Einleitung
. a tale, told by an idiot and signifying nothing.
Shakespeare
Und jeder glaubt ein All zu sein
Und jeder ist im Grunde nichts.
Platen
Patience! Patience! Patience!
Paul Valéry
Ein Schriftsteller tut nichts anderes, als daß er das Wesentliche seines Lebens und Erlebens - oder das, was er dafür hält - schreibend mitteilt. Rückt er sich mit einem besonderen autobiographischen Versuch gewissermaßen noch näher auf den Leib, so problematisiert er sich auf eine höchst ungewöhnliche Weise. Er soll, immer des schreibenden Mittels sich bedienend, durch den Schriftsteller durch, über ihn weg, unter ihm vorbei gelangen zu einer Art höheren Privatperson, die den Schriftsteller nur als einen Teil einbegreift. Wo befindet er sich also?
Das Leben ist zu kurz, als daß man das Haar viermal zu spalten Zeit hätte. Und das Leben ist wieder zu lang, als daß man den Überfluß an Zeit besser verwenden könnte als damit, das Haar viermal zu spalten. Damit ist vielleicht die Paradoxie der Schriftstellerexistenz umschrieben.
Ich muß den Leser, an den die Einladung dieses Buches ergangen ist, an einigen Überlegungen teilhaben lassen, die ich anstellte, bevor ich es zu schreiben mich entschloß. Ist es immer gut, sich vor einem solchen Unternehmen einige Gedanken zu machen, so ist es in diesem Falle ganz unerläßlich.
Ich mußte mich, als meinen Biographen, doch vor allem fragen, ob er auch sicher ist, den nackten »Autos« im Netz seiner schön hintereinander aufgereihten Sätze zu fangen. Nicht als ob er diesen »Autos« für ein Wunder an hechtischer Geschicklichkeit im Entschlüpfen hielte oder als ob dieses nackte Ich an der ihm fremden Filetkunst des Wortemachens zweifelte oder daran, daß es dem Biographen nicht gelänge, das Falsche, womit ein Simultanes durch das im Erzählen nur mögliche Nacheinander um sich selber kommt, zu verbergen. Die Frage ist, ob man sich als Autobiograph nicht in der auf den Kopf gestellten Situation befindet, daß der Fisch den Angler fängt, der nur so tut, als angle er den Fisch und suche ihn dabei auf dem Grunde, wo er sich zu verbergen sucht als in einer Ruhe, die er nun endlich haben will, um ungestört zu sterben, mit allem Desinteressement, wie es mählich versagendes Funktionieren mit sich bringt. Überschauen eines Lebens von einer vermeinten Höhe der Erfahrung aus - welch ein schlimmes Wort! Ist das noch Leben, das sich mitteilt? Wenn das Herz versagt . welch klare, schonungslose Bildung, dieses Wort »versagen«!
Ein Freund, pascalischer Christ und Mathematiker, hebt den Blick, und der sagt, daß dieses irdische bornierte Leben nicht anders zu betrachten sei denn als ein infinitesimaler Bruchteil eines ewigen Lebens. Und deshalb gäbe es kein »ich selbst«, das erkennbar wäre in dem Ephemeren so kurzer Belichtung, wie es das menschliche Leben auf dieser Erde sei. Aber, lieber Freund, meiner und Pascals, dieses gegebene Leben ist unser Ganzes! Um zu leben und gelebt zu haben, suche ich eine Zeit, und in deren Momente suche ich meine ganze Kraft und alle meine Hoffnung zu legen; und je kürzer diese Momente werden, um so mehr erhöhe ich ihren Wert. Was ist dagegen irgendein Moment einer Ewigkeit, und wäre sie mit unendlichem passiven Glück erfüllt! Möchte eine Mutter das Leben ihres einzigen Kindes verwetten gegen mehrere, gegen eine Unendlichkeit von Kindern? Nein, das Zittern des Eingeweides vor dem Tode soll da keine Entscheidungen treffen. Der große Lehrer wollte nur zeigen, daß wir, indem wir das Opfer unseres Lebens bringen, nichts verlieren und daß wir den Lohn dafür nicht irgendwann einmal, sondern in diesem Leben, hic et nunc, selber finden. Man kann sich für oder gegen die Wahl entscheiden, die Jesus getroffen hat, aber doch nur aus freien Stücken und ohne Hoffnung und ohne Angst. Das Zittern des Eingeweides soll unsern Geist nicht verwirren und nicht drängen.
»Die Erfahrung«, sagt ein katholischer Romancier, »ist für die meisten Menschen nach einem langen Leben nur das Ende einer langen Reise um ihr eigenes Nichts.« Ich habe keinerlei Erfahrung, und auch das hinter mir herkläffende Hündchen der Gewohnheit, dieser Megäre, soll mich nicht dazu ermüden, um eines durchaus fraglichen sehr allgemeinen Begriffes das immer Besondere um seine Eigenschaft zu bringen, ein Skelett dem Fleisch vorzuziehen. Man hat es im Leben ja immer mit der unbekannten Größe des Partners zu tun, wäre der auch nur ein junges Mädchen von achtzehn Jahren. Man ist nie sicher vor den Überraschungen, welche das Allgemeine über den Haufen werfen zugunsten des Besonderen. Eben dieser Überraschungen und dieses Besonderen wegen unternimmt man ja das Ganze, nachdem die embryonale Grundfrage »Wozu lebt man?« damit beantwortet wurde, daß man zur Welt kam und lebt. Wer würde noch einen elften Schritt machen, wenn sich nach den ersten zehn Schritten die auf das Identische gegründete Rationalität der Welt herausstellte? Nichts ist schon dagewesen, solange man lebt.
Es müßte hier einiges stehen über die Antinomie der mathematischen Zeit und der psychologischen Dauer, und daß Qualitatives nicht in mathematische Cadres zu bringen ist. Aber ich möchte den Eintritt in das Buch nicht mit Stacheldraht schwierig machen. Ich bin weit vom Zynismus des Debütanten, der nur für sich selber zu schreiben erklärt, gewiß ein nobles Ideal. Auch das ist nicht meine Sache, zwischen der oft bemerkten Geringachtung des Lesers durch den Schreiber und der Einsicht in die doch unumgängliche Notwendigkeit des Lesers ein brauchbares Abkommen zu treffen. Nichts liegt meiner konzilianten Natur ferner, als Schwierigkeiten zu machen und Dunkelheiten zu schaffen. Ich habe bemerkt, daß viele Autoren nur deshalb dunkel und unverständlich sind, weil sie sich nicht Zeit genug zur Klarheit nehmen. Oder weil sie fürchten, daß bei klarem und nicht getrübtem Wasser die Seichte dieses Wassers offensichtlich würde. Im Dunkeln ist gut dichten. Wie viele Lyriker das wissen! Ich verrate damit ein Berufsgeheimnis - aber ist nicht solches, auch solches, der eigentliche Sinn eines Buches, das ein Schriftsteller über sich selber schreibt? Wenn er schon bekennen soll, was sonst sollte er denn bekennen als Berufsgeheimnisse? Sollte er fortfahren, den Spezialisten, den Fachmann mit der Würde eines Geheimnisses zu umgeben, wo er doch nichts tat und tut, als daß er aus dem Universum des Vorhandenen gewisse Elemente formte, deren Existenz einem Publikum wenn nicht vertraut, so doch von ihm geahnt oder gefühlt wird und die sich deutlicher zu machen ihm nur die Zeit und die Technik fehlen? Weshalb das Spezialisten besorgen. Musiker haben unter sich die Gewohnheit, auf die ordinärste Weise von ihrer Kunst zu reden, von der F-Flöte, von Synkopen, von beziffertem Baß und so weiter. Laien ärgert das sehr. Sie zu trösten, schreiben dann Nicht-Musiker jene gedankenreichen, tiefsinnig deutenden Bücher strotzend von Weltanschauung. Maler reden vom Chromgelb. Hätte Rembrandt soviel über sich gedacht wie Simmel über Rembrandt in seinem Buche, der Maler hätte sicher kein Bild gemalt. Eher schon ein Buch über Simmel geschrieben.
Apologetisch zur Sache gesprochen. Es sind ein paar Freunde, die den Verfasser kennen und trotzdem nicht aufhören, ihn zu lieben. Um sie legt sich ein schmaler und wenig konsistenter Ring, dem mehr Mißverständnis und Legende als sonst etwas einiges Gefüge gibt: die Leser, wie solches eben jede, auch die geringst auffallende Öffentlichkeit einer Person herbeiführt, die sich schreibend mitteilt. Und gleich nach diesen paar Lesern beginnen die Millionen der Sprachgenossen, denen des Verfassers Name, wenn sie ihn vernehmen, nichts bedeutet als ein Zufall von vier zusammengefügten Buchstaben. Und dieses Leben, das also nahezu ein Privatleben ist, ein Nichts von Schatten wirft, das als Leistung anzusprechen wäre, dieser Autor nimmt sich heraus, sein Leben zu erzählen und in Druck zu geben? Welche Anmaßung eines Podestes! Auch einem nicht allzusehr mit dem europäischen Vorurteil Belasteten, daß der Mensch sein Leben durch eine erfolgreiche Leistung zu rechtfertigen habe, könnte es als Vordringlichkeit erscheinen, als Wichtigtuerei, als schwatzhafte Eitelkeit, die sich selber ihr Echo macht, das der allzu schwachen Stimme immer versagt geblieben ist. Wie soll ich es rechtfertigen? Indem ich den Leser zu überreden versuche? Die Überredung ist ja des Schriftstellers spezifische Kunst.
Ich könnte mir ein weises Gesetz denken, das die Bürger eines Staates verpflichtete, sich an ihrem fünfzigsten Geburtstage hinzusetzen und mit der Feder in der Hand die Summe ihres Lebens zu ziehen, kurz und gut, wie sie es eben treffen, sich zu erinnern, zu besinnen, mit einem gewissen Eigensinn zur »Wahrheit« Bericht zu erstatten über die gehabten Erwartungen, eingetretenen Enttäuschungen, die Erlebnisse und deren Ablauf, ihre Geld-, ihre Liebesaffären, Liebhabereien und Vorurteile, Erfolge und Mißerfolge. Man erfährt doch recht wenig aus der Statistik, die mitteilt, daß in diesem Jahre so viele Menschen geboren wurden und so viele gestorben sind. Wenn das auch der heutigen Verliebtheit in die Zahl entspricht. Wenn das auch der physiognomischen Ähnlichkeit, fast Gleichheit der heutigen Millionen entspricht, deren latenter Wunsch ist, irgendeine Uniform zu tragen. Meine akademische Karriere wurde mir zu ihrem Beginn odios, als man mir eröffnete, daß ich neben meiner Theorie der reinen Wirtschaft auch ein Pflichtkolleg über Statistik zu lesen haben würde. Ich liebe die Zahl wie die Pythagoräer, fast wie Planck in Berlin, aber nur innerhalb der Welt der Zahlen. Ein bißchen mehr als eine...