Schweitzer Fachinformationen
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Prolog
6. Dezember 2012
Der Jäger ließ seinen Pick-up am Ende der Schotterstraße stehen und stapfte durch den frisch gefallenen Dezemberschnee. Er war ein breitschultriger, scharfsichtiger Mann mittleren Alters, der ein braunes Carhartt-Sweatshirt trug und schwere Winterstiefel anhatte. Das Schneefeld vor ihm, blau getönt vom weichen Morgenlicht, war von Wolfsspuren durchzogen. Er folgte ihnen bis an den Rand eines offenen Felds. Dahinter, ungefähr eine Viertelmeile entfernt, erhob sich ein steiler, stark bewaldeter Berghang, und rechts davon zeichnete sich ein weiterer Gipfel ab, der die Morgensonne verdeckte.
Um den kräftigen Hals des Jägers hing an einer Schnur eine braune Plastikpfeife, geformt wie eine Schachfigur. Er setzte sie an die Lippen und blies ein paar Mal kurz hinein, wobei er mit dem Finger die kleine gerillte Trichteröffnung am Ende der Pfeife mehrmals zudeckte, um damit das Wimmern eines sterbenden Waldkaninchens nachzuahmen. Es ähnelte stark dem Weinen eines unter Koliken leidenden Babys, einem Geräusch, das er seit fünfundzwanzig Jahren nicht mehr gehört hatte. Er wartete eine halbe Minute, sandte dann einen weiteren Ruf durch die dünne Bergluft. Dieser war zuerst schrill und herausfordernd, verklang dann aber als leises Wimmern.
Der Ruf musste authentisch klingen, was die meisten Menschen nicht begriffen. Es war sinnlos, wie in ein Kazoo hineinzublasen. Der Trick bestand darin, sich vorzustellen, wie es wäre, bei lebendigem Leib von einem Kojoten gefressen zu werden und das Entsetzen und die Schmerzen dieser Todesart zu erleben.
Und man musste Geduld aufbringen. Seit Wochen pirschte er sich an das Rudel heran, machte hier und da einen oder zwei Wölfe aus, gelangte aber nie in Schussweite. Er hatte in der Nacht zuvor allein mit seinen hohlen Händen und seiner Stimme ihr Heulen nachgeahmt und schließlich eine Antwort von ihnen erhalten. Sie waren ganz nah gewesen, so wie jetzt auch. Er wartete ab.
Sein Name war Steven Turnbull, und er kam aus dem Crandall-Tal mitten in den Absaroka Mountains, nordwestlich von Cody, Wyoming. Der Clarks Fork, ein Nebenfluss des Yellowstone River, floss im Westen durch einen engen Canyon, der sich am Ende in einen weiten, von Murray-Kiefern gesäumten Talkessel öffnete, in den der Crandall Creek von den Berghängen, die an den Yellowstone-Nationalpark grenzten, in Kaskaden herabstürzte. Der Crandall Creek war nach einem Goldgräber benannt, der im Frühjahr 1870 auf dem Weg zu einer vielversprechenden Goldmine in der Nähe des Quellgebiets des Clarks Fork von Indianern getötet wurde. Da die nächstgelegene Siedlung mindestens zwanzig Meilen entfernt war, wurden die Leichen von Marvin J. Crandall und seinem Partner erst im darauffolgenden Frühjahr gefunden, als ein Suchtrupp am Ufer des Bachs auf ihre abgeschlagenen Köpfe stieß, angeblich aufgespießt auf die eigenen Spitzhacken der Männer.
Das Crandall-Tal war nach wie vor schwer zu erreichen, insbesondere im Winter. Es gab nur eine Straße, den zweispurigen Chief Joseph Highway. Im Sommer führte die kurvenreiche Straße durch eine malerische Landschaft von Cody durch den Shoshone National Forest bis Yellowstone - Luftlinie ungefähr dreißig Kilometer westlich des Flussbeckens - über eines der zerklüftetsten Gebiete der Northern Rockies. Im Winter kamen die Schneepflüge nicht weiter als bis zum Westrand von Crandall; für die Tour zum Yellowstone brauchte man ein Schneemobil.
Das Jahr über lebten nur rund fünfzig Menschen in dem Tal, züchteten Vieh oder betrieben eine der wenigen Touristen-Ranches oder einen Outfitter Store für Jagdbedarf. Ein einziger als Painter Outpost bekannter kleiner Laden bot Frühstück und Bier an, verpflegte im Winter hauptsächlich Schneemobilfahrer und Jäger mit Lebensmitteln und im Sommer die wenigen Yellowstone-Touristen, die wild entschlossen waren, die kaum befahrene Straße zum Park zu nehmen.
Kurz nach der Ankunft von Marvin Crandall und anderen Goldsuchern wurde Yellowstone zum Nationalpark ausgerufen - dem ersten der USA -, um seine Ressourcen vor dem Ansturm aus dem Westen zu schützen, der Ende des 19. Jahrhunderts über die Rocky Mountains hereinbrach. Tatsächlich aber ignorierten die Pelzhändler, die massenweise in den Park vordrangen, diese Schutzmaßnahme wie fast alles andere auch, was die Hauptstadt Washington vorgab. Heute wird Yellowstone, zumindest im Sommer, von Touristen überflutet. Turnbull hielt sich nur selten dort auf. Der Park war für Touristen gedacht - Crandall hingegen war, besonders im Winter, wenn ein Meter Schnee lag, das echte Wyoming.
Etwas für sich hatte der Yellowstone-Nationalpark allerdings, und das waren die Wapitis. Jeden Winter verließen gewaltige Herden den Park und zogen vom Hochland in das tiefer gelegene, weniger schneereiche Weideland. Einige folgten dem Lauf des Clarks Fork nach Osten und hinab ins Crandall-Tal, das monatelang als eine Art Highway für Hochwild fungierte. Turnbull hatte den Überblick darüber verloren, wie viele Wapitis er im Lauf der Jahre in diesem Tal erlegt hatte.
Nach der Wiederansiedelung der Wölfe wurde alles anders. Einst waren die Hirsche jeden Winter in den Talkessel hinuntergewandert, in manchen Jahren an die tausend. Man konnte das Tier, das man schießen wollte, fast wie in einem Katalog auswählen. Jetzt konnte man von Glück sagen, wenn man über den Winter zweihundert entdeckte, und der Staat Wyoming hatte damit begonnen, die Zuteilung der Lizenzen für die Hirschjagd durch ein Losverfahren zu vergeben. Was übrig blieb, nahmen sich die Wölfe.
Im Lauf der letzten fünfzehn Jahre hatten sich die Wölfe ausgebreitet - weit über die Grenzen des Parks hinaus, in den Wildhüter der Regierung Mitte der 1990er-Jahre die ersten Rudel wiedereingeführt hatten. Wie die meisten Menschen, die er kannte, war Turnbull von Anfang an gegen den Plan gewesen und vertrat die Meinung, dass es nun viel zu viele Wölfe in Wyoming gab. Aber natürlich hatte ihn niemand nach seiner Meinung gefragt.
Genauso verhielt es sich mit den Grizzlys. Als Kind hatte er überall im Crandall seinen Schlafsack ausrollen und auf dem Boden schlafen können. Heute würde er das nicht mehr tun. Über die Jahrzehnte hatten die Schutzmaßnahmen aus Washington für Wälder voller Bären gesorgt - so viele, dass man sie nicht im Hinterland suchen musste, man sah sie von der Straße aus. Die Menschen sahen sie direkt vor ihren Blockhütten, wenn sie morgens auf die Terrasse traten. Zur Sicherheit trug Turnbull immer eine 44er Magnum bei sich, wenn er durch die Wälder streifte (sogar in der Jagdsaison, wenn man das eigentlich nicht sollte).
Die Grizzlys beanspruchten ebenfalls ihren Anteil am Wild, vor allem neu geborene Hirsche - doch weitaus weniger als die Wölfe. Die Wildhüter im Yellowstone-Nationalpark behaupteten, der Rückgang des Wildes sei in erster Linie auf die Trockenheit zurückzuführen, aber Turnbull glaubte ihnen nicht. Er hielt die Wölfe dafür verantwortlich. Er hatte die abgenagten Kadaver in den Wäldern mit eigenen Augen gesehen.
Turnbull war vor allem an der Hochwildjagd in Wyoming interessiert. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal Rindfleisch im Laden gekauft hatte. Von Zeit zu Zeit besorgte er sich vielleicht etwas Rindertalg, um das magere Hirschfleisch zu saftigen Burgern zu verarbeiten. Aber Fleisch war für ihn gleichbedeutend mit Hirsch. Obwohl es in der Gegend schwierig war, an Laubholz zu kommen, fand er doch immer genug, um jeden Winter sein eigenes Dörrfleisch räuchern zu können. Mit einer guten Prise grob gemahlenem schwarzen Pfeffer und etwas Knoblauch gab es nichts Besseres. Er verpackte es in Beutel und schenkte es seinen Freunden, zumindest denen, die nicht selber schon Säcke davon besaßen.
Er war nicht nur wegen des Fleisches jeden Herbst in den Wäldern. Er liebte die Hirsche, und er liebte die Berge, in denen die Hirsche zu Hause waren. Er besaß ein Haus in einer kleinen Stadt, ungefähr eine Fahrstunde in östlicher Richtung. Doch die meiste Zeit verbrachte er in seiner Blockhütte im Crandall. Seinen Lebensunterhalt verdiente er sich mit allen möglichen Jobs in der Umgebung: Im Sommer strich er Hütten an, die er im Winter als Hauswart verwaltete, er hackte Feuerholz und verrichtete alle möglichen Handwerkerarbeiten.
Als er fünf war, hatte sein Großvater ihn zum ersten Mal in das Hinterland von Cody zur Hasen- und Entenjagd mitgenommen. Als Teenager ging er mit dem alten .30-40 Krag-Gewehr seiner Mutter, das die Army vor dem Ersten Weltkrieg verwendet hatte, auf die Jagd. Er wusste nicht genau, wie alt das Gewehr wirklich war; sein Großvater mütterlicherseits hatte es als Hochzeitsgeschenk bekommen und es dann seiner Tochter geschenkt, als diese heiratete. Es war nur bis zu einer Weite von etwa neunzig Metern zuverlässig, und die Mündungsgeschwindigkeit war so gering, dass man praktisch zuschauen konnte, wie die Kugel aus dem Gewehrlauf kam. Turnbulls Schwester hatte ihn nach dem Tod der Eltern um das Gewehr gebeten, und er hatte nichts dagegen gehabt, denn er besaß inzwischen ein sehr viel besseres, das er jedoch selten benutzte. Er war jetzt hauptsächlich mit Pfeil und Bogen unterwegs, mit denen er Elche, Schwarzbären, achthundert Pfund schwere Wapitibullen - jede Art von Großwild, das sich in diesen Bergen herumtrieb - erlegte.
Er liebte die Eleganz des Bogens, der Waffe, die die Indianer jahrhundertelang zur Wapitijagd in diesen Wäldern benutzt hatten (auch wenn sie heute erheblich weiterentwickelt ist). Man hatte ihm beigebracht, an ein Tier immer so nah wie...
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