Tina Scandi
Französische Geheimnisse - Shadows of Love
Die korsische Sonne brennt gnadenlos auf den staubigen Vorplatz vor dem klobigen Herrenhaus, das aussieht wie von einer Riesenhand in die Landschaft hineingewürfelt. Ich drehe mich einmal um mich selbst, um das ganze Areal Bild für Bild in mich aufzunehmen. Das abwechslungsreiche Panorama ist wunderschön, aber es ist ziemlich einsam hier. Außer mir gibt es keine Menschenseele, dafür reichlich lärmende Zikaden, die sich gegenseitig mit ihrem nervtötenden Zirpen zu übertönen versuchen.
In südlicher Richtung sehe ich eine Orangenplantage auf einem sanft ansteigenden Hügel. Weiter westlich auf einer ebenen Weidefläche streckt eine Riesenpinie ihre Äste in den Himmel. Im Norden glitzern silbrig die Blätter von vier Olivenbäumen. Nun fällt mein Blick auf das Gebäude, vor dem ich zuvor mit dem Rücken gestanden habe.
Es kann sein Alter nicht vertuschen und macht von außen auch keinen besonders noblen Eindruck, aber innen ist es ordentlich eingerichtet - wenn auch reichlich altmodisch. Etwas weiter weg steht ein kleineres Gebäude an einem künstlichen Teich. Das Ganze hat etwas von einer Theaterkulisse.
Gabriel Cohn, der verstorbene Eigentümer, war fast achtzig und hat sein ganzes Leben hier verbracht. Sagte mir der Notar.
Mein Gepäck steht schon im großen Eingangsbereich des Hauses, dessen Fußboden mit ziemlich lädierten Fliesen ausgelegt ist. Ich weiß noch nicht, ob ich überhaupt auspacken soll. Länger als unbedingt nötig will ich auf keinen Fall bleiben.
Aber - und das ist das Unglaubliche - das alles gehört jetzt mir. Das Haus mit allem Drum und Dran, das riesige Grundstück und die Tiere. Ich habe zwar nicht im Lotto gewonnen, bin aber ohne mein Zutun sozusagen über Nacht zur Großgrundbesitzerin geworden. Und ein nettes Sümmchen Bargeld gibt's obendrein. Die neunzigtausend Euro kommen mir gerade recht.
Ich schaue hinauf zum Balkon, der sich im ersten Stock über die Breite von zwei Fenstern erstreckt. Schmiedeeiserne Rosen und Weinranken verzieren kunstvoll das Geländer. Spontan muss ich an Romeo und seine geliebte Julia denken. Ich heiße wie sie. Mir kommt die wunderbare Szene in den Sinn, als die Schöne vom Veroneser Balkon aus ihre Liebe zu einem Mitglied der verfeindeten Montague-Sippe den Sternen anvertraut. Genau in diesem Moment tritt Romeo aus dem Schatten der Nacht heraus, um sich ebenfalls leidenschaftlich zu erklären. Immer wieder muss er ihr seine Liebe schwören. Ich lächle verträumt.
Auch wenn ich jetzt ebenfalls über einen ansehnlichen Balkon verfüge, so wird mir ein solch romantisches Ereignis versagt bleiben. Für mich gibt es keinen glühenden Romeo, sondern leider nur einen Fabien mit weniger beeindruckenden Charaktereigenschaften. Doch an Fabien will ich zurzeit nicht denken, auch wenn ich ihn anfangs für meinen ganz persönlichen Märchenprinzen hielt. Gott ja, irren ist menschlich - und ich war verliebt. Seine Traumtänzereien verdrehten mir den Kopf, später gingen sie mir gewaltig auf die Nerven.
Inzwischen sind die rosaroten Wolken unserer Verliebtheit weitergezogen. Ich empfinde keine Trauer. Sollte ich Fabien beschreiben und ganz ehrlich dabei sein, dann müsste ich ihn eine Niete nennen. Aber das widerstrebt mir, denn er war meine erste feste Beziehung. Wenigstens den Beginn dieser Liebe will ich in guter Erinnerung behalten.
Fabien ist ein Tagträumer. Ständig entwirft er große Pläne, ohne einen einzigen zu verwirklichen. Noch lebt er vom Geld seiner verstorbenen Mama, das nicht mehr lange reichen wird. Damals hat er sehr unter ihrem Tod gelitten. In den folgenden Monaten war dann ich unbewusst in die Rolle einer fürsorglichen Mutter für ihn gerutscht. Wann genau das passiert ist, weiß ich nicht. Doch plötzlich wurde es ganz schnell Zeit, aus diesem Jammerstück auszusteigen. Manche Männer bleiben ihr Leben lang Muttersöhne. So einen will ich nicht.
Der Hund beobachtet mich mit neugieriger Zurückhaltung. Korrektur: Es ist eine Hündin, und sie heißt Stella, wie aus den Unterlagen hervorgeht. Stella, ein Esel und zwei Kühe gehören mit zur Erbmasse . was für ein Wort! Vom Esel befand sich ein Foto im hinterlassenen Testament. Das Tier mit dem schwarzen Fell sieht auf der Aufnahme ziemlich griesgrämig drein und hört angeblich auf den sinnigen Namen Zorro. Von ihm ist nichts zu sehen.
Aber vor meinen leicht zusammengekniffenen Augen spazieren nun die Kühe hinter meterhohem Gestrüpp hervor, als hätten sie nur auf ihren Auftritt gewartet. Die eine trottet gemächlich weiter, während sich die andere erst mal zum Wiederkäuen niederlegt. Ob die Kühe einen Namen haben, wusste Maître Nicolai nicht. Und ob sie im Zweifelsfall darauf hören würden, haben wir deshalb gar nicht erst weiter erörtert.
Die Sonne blendet mich, als ich nach meiner 360-Grad-Drehung wieder zum Orangenhain blicke. Ich ziehe mir die Krempe des brüchigen Strohhuts tiefer in die Stirn. Er hing ziemlich eingestaubt an einem Garderobenständer rechts hinter der Tür. Ob Gabriel ihn oft trug? Er war mein Großonkel, also ein Bruder meines Opas. Beide habe ich nie kennengelernt. Mit Gabriel teile ich nur den Nachnamen Cohn.
Stella sitzt auf ihren Hinterbeinen und scheint auf eine Erklärung von mir zu warten. Ich weiß nicht, was ich ihr sagen soll. Ich will mich gar nicht erst mit ihr anfreunden. Die Tiere sind natürlich eine Last, aber mir wird schon eine gute Lösung für uns alle einfallen. Hierbleiben können sie jedenfalls nicht, weil niemand für sie sorgen wird, wenn ich wieder weg bin.
Vor dem Haus steht der Kleinwagen, den ich am Flughafen Figari gemietet habe. Ich kann also jederzeit einsteigen und wieder losfahren. Als ich meine Kamera aus dem Auto holen will, steht die Hündin auf und schiebt sich mit einem leisen Knurren zwischen mich und das Fahrzeug.
»Aber hallo!«, sage ich betont streng, um meine Furcht zu vertuschen. Große Hunde wie sie flößen mir einen Heidenrespekt ein, das war schon in meiner Kindheit so. »Was soll das? Ich brauche etwas aus dem Wagen.« Wohl aufgrund meines Tonfalls lässt sie mich gewähren.
Mit meiner alten Canon, die auf ihren weiten Reisen schon einige Stöße und Kratzer einstecken musste, mache ich die ersten Aufnahmen. Dann hänge ich sie mir über die Schulter und beschließe, einen kurzen Erkundungsgang in die nähere Umgebung zu machen. Stella begleitet mich wie selbstverständlich. Na ja, warum nicht? Sie kann mich beschützen, falls mich plötzlich ein Wildschwein aus dem Buschwerk anfällt.
Sie läuft auf einem äußerst schmalen Pfad voraus. Ich folge ihr erwartungsvoll. Schon nach wenigen Schritten greifen die dornenbewehrten Zweige des Macchia-Gestrüpps nach meinen nackten Armen und zerkratzen mir die Haut.
Stechspargel, Zistrose und wilde Olive kenne ich schon von meinen anderen Reisen rund ums Mittelmeer. Ich hätte mich mit Hemdsärmeln bis zum Handgelenk und langen Hosen bedecken und noch eine scharfe Gartenschere mitnehmen sollen. Aber nun befinde ich mich schon mitten drin in der immergrünen Hölle. Leise fluchend, sowohl auf mich als auch auf meine Lage, in die ich mich ohne Not gebracht habe, zwänge ich mich Schritt für Schritt weiter durch das unwegsame Labyrinth. Der Hündin scheinen die spitzen Zweige und Dornen nichts auszumachen. Sie hat buchstäblich ein dickes Fell.
Ich bin schweißgebadet. Leider habe ich nichts zu trinken dabei. Eigentlich sollte ich umkehren, doch wie immer treibt mich meine Neugier weiter, die mir schon so manches sensationelle Foto beschert hat.
Das Kratzen und Stechen endet erst, als ich eine kleine Lichtung erreiche. Stella setzt sich so plötzlich auf ihre Hinterbeine, dass ich fast über sie falle. Vor mir liegt ein Bild wie aus einem Märchenbuch, auf dem ein verwunschenes Hexenhaus zu sehen ist, umrankt von hohen Brombeerhecken und Mastixsträuchern. Irgendwo plätschert Wasser. Und nun setzt auch hier das schräge Kreischen der Zikaden ein.
Als dann noch der Wind die Wortfetzen eines Liedes zu mir trägt, halte ich den Atem an. Gibt es hier in dieser öden Wildnis tatsächlich jemanden, der singt? Oder macht mir die Hitze so zu schaffen, dass ich schon halluziniere?
Ich zische ein leises »Pst« und lege den Zeigefinger vor den Mund. Stella versteht sofort, nimmt lautlos die Witterung auf und richtet ihre Ohren wie zwei Antennen aus.
Ungefähr dreihundert Meter weit habe ich mich durch die Macchia gequält. Plötzlich bin ich beunruhigt, weil ich Haus und Auto unverschlossen zurückgelassen habe. Im Wagen steckt sogar noch der Schlüssel. Ich lausche, aber alles bleibt still. Ich bin hier wirklich ganz allein. Meine Sinne müssen mich getäuscht haben.
Vorsichtig gehe ich weiter, halte prüfend die Kamera hoch, lasse sie aber wieder sinken. Das Motiv ist noch nicht optimal. Erst will ich mir ein Gesamtbild machen. Neugierig gehe ich an dem Gemäuer entlang und entdecke jetzt erst das Holzrad, das die ganze östliche Giebelwand einnimmt. Darunter rieselt träge ein Bach über blankgewaschene Steine.
Jetzt erinnere ich mich. Der Notar sprach von zwei Quellen auf dem Land. Das muss eine davon sein.
Interessiert taxiere ich die alte Mühle, auch wenn ich absolut keine Ahnung habe, was in ihr verarbeitet wurde und was ich jetzt mit ihr anfangen könnte.
Irgendwann wird sie von selbst in sich zusammenfallen. Das Nachmittagslicht zeigt gnadenlos die Schäden im Mauerwerk, das aus grob behauenen Natursteinen besteht. Doch die Fensterscheiben sind noch alle intakt.
Abrupt bleibe ich stehen, als der Gesang wieder einsetzt. »Sur le pont...