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Er zögerte. Dann nahm er das tote Huhn, das sein Vater ihm reichte. Da, wo vorher der Kopf gewesen war, klebte jetzt Blut an dem weißen Gefieder. Sune hatte Blut noch nie gemocht. Den Geruch nicht und auch nicht die dunkle Farbe, wenn es herauslief und eine Pfütze bildete.
Aber das wollte er sich heute nicht anmerken lassen. Nicht vor seinem Vater. Nicht heute.
Wenn seine Mutter auch mit dabei wäre, dann wäre alles leichter, dachte er und blinzelte ein paarmal. Aber seine Mutter lag in ihrem Schlafzimmer im Sterben. Fast den ganzen Tag hatte er an ihrem Bett gesessen. Das Schlimmste war der Tropf. Die Stelle, wo die Nadel in ihrer Hand verschwand. Er konnte gar nicht hinsehen, obwohl ein Pflaster darüberklebte. Sie hatte geschlafen, als sein Vater ihm zurief, sie müssten los.
Seit Monaten hatte er sich auf seine Jugendweihe gefreut, auf das Ritual und die Feier. Wie oft hatte er sich vorgestellt, wie es sein würde, abends als Kind von zu Hause wegzufahren und irgendwann nachts als Mann zurückzukehren. Zumindest würde er von da an als solcher betrachtet werden und die gleichen Rechte und Pflichten haben wie ein Erwachsener. Seine Klassenkameraden waren bereits alle konfirmiert, aber die Asatrus bestätigten ihren Glauben erst an ihrem fünfzehnten Geburtstag. Und Sune wurde heute fünfzehn.
Er legte das Huhn in den Eimer, den sein Vater geholt hatte, und stellte ihn in den Fußraum vor dem Beifahrersitz, bevor er selbst ins Auto kletterte. Sein Vater hatte den weißen Lieferwagen mit allem beladen, was sie für den Mitternachtsblót brauchten, und er selbst hatte sich gerade noch einmal vergewissert, dass er auch wirklich die beiden kleinen Geschenke für die Götter dabeihatte.
Das eine sollte seine Kindheit symbolisieren, das andere seine Zukunft. Er hatte sich für sein Lieblingskinderbuch entschieden, obwohl es ihm sehr schwerfiel, sich von der abgegriffenen Ausgabe von Pu der Bär zu trennen. Tesafilm hielt das Buch zusammen. Seine Mutter hatte ihm daraus vorgelesen, bis die Seiten herausfielen. Sune wusste, dass seinem Vater diese Entscheidung nicht passte. Statt eines Buches hätte der Junge doch besser einen Fußball genommen, hatte er gesagt. Aber Sunes Mutter hatte zu ihrem Sohn gehalten.
Die andere Opfergabe war das große Taschenmesser, ein Geschenk seines Vaters. Sune hoffte, die Götter würden ihm als Erwachsenem dafür Mut und Stärke geben. Er wollte ganz bestimmt nicht Schlachter werden wie sein Vater und sein Großvater. Aber ihm war nichts Besseres als dieses Messer und dieser Wunsch eingefallen. Und sein Vater war zufrieden gewesen.
Sune würde auch selbst ein Geschenk bekommen. Ein Geschenk, das ihm einen Schubs in die richtige Richtung geben würde. Sein Vater hatte seinerzeit ein Schlachtermesser bekommen. Lesen und Schreiben waren nicht seine Stärke gewesen, und so hatte Sunes Großvater seinen Sohn gleich nach dessen Jugendweihe von der Schule und zu sich in die Schlachterlehre genommen. Sune hatte auch schon von einem Jungen gehört, der ein Flugticket nach irgendwohin ganz weit weg bekommen hatte, begleitet von der Ansage, er solle erst dann zurückkehren, wenn er nicht mehr an Mutters Rockzipfel hing. Er war nie wiedergekommen.
Sune hoffte, eine Silberkette mit einem Thorshammer zu bekommen, dem Symbol ihres nordischen Glaubens. Sein Vater hatte ihm vorgeschlagen, sich das zu wünschen. Als sie jetzt in den Waldweg abbogen und der Vater ihn fragte, ob er bereit sei, lächelte Sune und nickte.
Er sah die Fackeln und das Feuer schon von Weitem. Die Dämmerung war fortgeschritten, die hohen Bäume ragten dunkel über ihnen auf, und die goldenen Flammen wirkten einladend. Sune spürte ein Kribbeln im Bauch, als er sah, dass die anderen bereits da waren und alles für ihn vorbereitet hatten. Die Flammen der Fackeln tänzelten in der Dunkelheit.
Heute Abend war sein Blót. Endlich würde er in den Kreis der Männer aufgenommen. Solange Sune denken konnte, war er mit seinen Eltern in den Wald gefahren, um sich mit den anderen Asatrus zu treffen. Er liebte die Stimmung bei diesen Zusammenkünften und das große gemeinsame Mahl, das es gab, wenn die Erwachsenen mit der Gottesanbetung fertig waren. Bisher war er aber nie selbst ein Teil des Kreises gewesen. Bisher war er ihren Regeln nicht verpflichtet gewesen. Wenn er heute Abend Teil des Kreises der Männer und dieser Kreis mit ihm geschlossen wurde, war er für immer an seinen Eid gebunden. Der Kreis der Erwachsenen konnte nur von Kindern oder von Tieren gebrochen werden, die nicht begriffen, dass er heilig war. Sune und die anderen Kinder waren immer zum Spielen hinter den großen Feuerplatz geschickt und strengstens ermahnt worden, die Erwachsenen nur dann zu stören, wenn eins der Kinder sich ernsthaft verletzte.
Ab heute Abend würde er ein Teil des Kreises sein, wenn die Götter angerufen wurden. Er würde mitmachen dürfen, wenn das Trinkhorn die Runde machte, und zum Dank für seine Weihe würde er den Göttern das Huhn opfern und seinen nordischen Glauben bestätigen. In den letzten Monaten waren sein Vater und er sämtliche Rituale durchgegangen. Sein Vater hatte ihm vom Eidring erzählt und ihm eingeschärft, dass ein Gelöbnis bei diesem Ring ein Versprechen an die Götter war, das man niemals brechen durfte.
Sune dachte an das Schwein hinten im Lieferwagen. Es würde zum Schluss der Zeremonie getötet und sein Blut den Göttern geopfert werden, eine Dankesgabe der Familie für die Aufnahme ihres Sohnes.
Sein Vater ging ihm voraus Richtung Feuer. Mit zwei Metern Abstand standen die Fackeln rundherum, das Ganze sah fast wie eine Festung aus. Sune war die Stille plötzlich unangenehm, und auch, dass die Männer sich so feierlich in einer Reihe aufgestellt hatten und jetzt einer nach dem anderen hervortraten, um ihn in den Arm zu nehmen. Er wusste nicht, was er sagen sollte, und versuchte, sein stolzes Grinsen zu unterdrücken, schließlich wollte er nicht kindisch wirken. Da legte sich der Gode den Umhang um, und die Männer versammelten sich schweigend in einem Kreis rund um das Feuer.
Jetzt, dachte Sune. Jetzt ist es so weit. Gleich bin ich erwachsen.
Eigentlich war er davon ausgegangen, dass der Gode das Wort ergreifen würde. Schließlich sprach er auch immer die Einführung, wenn die Erwachsenen sich in einem Kreis versammelten. Aber es war sein Vater, der hervortrat, den Kopf leicht zur Seite neigte und seinen Sohn mit einem Lächeln im Blick ansah.
»Sune, mein Sohn«, hob er etwas unbeholfen an. »Heute Abend fängt dein Leben als Erwachsener an. Ab sofort bist du kein Kind mehr, und du musst viel lernen.«
Ein paar der Männer räusperten sich oder husteten.
Sune musste an die Sage von Signe, der Tochter König Vølsungs, denken, die ihre Söhne in den Wald geschickt hatte, als der älteste gerade mal zehn war. Sie hatten furchtbare Angst gehabt. Er selbst war fünfzehn und fand den dunklen Wald auch ganz schön unheimlich. Er war nie besonders mutig gewesen, das wusste er selbst. Er musste an seine Mutter denken.
»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag«, hatte sie gesagt, als er sich am Morgen mit seinem Frühstück zu ihr ans Bett gesetzt hatte. Sie selbst aß kaum noch, sie wurde hauptsächlich über eine Sonde ernährt. Aber sie hatte gelächelt und Sunes Hand genommen. »Freust du dich auf heute Abend?«
Jetzt schob Sunes Vater ihn in den Kreis hinein, und der Gode ging langsam um den Kreis herum und sang dabei. In jeder Himmelsrichtung blieb er stehen und rief eine Gottheit an. Im Norden Odin, den höchsten aller Götter. Thor, den Beschützer der Menschen, im Süden. Frey, den Gott der Fruchtbarkeit, im Osten, und im Westen Frigg, Odins Gemahlin, die für die Ehe und Stabilität in Beziehungen stand.
»Der Kreis ist geschlossen«, erklärte der Gode, als er wieder seinen Platz einnahm.
Sune bezweifelte, dass er später mal wiederholen könnte, was während des Rituals gesagt wurde. Mehrmals nahm er das Trinkhorn entgegen, drehte es so, dass die Spitze des Horns auf seinen Bauch zeigte, und hob es vorsichtig an die Lippen, damit kein Unterdruck entstand und ihm der Met ins Gesicht spritzte. Sein Vater hatte ihm erklärt, daran könne man erkennen, wer neu im Kreis war und wer schon länger dazugehörte. Sunes Wangen glühten vom Feuer und vom Alkohol. Berauscht hörte er zu, als die Männer einer nach dem anderen hervortraten und ihm einen Vers vortrugen. Einige suchten Zeilen aus der Hávamál aus, während andere Verse aus der Völuspa stammen mussten, aber es dauerte nicht lange, da verschwammen alle Worte.
Nachdem alle ihre Verse gesagt hatten, sangen sie für ihn. Sune legte die Geschenke für die Götter auf die Erde, dann machte das Trinkhorn abermals die Runde. Schließlich wurde der Kreis geöffnet. Einige der Männer jubelten und hoben Sune hoch, und wieder nahmen sie ihn einer nach dem anderen in den Arm.
Woran Sune sich später aber bis ins letzte Detail erinnern würde, war jener magische Augenblick nach dem Blót, als er in die Eidbruderschaft der Männer eingeführt werden sollte. Er blieb beim Feuer stehen, während die Erwachsenen sich unter der großen Opfereiche versammelten. Der über tausend Jahre alte Baum stand einige Meter von der Feuerstelle entfernt. Als Sune kleiner gewesen war, hatte er sich die Wartezeit, bis die Erwachsenen mit dem Blót fertig waren, mit Begeisterung damit vertrieben, immer wieder durch das große Loch im Stamm zu springen. Heute Abend sah das Loch aus wie ein großes schwarzes Auge, das ihn im Halbdunkel anstarrte. Ihm lief ein leichter Schauer über den Rücken, aber kein unangenehmer. Angst hatte er keine, im...
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