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Ich musste weg
Das nächste Level? Wie sollte das aussehen? In spürte jedenfalls, hier in Hamburg werde ich es nicht erreichen. Ein Kollege, der nicht viel früher als ich eingestiegen war, hatte immer die Nase vorn. Er war der Liebling der Oberchefin. Eifersüchtig war ich nicht direkt, aber es ärgert dich einfach, wenn du spürst, du könntest das auch alles, darfst aber nicht . Ok, vielleicht war ich doch eifersüchtig - ein wenig zumindest. Ich denke, das ist total menschlich. Zugeben würden es aber nur die Wenigsten. Immerhin gestehe ich es mir nach 20 Jahren ein.
Ich musste also weg. Level Zwei wartete. Damals unterschied ich mich nur wenig von heutigen jungen Kollegen, die oft einen ziemlich genauen Karriereplan im Kopf haben - ob realistisch oder nicht, er liegt definitiv vor. Sie haben eine genaue Vorstellung davon, was sie darstellen wollen und was nicht, sind einerseits reflektiert und extrem zielstrebig, andererseits aber auch auf dem kürzesten Weg in die Fachidiotie. Viel später in der Covidzeit hatte ich einen digitalen Workshop, bei dem es auch darum ging, viele tagtägliche Prozesse zu hinterfragen. Mir ist vor allem ein Zitat der Workshopleiterin im Kopf geblieben: "Umwege erhöhen die Ortskenntnis." Ich empfinde diese Worte heute als extrem wertvoll und richtig. Später auf meiner Reise sollte ich mich noch sehr oft an diesen Satz erinnern. Zurück zu Level Zwei. Das konnte ich nur durch einen Wechsel erreichen. Erkannt, getan. Im neuen Job eiferte ich meiner ersten Teamleiterin nach: jungen Mitarbeitern Zeit und Aufmerksamkeit schenken, gleichzeitig zum Wohle der Agentur der Geschäftsführung viel Arbeit abnehmen. Ich war Ende zwanzig, fühlte mich stark und auch gut vorbereitet. Das hatte ich Level 1 zu verdanken. Auch wenn dort die Geschäftsführerin ein echt harter Hund war, ich hatte sehr viel gelernt. Es folgten zwei weitere berufliche Jahre aus dem Koffer und auch am zeitlichen Limit. Signale des Körpers? Fehlanzeige. Im Gegenteil. Sport stand fast täglich auf meinem Programm. Noch vor dem Bürostart trabte ich im Englischen Garten in München meine Runden. Fairerweise muss man dazusagen, dass der Agenturalltag in der Regel eher um 10 Uhr startete als um acht. Dass zudem einer meiner damaligen Hauptkunden ein Sportartikelkonzern aus Herzogenaurach war, trug ebenfalls zu meinem Trainings-Eifer bei.
In dieser Zeit existierte das Wort Work-Life-Balance noch nicht. Mein Job war mein Leben. Dazu: Freunde. Sport. Nightlife. Alles unter einem Dach. Das klingt eigentlich ziemlich gut. Und ja, es war auch eine super Zeit. München ist zudem nicht die schlechteste Stadt zum Leben. Diese Kombination nimmt dein Körper auf, sprüht vor Energie. Es kostet zwar auch Kraft, man merkt es nur nicht.
Das Tempo war ab sofort also noch höher. Der Wunsch nach Erfolg und Bestätigung wuchs. Jedes Agenturkind möchte zudem irgendwann auch den nächsten Schritt machen: der Wechsel von der Agentur zum Kunden. Das hat bei mir nicht ganz geklappt. Dennoch verlief mein Weg ziemlich stromlinienförmig . Agentur Eins: zwei Jahre. Agentur Zwei: zwei Jahre. Der Sprung auf die Kundenseite war die logische Folge. Ich heuerte in der Modeindustrie an. Aus heutiger Perspektive kann ich sagen: Natürlich war der Schritt gut. Vor allem wirtschaftlich. Bis dahin hatte ich oftmals bis spät in die Nacht viel zu viel gearbeitet - für viel zu wenig Geld. Nun stimmte auch die monetäre Wertschätzung.
Zeitweise fühlte ich mich unverwüstlich und doch nutzte ich mich ab. Sehr sogar. In meinem neuen Job habe ich das erstmals gespürt. Klingt doch seltsam. Da malocht man über Jahre weit mehr als im Arbeitsvertrag steht und kaum kommt man in der vermeintlich ruhigeren 40-Stundenwochen-Industrie an, ändert sich das Bild. Man sollte doch meinen, jetzt arbeite man wirklich deutlich geregelter, der Körper könne sich wieder regulieren.
Nicht ganz. Aber auch das musste ich erst einmal lernen. Ich erinnere mich noch an meinen ersten Arbeitstag bei dem Textilunternehmen aus dem Fränkischen, wohin es mich gezogen hatte. Bis dato war ich nur meinen Agenturtag gewohnt. Statt um 10 ging es hier um 9 Uhr los. Kein Problem, dann musste ich meine tägliche Joggingrunde halt schon um 7 Uhr starten. An diesem ersten Tag habe ich sogar ganz darauf verzichtet. Im Büro wirkte vieles erstmal fremd. Großer Eingang. Mitarbeiterausweis, um die Zeiten festzuhalten - das kannte ich nicht. Glücklicherweise hatten am gleichen Tag noch zwei Kolleginnen aus meinem Team Premiere und wir konnten uns gleich verbünden. Ich war zwar ihr Chef, aber die Situation war für uns alle dieselbe. Der Vormittag begann mit Tempo, die Kreativagentur lief als erstes ein - natürlich erst um 11. Eine kleine Gruppe meines neuen Teams überraschte mich, als sie plötzlich vor mir stand und mich mit erwartungsvollen Augen anblickte. Ich dachte, ich hätte etwas falsch gemacht oder einen wichtigen Termin vergessen . Ich schaute fragend zurück. "Es ist 9:30! Frühstückspause!" Gut . Ich hatte mit allem gerechnet, aber damit nun wirklich nicht. Heute denke ich: Klar, im Mittelstand werden Traditionen sehr hoch gehängt. Das Frühstück gehört definitiv zu den Fixpunkten des Tages. Wer um 7 Uhr startet, sollte um 9:30 Uhr kurz eine Frühstückspause machen. Damals habe ich wahrscheinlich geschaut wie ein Auto. Ich muss an die Zeit bei meinem Vater im Büro zurückdenken. Die Frühstückspause war auch da klar geregelt und zwischen halb 9.30 und 10 waren die großen Büros menschenleer.
Es hat ein wenig gedauert, bis ich es als eine Selbstverständlichkeit erkannt habe, eine solche Pause für mich einzufordern. Sogar unser Abteilungschef musste mich nicht nur einmal aktiv auffordern, jetzt kurz den Rechner ruhen zu lassen und mitzukommen. Er ist in der Industrie groß geworden, er kannte das System.
Gearbeitet wurde dennoch viel. Meistens haben eine Handvoll Kollegen das Tempo noch einmal erhöht, wenn ab 17 Uhr die meisten Angestellten ausgestochen hatten. Nicht selten erinnerte mich der Wachdienst, ich solle jetzt mal Schluss machen und an den Arbeitsschutz denken. Erst ein klärendes Gespräch mit meinem damaligen Chef sensibilisierte mich für das Thema. Ich habe dann Arbeit mit nach Hause genommen .
Was will ich damit sagen? Wir hatten Druck! Auf dem Papier zwar nur von 9 to 5, aber eben heftigen Druck!
Selbst schuld, werden einige denken, warum machst du das auch? Ich kann es ziemlich einfach erklären. Keiner hat mich dazu gezwungen. Aber wir waren eine junge Truppe, die gerade versuchte, Vollgas zu geben und laut zu sein, damit es die vielen H&Ms, Esprits, Tom Tailors, Hugo Boss und Co. auch mitbekommen. Und wir waren richtig laut und wirklich gut. Wir launchten in diesem Jahr eine der größten Celebrity-Fashionkampagnen mit der Sängerin Anastacia und konkurrierten zeitgleich mit Madonna bei Hennes & Mauritz. Wir durften kurz ein verrücktes Jetset-Leben führen. Heute Hamburg und Köln, weiter mit Privatflieger und Celebrity nach München und Wien, später dann noch Richtung Moskau und die große Fashionshow in Berlin war auch schon auf dem Zettel. Kurz gesagt - wild.
Unsere Chefetage sah das eher kritisch. Auch damals waren die Jungs schon knallharte Zahlenmänner. Frauen? Fehlanzeige. Viel gelacht wurde da auch nicht. Am Tag nach dem Launch konnte ich allerdings das erste Mal entspannte und fröhliche Gesichter in der Küche der Chefetage sehen. Eigentlich war dieser Ort für uns tabu. Dort stand die mit Abstand beste Kaffeemaschine und unsere Abteilung lag direkt nebenan. Immer wieder schlichen wir uns dennoch hinein, wurden oft erwischt und dann gab es von den Vorzimmerdamen einen Einlauf. Aber heute nicht. Den lachenden Vertriebschef sehe ich immer noch vor mir. Sonst hatte man immer das Gefühl, er könne einen gleich auffressen.
Der Grund? In der Fashion-Branche ist das Blatt "Textilwirtschaft" quasi die Bibel. Wer was sagen will, muss da rein. An diesem Tag waren wir als Marke nicht nur in der Zeitung, sondern unsere Kampagne glänzte auf der Titelseite als Covermotiv. Von Madonna war weit und breit nichts zu sehen. Das nennt man den Lucky Punch, den man benötigt, wenn man plant, viel Marketinggeld des Inhabers auszugeben und er der ganzen Abteilung signalisiert, dass man sich gleich vom Acker machen kann, wenn das nichts wird - und das ist sehr höflich und politisch korrekt formuliert.
Was will ich damit sagen? Wir hatten Druck! Auf dem Papier zwar nur von 9 to 5, aber eben heftigen Druck! Der Körper? Der kann viel ab, dachte ich jedenfalls. Kurz nach dieser Phase spürte ich das Gegenteil: Ich habe mir meinen ersten, bis heute treuen Tinnitus abgeholt. Plötzlich inmitten eines Führungskräfte-Workshops begann dieses Piepen im Ohr. In dem Moment, ich erinnere mich noch sehr gut, war ich ziemlich verunsichert. Es piepte ziemlich laut. Man denkt: Kann das bitte aufhören! Man greift sich ans Ohr, zieht, massiert, drückt. Nichts. Man versucht den Druckausgleich. Nichts. In dem Moment spürte ich: Das ist gerade nicht gut, Herr...