurenbock spielt, seinen Schwanz in eine Stripperin steckt und sie schwängert?«, hatte sie ihrem Chef Walter Stein an den Kopf geworfen. Darauf war der Chefredakteur in gewohnter Manier in die Luft gegangen. Sein cholerisches Gebrüll hatte alles rund um sich erzittern lassen. Alles, bis auf Sophie. Hoch erhobenen Hauptes war sie aus seinem Büro spaziert und hatte außer ein gezischtes »Leckt mich doch alle .« kein weiteres Wort mehr zu dem Thema verloren. Das nannte man Verlieren auf hohem Niveau.
Es hätte so viel Spaß gemacht, den Auftrag gemeinsam zu absolvieren! Aber manches lässt sich leider einfach nicht ändern, sinnierte Maren und seufzte. Ach, was soll's! Scheiß drauf. Es wird schon geil werden. Der Gedanke ließ sie auflachen. Genauso hätte es Sophie gesagt, Wort für Wort; vielleicht wäre noch ein Merde dazugekommen.
Sie sah, wie der Chauffeur als Reaktion auf ihr Lachen einen fragenden Blick in den Rückspiegel warf.
»Sie sein gut, Frau Janson?«, fragte er in gebrochenem Deutsch.
»Ja, danke. Es ist alles in Ordnung«, entgegnete sie höflich und hätte am Liebsten neuerlich aufgelacht. Was musste der Mann nur von ihr denken. Aber der unerwartete Heiterkeitsausbruch hatte geholfen. Maren fühlte sich deutlich besser. Sie lehnte sich zurück, schlang ihre langen Beine übereinander und widmete sich endlich der Landschaft. War die Stadt noch unbeachtet an ihr vorbeigezogen, nahm sie nun die Einzelheiten auf: hier und da einige einfache Häuser am Straßenrand, immer in Grüppchen beieinanderstehend, dahinter sanft ansteigende Hügel zur rechten, flache Wiesen auf der linken Seite. Den Horizont säumten Baumgruppen.
Langsam veränderte sich die Gegend. Während der Wagen großzügige Serpentinen hochfuhr, rückten spitzkantige Felsen in den Vordergrund. Ein Bach floss entlang der Straße. Häuser waren mittlerweile gänzlich verschwunden.
»Wir ankommen in Minuten«, bemerkte der Chauffeur, nahm eine Hand vom Lenkrad und zeigte nach vorn.
Maren löste ihren Blick vom Seitenfenster und sah durch die Frontscheibe. »Wow! Beeindruckend.« Vor ihr zeichnete sich eine Anhöhe ab, die zu zwei Dritteln aus einer bizarren Felsformation bestand. Obwohl die Bezeichnung Gebirge für diesen Hügel maßlos übertrieben war, schoss ihr genau dieses Wort durch den Kopf. Vielleicht liegt es an den steilen Felsen und an der Tatsache, dass offenbar kein Baum dort Wurzeln schlagen kann, überlegte Maren. Ha! Den Satz muss ich mir merken, ein guter Anfang für meine BLITZ-Story. Im Geiste notierte sie: Aus welcher Gesteinsart besteht der Berg? Und an welches Massiv erinnert er? Schade nur, dass der Schnee fehlt. Er wäre das Tüpfelchen auf dem i. Und wie war das noch? Waldgrenze . Baumgrenze, durchforstete sie ihr Gehirn nach verschüttetem Schulstoff.
Kurz entschlossen kramte sie in ihrer Handtasche nach dem Diktafon und sprach den Felsen-Wurzel-Satz sowie die restlichen Überlegungen leise aufs Band. Sicher ist sicher! Je weiter sie den Gedanken spann, desto mehr gefiel er ihr. Damit ließ sich womöglich tatsächlich ein schöner Einstieg und zugleich eine nette Überleitung basteln. Geheimnisvolles Gebirge, rätselhafte Umgebung. Baumgrenze . grenzüberschreitende Filmdarbietung. Nun, erst einmal abwarten, was James Renning fabriziert hat. Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben, stoppte sie sich.
Für ihren bevorstehenden Auftrag hatte Maren sich zu Recherchezwecken alle bisherigen Filme des Regisseurs James Renning angesehen. Sie war nicht unbedingt ein Fan des Horrorgenres, musste jedoch zugeben, dass Renning das Mystische ausgezeichnet mit der realen Welt verband, was ihr überraschenderweise die eine oder andere Gänsehaut beschert hatte. Dieser Mann ließ keine mordlüsternen Zombies über den Bildschirm laufen, sondern arbeitete auf durchaus subtile Weise mit dem Unterbewusstsein der Zuschauer.
Seine neueste Kreation, ein Film, dessen Vorpremiere sie entgegenfuhr, verband die klassische Dracula-Geschichte und das Romanvorbild Vlad mit einem japanischen Serienmörder, der in den späten achtziger Jahren einige Mädchen ermordet hatte und darauf hingerichtet wurde. Fraglos bot diese Verbindung im geeigneten Fall genügend Stoff für das von Maren erlebte Gänsehaut-Feeling. Ich bin nicht hier, um eine ausgefeilte Filmkritik zu erstellen, ermahnte sie sich, sondern um die Eindrücke dieser Vorpremiere möglichst hautnah zu schildern. Und für diese Aufführung hatten sich James Renning und seine Geldgeber in der Tat einiges einfallen lassen. Schauplatz war ein altes Schloss in Rumänien, wo die Gäste - eine bunte Mischung aus Schauspielern, angesehenen Reportern, VIPs aus Wirtschaft und Politik sowie sonstigen Berühmtheiten aller Art - einige Tage lang in die Welt Draculas eintauchen sollten.
»Sehen Sie, hier!« Wieder hob der Chauffeur mit gestrecktem Zeigefinger die Hand und unterbrach ihre Gedanken.
Abermals entfuhr Maren ein »Wow!«. Ein Schloss ragte zwischen den scharfkantigen Felsen auf. Obwohl sie die Umgebung aufmerksam beobachtet hatte, hatte sie es nicht bemerkt. Die grauen Mauern verschmolzen förmlich mit dem Gestein, und erst jetzt sah sie die vielen Türme, die sich den Felsen gleich Richtung Himmel streckten.
Sie konnte den Blick nicht mehr abwenden. Auf wundersame Weise tat sich das riesenhafte Gebäude mit einmal Mal als Zentrum des gesamten Umfelds hervor. Je näher sie dem Schloss kamen, desto beeindruckender, dabei Furcht einflößender erschien ihr das Bauwerk.
Langsam begann es zu dunkeln, was die Szenerie unterstrich. Genauso stellte Maren sich Draculas Wohnsitz vor. Automatisch drückte sie auf die Starttaste ihres Diktafons. Uneinnehmbar, geheimnisvoll, bedrohlich, perfekte Kulisse für die Premiere, Spiel mit Spannung, Förderung der Neugierde der Gäste, flüsterte sie Schlagworte ins Mikro.
Der Wagen hielt vor einem riesigen Holztor. Mit einem Ächzen stieg der Fahrer aus und betätigte die Gegensprechanlage, worauf die Flügel aufschwangen. Das Knarren der Scharniere drang bis ins Wageninnere.
Die moderne Technik lässt grüßen, murmelte Maren und verfolgte gespannt, wie der Wagen im Schritttempo durch das Tor fuhr und im Innenhof hielt. Auf der Stelle eilte ein Mann in schwarzer Livree herbei und öffnete Maren die Autotür. In tiefer Verbeugung verharrte er, bis sie aus dem Wagen stieg. Während der Chauffeur ihr Gepäck aus dem Kofferraum hievte und mit dem wieder aufrecht stehenden Schwarzgekleideten einige Worte wechselte, sah Maren sich um.
Hier, im Inneren, wirkte der Bau noch bombastischer, als er es aus der Entfernung ohnehin bereits getan hatte. Geschickt tauchten Scheinwerfer die Szenerie in diffuses Licht und ließen, unterstützt von der Abenddämmerung, unzählige Schatten tanzen. Deutlich spürte Maren ein beklemmendes Gefühl in sich aufsteigen. »Wahnsinn, sensationell inszeniert«, entfuhr es ihr. Sie musste ihren Eindrücken einfach Luft machen. Wie gern hätte sie jetzt Sophie an ihrer Seite! Der Austausch fehlte ihr. Gemeinsam hätten sie sofort losgelegt. So war sie gezwungen, ihre Empfindungen allein zu verarbeiten.
»Sie sagen es!« Unbemerkt war ein Mann an sie herangetreten. Seine klangvolle dunkle Stimme hallte wider, obwohl er leise gesprochen hatte.
Maren fuhr herum - und schnappte unwillkürlich nach Luft. Vor ihr stand das Abbild eines griechischen Gottes, in Jeans und weißem Hemd. Trotz weicher Züge und voller Lippen blickte sie in ein männlich markantes Gesicht. Blitzblaue Augen strahlten sie an. Das blonde, leicht gewellte Haar hatte er aus der Stirn gekämmt, es reichte ihm bis knapp zu den Schultern. Sicher einen Meter neunzig groß, zeichneten sich seine Muskeln unter dem Hemd ab. »Maren Janson von der BLITZ.« Wie in Trance streckte sie ihm ihre Hand entgegen.
Der Mann ergriff ihre Hand, drückte fest zu und antwortete: »Mein Name ist Adrian Constantin, ich bin der Schlossverwalter. Ich freue mich außerordentlich, Sie begrüßen zu dürfen.« Sein begleitender Blick war unmissverständlich.
Maren meinte, seine Augen würden sie entkleiden. Ein Schauer lief über ihren Rücken, der nichts mit Gänsehaut zu tun hatte. Schon erstaunlich, wie der Körper auf völlig unterschiedliche Gefühle - etwa Furcht und Geilheit - mit quasi demselben Ausdruck reagiert, durchfuhr es sie.
Adrian Constantin wandte sich an den Mann in der schwarzen Kleidung. »Ich zeige Frau Janson den Weg zu ihrem Zimmer. Bring ihr Gepäck nach.« Mit diesen Worten legte er angedeutet seinen Arm um ihre Hüfte und dirigierte sie zu einer Treppe.
»Sie begrüßen alle Gäste persönlich?«, fragte Maren.
Einen Augenblick lang sah Adrian Constantin sie fragend an, dann schüttelte er lächelnd den Kopf. »Nein, es war ein glücklicher Zufall, dass ich im Hof vorbeikam, als Sie aus dem Auto gestiegen sind. Und ich bin auch nicht dafür...