Schweitzer Fachinformationen
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Stella betrachtete sich im Spiegel. Sie beugte sich leicht vor, kniff die Augen zusammen. War das ein graues Haar in ihren hellbraunen Locken? Kurzentschlossen wickelte sie es sich um den Zeigefinger und riss es aus.
Roland, schon im dunkelblauen Anzug, den er immer trug, wenn er eine Vorlesung an der Uni hielt oder einen anderweitigen öffentlichen Auftritt hatte, kam zu ihr. Er schmiegte sich von hinten an sie, umfasste ihre schmale Taille und lächelte ihr im Spiegel zu. Stella lehnte sich gegen seinen schlanken Körper und schloss für einen Moment die Augen.
»Willkommen im Club«, flüsterte er ihr zärtlich ins Ohr.
Erstaunt drehte sie sich zu ihm um. »In welchem Club?«
Roland grinste. »Wann wirst du endlich akzeptieren, dass mir kein Geheimnis verborgen bleibt? Gib es zu, du hast eben dein erstes graues Haar entdeckt. Und ausgerissen hast du es, du eitle Schönheit!«
Stella sah ihn an und schüttelte den Kopf. Woher wusste dieser Mann, den sie vor achtzehn Jahren Hals über Kopf geheiratet hatte, nur immer, was sie gerade beschäftigte? Und warum schaffte er es im Gegenzug, seine Gedanken vor ihr zu verheimlichen?
Bei einem Spaziergang an der Elbe war sie damals fast in ihn hineingelaufen, als sie vergeblich versucht hatte, mit ihrem ersten Handy Olga anzurufen. Sie war mit ihr an jenem Sommertag in der Strandperle verabredet gewesen und mal wieder versetzt worden. Als sie mit Roland zusammenstieß und in seine schokobraunen Augen sah, war ihr erster Gedanke, dass sie ihrer Freundin eigentlich dafür danken musste, dass sie nicht erschienen war.
Denn Stella wusste damals sofort: Das war sie, die große Liebe. Seit ihrer Hochzeit mit anschließender Party in besagter Strandperle verbrachten sie so viel Zeit wie möglich zusammen. Als Nele vor vierzehn Jahren geboren wurde, schnappten sie sich das kleine Bündel und fuhren gemeinsam zu Rolands Vortragsreisen.
Olga machte sich oftmals über die beiden lustig, sie nannte sie »Die Unzertrennlichen«. Ja, das waren sie, auch wenn der Zynismus in Olgas Stimme nicht zu überhören war.
Stella lächelte ihren Mann an. »Und du gibst es am besten gleich zu, dass du es kaum erwarten konntest, mich in deinem Silberrücken-Club willkommen zu heißen.« Liebevoll fuhr sie ihm mit den Fingern über sein kurzgeschorenes Haar, zog seinen Kopf zu sich herunter, küsste ihn. Roland war achtundvierzig, während sie erst in zwei Jahren ihren vierzigsten Geburtstag feiern würde. Knapp ein Jahrzehnt trennte sie.
»Hm, vielleicht«, sagte er und erwiderte ihren Kuss. »Und vielleicht sollte ich meinen Vortrag auf heute Nachmittag verschieben.«
Lachend stieß Stella ihn zurück. »Du bist ja verrückt. Schließlich eröffnest du mit deiner Rede den Kongress!«
»Papa! Ich komme zu spät!«, rief Nele plötzlich. »Du hast gesagt, du bringst mich!«
Stella wollte antworten, doch Roland schüttelte den Kopf und legte einen Finger auf ihre Lippen. »Schon vergessen? Auf Gemaule und Nörgeleien reagieren wir doch nicht mehr.« Er zwinkerte Stella zu. »Und wie sieht dein Tag heute aus?«
Stella zuckte mit den Schultern. »Wie immer. Einkaufen, Haushalt und die übliche Internetrecherche für unser Traumhaus.«
Roland nickte wissend. »Ist das Manuskript zum Übersetzen immer noch nicht da?« Er hielt ihr die Krawatte hin, die er die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte. Stella griff danach und band ihm einen Knoten. Selten genug trug Roland einen »Halszuschnürer«, wie er seine drei Krawatten nannte.
»Nein. Hätte ich dir doch erzählt, wenn der Roman schon da wäre.« Erst jetzt sah Stella den Fleck auf dem Schlips. »Die Krawatte hier ist schmutzig, nimm lieber den roten Halszuschnürer.«
Roland war schon an der Tür. »Als Wissenschaftler kann ich meinen Vortrag auch mit einem kleinen Fleck halten. Bei einem schusseligen Prof erwartet man das praktisch. Ruf doch mal beim Verlag an, wo das Manuskript bleibt. Du hast dir ja schließlich die Zeit dafür frei gehalten. Oder?«
Stella nickte. »Und was ist mit Frühstück?«
Roland verzog leicht das Gesicht. »Kein Bedarf. In meinem Magen grummelt es. Unangenehm. Ich faste heute lieber.« Er rieb sich abwesend über den Bauch.
In letzter Zeit hatte er einiges an Gewicht verloren, das er in den vergangenen Jahren zugelegt hatte, woran im Allgemeinen die viele Schreibtischarbeit und im Speziellen seine Unlust an regelmäßigem Sport schuld gewesen war. So wie er jetzt aussah, gefiel er Stella, auch wenn sie ihn fast ein bisschen zu hager fand.
»Wahrscheinlich bin ich doch ein wenig aufgeregt. Holst du mich später ab? So um fünf?«
Stella folgte ihm in den Flur, wo Nele bereits auf ihren Vater wartete und nur kurz genervt von ihrem Handy aufsah, um gleich weiter darauf rumzutippen.
»Um fünf? Im CCH? Wieso das denn? Du hast doch den Wagen.«
»Bitte, Stella! Es sind ja nur ein paar Busstationen. Du könntest auch laufen. Wirst schon sehen, warum. Lass dich überraschen.« Er griff nach einem kleinen Stick, der auf der honigfarbenen Biedermeierkommode im Flur lag, öffnete die Tür und verbeugte sich betont galant, um Nele den Vortritt zu lassen. Ihre Tochter hüpfte kichernd ins Treppenhaus des Backsteinbaus. Die Dreizimmerwohnung in Eimsbüttel hatten sie schon vor Neles Geburt bewohnt. Es war ihr kleines Paradies gewesen, im vierten Stock, ohne Fahrstuhl, dafür mit Balkon, perfekt für sie und ihre junge Liebe.
Inzwischen war die Wohnung eindeutig zu klein für die Familie. Das Bücherregal im Wohnzimmer quoll über, der Esstisch war ständig mit Rolands wissenschaftlichen Unterlagen übersät, zwischen denen Neles Schminkutensilien lagen. Sie behauptete, dafür keinen Platz im Badezimmer zu finden. Und Stella war es gründlich leid, in der Küche zu arbeiten.
»Oh, schon wieder eine Überraschung, Paps! Spannend! Ciao, Mama, bis heute Abend.«
Stella zog die Stirn kraus. »Wieso heute Abend? Du hast doch nur bis halb zwei Schule.«
Nele verdrehte die Augen. »Mensch, Mama, wie oft denn noch? Ich reite heute Melanies Pferd. Für umsonst! Ich fahr gleich nach der Schule hin!«
»Tut mir leid, habe ich total vergessen.« Melanie war Neles Freundin im Reitstall. Wo Melanie war, war Nele nie weit und umgekehrt.
Roland hielt inne. »Wieso bin ich immer der Letzte, der von solchen Terminen erfährt?«
Stella sah ihn erstaunt an. Das passte gar nicht zu ihm, sich in Neles Freizeitgestaltung einzumischen. Es gehörte eindeutig zu ihren Aufgaben, Nele zu ihren Verabredungen zu fahren und abzuholen. »Wieso, ist das jetzt wichtig?«
Roland lächelte verlegen. »Na ja, vielleicht hatte ich ja etwas für heute Abend geplant.«
Nele zog ihn an Ärmel. »Whatever, Paps. Ich geh reiten, danach komme ich nach Hause. Alles gut. Aber wenn ich jetzt zu spät bin, macht mich der doofe Frazer vor der ganzen Klasse rund! Das bockt nicht. Komm jetzt!«
Roland und Stella waren sich einig gewesen, dass Nele auf eine bilinguale Schule ging, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Für Roland war Englisch die Sprache der Wissenschaft, die man perfekt zu beherrschen hatte. Stella, die ein Semester in London studiert hatte, sah das etwas sentimentaler. Sie freute sich, wenn sie eine Fremdsprache mit ihrer Tochter teilen, zusammen Filme sehen oder Bücher im Original lesen konnte. Inzwischen sprach Nele nahezu akzentfrei.
Stella blickte ihrem Mann nach, der gleich im großen Saal des Congress Center Hamburgs über sein Lieblingsthema »Gelebte Geschichte« sprechen würde. Nele wirkte in ihren engen Jeans neben ihrem Vater beinah noch kindlich. Die Gesprächsfetzen wurden mit jedem Treppenabsatz, den die beiden hinunterstiegen, leiser.
Seufzend schloss Stella die Tür. Roland und seine Überraschungen! Manchmal nervte sie das ungemein. Denn nicht immer hatte sie Lust, überrascht zu werden. Aber wenn Roland sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, zog er es durch.
Erst vor zwei Wochen, Anfang April - zu Beginn der Segelsaison -, hatte er sie mit einem Ausflug bei strömendem Regen überrascht. Auf ihren Vorschlag, doch lieber einen Tee in dem kleinen Bootshaus zu trinken, war er nicht eingegangen. Sie seien ja nicht aus Zucker, hatte er gemeint und war losgesegelt.
Stella mochte zwar Wasser und war eine gute Schwimmerin, fühlte sich jedoch in einem schaukelnden Segelboot unwohl. Aber Nele war begeistert, lachte sie aus und verbündete sich mit ihrem Vater: Die paar Tropfen, Mensch, Mama .
Es war ein kalter Tag gewesen, wie durch ein Wunder waren sie nicht alle erkältet zurückgekehrt.
Mit Roland zu diskutieren war zwecklos. Stella wusste genau, dass sie nur verlieren würde. Manchmal war er fast schon unangenehm in seiner Dominanz, die sich im Laufe ihrer Ehe verstärkt hatte. Vielleicht empfand Stella es aber nur so, nach dieser achtzehnjährigen Ehe, weil nicht er, sondern sie sich verändert hatte?
Doch die Liebe zu Roland stellte sie nicht eine Sekunde infrage. Er war der Mann an ihrer Seite, die Hand, nach der sie griff und die immer da war, wenn sie sie brauchte. Am Anfang ihrer Ehe war sie oft nachts mit dem Gedanken neben ihm aufgewacht, dass Roland ihr Zuhause war. Sie hatte sich dann eng an ihn gekuschelt und seinen gleichmäßigen Atemzügen gelauscht, die sie wieder in einen tiefen Schlaf fallen ließen.
Doch heute war die Macht zwischen ihnen ungleich verteilt. Das hatte wohl seine Wurzeln darin, dass sie als freiberufliche Übersetzerin vom Englischen ins Deutsche nicht viel zum Unterhalt der Familie beitrug; außerdem regelte...
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