Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Ich hatte keine Ahnung, wohin ich lief.
Ich lief den Hügel hinunter in die Richtung, in der ich den Bahnhof vermutete. Es war nur eine Annahme. Ich kannte Reading nicht und wusste auch nicht, in welcher Entfernung das Theater zum Bahnhof lag. Und ganz bestimmt hörte ich nicht auf die Stimmen von irgendwelchen Geistwesen, die mir sagten, wohin ich laufen sollte. Ich wusste nur, dass ich zum Bahnhof musste. Ich rannte über eine zweispurige Straße. In der Mitte war eine niedrige Steinmauer mit Sträuchern bepflanzt; ich blieb daran hängen, als ich hinüberkletterte. Dann war ich auf der anderen Straßenseite und lief über eine schmale Brücke.
Viele Leute waren unterwegs. Es war neun Uhr an einem Samstagabend, und Gruppen von Jugendlichen, die schon zu viel getrunken hatten, standen auf dem Bürgersteig. Die Jungs trugen alle das Gleiche, die Mädchen beinahe nichts, sie redeten laut und schwankten leicht. Ich lief einfach mitten durch eine Gruppe hindurch, die mir den Weg versperrte. Ein Mädchen kreischte.
»He!«, rief eine männliche Stimme hinter mir her. »Wie bist du denn drauf?«
Ich rannte immer weiter. Der Zug um neun Uhr siebenundzwanzig. Ich hatte noch fast eine halbe Stunde Zeit. Es würde klappen. Es würde klappen.
Es würde nicht klappen.
Ich blieb mit dem Absatz in einem Spalt zwischen den Pflastersteinen hängen, verdrehte mir den Knöchel und schrie vor Schmerz auf, als ich mit voller Wucht nach vorne fiel. Die Haut an meinen Handflächen schürfte ab, als ich versuchte, den Aufprall abzufangen. Hinter mir lachten Leute.
Sofort rappelte ich mich wieder auf und humpelte weiter in den Schuhen, die zum Laufen nicht taugten. Weiter vorne stand wieder eine Gruppe von Leuten.
»Wo ist der Bahnhof?«, keuchte ich. Einer der Jungen zeigte vage hinter sich, und ich rannte weiter, so schnell meine Schuhe und mein Knöchel es zuließen.
Es war nicht weit. Aber es fühlte sich an wie ein ganzes Leben. Endlich taumelte ich die Treppe hinauf und befand mich in dem hellen, lauten Bahnhofsgebäude.
Wohin sollte ich mich wenden? Wie sollte ich den Zug aufhalten? Ich sah ein Schild, auf dem Information stand, und lief dorthin. Ich hatte Informationen, auch wenn ich selbst nicht wusste, woher sie kamen.
»Sie müssen den Zug um neun Uhr siebenundzwanzig nach Swansea aufhalten«, sagte ich zu dem Mann hinter der Theke.
»Gleis vier«, erwiderte er und wandte seine Aufmerksamkeit dem Mann hinter mir zu.
»Nein«, sagte ich, und als er mich anschaute, schrie ich: »Sir! Sie verstehen mich nicht. Sie müssen diesen Zug aufhalten. Neun Uhr siebenundzwanzig. Er darf den Bahnhof nicht verlassen.«
Der Typ blickte mich an. »Ich halte keine Züge auf«, erwiderte er. Dann wandte er sich wieder der Person hinter mir zu.
»Idiot!«, murmelte ich, wobei ich mir nicht ganz sicher war, ob ich ihn oder mich meinte. Natürlich hielt er keine Züge auf. Er war der Typ an der Info. Wo war der Typ, der Züge aufhielt?
Superman hält Züge auf, dachte ich, nicht Bühnenwahrsagerinnen mit blöden hohen Absätzen. Als ich ein Schild mit der Aufschrift First Great Western sah, lief ich zu der Glastür. Sie war verschlossen.
»Blöde britische Öffnungszeiten.« Ich trat gegen die Tür. Dann blickte ich zu der großen Uhr über dem Informationsschalter.
Beinahe zehn nach neun. Noch siebzehn Minuten.
Mir drehte sich der Magen um. Ich musste den Zug unbedingt aufhalten.
Gleis vier hatte der Typ an der Info gesagt. Am besten lief ich zum Gleis und überredete den Lokführer, nicht loszufahren. Wenn es nötig wäre, könnte ich mich ja vor den Zug stellen und darauf vertrauen, dass sie mich schon nicht überfahren würden.
Die Leute glaubten mir. Das war mir doch gerade bei meinem Publikum auch gelungen.
Der Weg zu den Gleisen war durch Drehkreuze versperrt, in die man sein Ticket stecken musste. Ich blickte erneut auf die Uhr. Elf nach neun, noch sechzehn Minuten.
Ich trat zu dem Mann, der das Drehkreuz bewachte. Fieberhaft dachte ich mir Strategien aus. Die Wahrheit zu sagen, kam nicht in Frage. Er würde mich für eine Irre halten. Eine Fahrkarte kaufen: nein. Mein Portemonnaie war in meiner Garderobe.
Die Lüge kam mir leicht über die Lippen. »Entschuldigen Sie, Sir, ich bringe einen Freund zum Zug, und er spricht kein Englisch. Kann ich schnell durchgehen und mich vergewissern, dass er gut wegkommt?« Trotz der Panik, die mich erfüllte, lächelte ich den Mann an.
»Ja, klar, Schätzchen«, sagte er und schob eine Plastikkarte in das Drehkreuz, damit ich durchgehen konnte. Ich sprintete auf den Bahnsteig.
Nächster Zug: 21.27 Swansea.
Das rote digitale Zeichen blinkte vor mir auf. Auch als ich die Augen schloss, sah ich es immer noch vor mir.
Ich packte die Person, die neben mir stand, am Arm.
»Fährst du mit diesem Zug?«
Es war ein asiatischer Jugendlicher mit einer schweren Goldkette um den Hals, einem Goldring im Ohr und einer stacheligen Frisur. Er musterte mich. »Ja, warum?«
»Du kannst nicht einsteigen. Bitte, steig nicht in den Zug.«
Er kniff die Augen zusammen. »Bist du auf Drogen?«
»Bitte, tu es einfach nicht. Okay?« Der Bahnsteig war gedrängt voll mit Leuten, die alle den Zug nehmen wollten. Ich konnte nicht warten, bis der Junge mir antwortete. Ich ließ ihn los und griff nach jemand anderem.
Eine Frau im mittleren Alter, die einen etwa sechsjährigen Jungen an der Hand hielt. Sie zuckte erschreckt zurück, als ich sie anfasste, dann riss sie sich los.
Alles war zu laut, die Farben zu grell; auf dem Bahnsteig war es heiß, weil sich so viele Menschen dort drängten, und die Augen des kleinen Jungen waren blau, strahlend blau. Er blickte mich ängstlich an.
»Steigen Sie nicht mit ihm in den Zug«, sagte ich zu der Frau. »Bitte. Steigen Sie nicht mit dem Kind in den Zug.«
Sie wandte sich ab und ging den Bahnsteig entlang, wobei sie den kleinen Jungen hinter sich herzog. Er stolperte, weil sie so schnell ging, und blickte sich nach mir um.
Mir war schlecht.
»Entschuldigung!«, schrie ich. Auf der Bühne fange ich an zu flüstern, wenn ich gehört werden will. Schreien war eigentlich nicht mein Stil. Aber zum Glück verfügte ich über eine kräftige Stimme.
Auf dem Bahnsteig trug sie jedoch nicht sehr weit. Schlechte Akustik, dachte ich. Ich holte tief Luft und versuchte es noch einmal.
»Entschuldigung, meine Damen und Herren! Es tut mir leid, dass ich Sie stören muss, aber es ist lebenswichtig, dass Sie mir zuhören. Steigen Sie nicht in den Zug um neun Uhr siebenundzwanzig nach Swansea. Ich wiederhole: Steigen Sie nicht in den Zug!«
Etwa die Hälfte der Leute auf dem Bahnsteig starrte mich an, die andere Hälfte tat so, als sähe sie mich nicht. Das lag wahrscheinlich an meiner Kleidung, die perfekt für die Bühne war, aber hier vermutlich nicht gerade den Eindruck vermittelte, als ob ich ernst zu nehmen wäre. Glitzertop, Jeans, hohe Absätze, viel Silberschmuck: Wahrscheinlich sah ich so aus wie die angetrunkenen Jugendlichen auf der Straße.
»Sie halten mich vermutlich für verrückt, aber das bin ich nicht. Ich würde nicht hier stehen, wenn es nicht wirklich wichtig wäre, dass Sie nicht in den Zug steigen. Wir müssen verhindern, dass der Zug den Bahnhof verlässt.«
Die Leute stießen sich an und tauschten Blicke und Kommentare aus. Ich versuchte, Blickkontakt mit einem Mann aufzunehmen, der in meiner Nähe stand, aber er schaute rasch weg. Das Gleiche passierte mit der Frau, bei der ich es als Nächster probierte.
»Ma'am? Sir? Bitte, ich meine es ernst. Sir?«
Briten. Ich war noch nicht lange in England, aber ich hatte so etwas schon mal in der U-Bahn in London erlebt. Ein Mann war eingestiegen und hatte angefangen, ein trauriges Lied zu singen. Dabei war er im Wagen auf und ab gegangen und hatte die Hand aufgehalten. Niemand hatte ihn angeschaut. Sie hatten durch ihn hindurchgesehen, als ob er Luft wäre. Niemand hatte über sein Lied gelächelt, noch nicht einmal die wenigen Leute, die ihm ein paar Münzen gaben. Niemand hatte ihm in die Augen gesehen.
In Amerika sehen die Leute dich an, sie reden mit dir, sie weichen deinem Blick nicht aus. Meine Gedanken überschlugen sich. Alle taten so, als wäre ich Luft.
»Bitte!«, schrie ich. »Ich sage die Wahrheit!«
»Auf Gleis vier fährt ein der Eilzug nach Swansea. Abfahrt einundzwanzig Uhr siebenundzwanzig. Über Swindon, Bristol Parkway, Newport, Cardiff Central und Swansea. Gleis vier, der Zug fährt ein.«
Die Ankündigung wurde von einer Automatenstimme vorgetragen, männlich und hohl, unvermeidlich wie der Tod. Sie hallte, wie meine Stimme es nicht getan hatte.
Swindon. In Swindon würden noch mehr Leute einsteigen. Die Panik, die mir den Hals zuschnürte, schmeckte wie Blut.
»UM GOTTES WILLEN, LEUTE, HÖRT IHR MIR ENDLICH ZU!« Meine Stimme brach, und ich spürte, wie sich eine Hand auf meine Schulter legte.
Endlich. Jemand schenkte mir Beachtung. Ich drehte mich um und stand vor einem dicken Mann in der Uniform der britischen Eisenbahnpolizei.
»Miss, wenn Sie sich beruhigt haben, können wir versuchen . «
Ich packte ihn an den Aufschlägen seiner Jacke. »Oh, Gott sei Dank!«, schrie ich. Ich hatte keine Ahnung, wie ich aussah, aber ich hatte das Gefühl, gleich platzen zu müssen, weil ich im Hintergrund den Zug schon kommen hörte.
»Danke! Sie müssen diesen Zug aufhalten. Er darf den Bahnhof nicht verlassen. Sie denken vielleicht, ich bin verrückt, aber das bin ich nicht. Ich weiß, es wird etwas . «
Der Polizist murmelte: »Ja,...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: ohne DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet – also für „glatten” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Ein Kopierschutz bzw. Digital Rights Management wird bei diesem E-Book nicht eingesetzt.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.