Kapitel 1
In dem Moment, als das Streichquartett ansetzt, Pachelbels Kanon in D-Dur zu spielen, fängt mein Bruder an, seine Finger seltsam ineinander zu verkeilen. Leider bedeutet das normalerweise, dass er dann gleich etwas wirklich Dummes tun wird. Was beschissen wäre, weil heute sein Hochzeitstag ist und das der Tag ist, an dem er wenigstens ein Mal versuchen sollte, sich vernünftig zu verhalten.
Wenn Trevor nervös, beunruhigt oder einfach nur angespannt ist, ballt er seine Hände zu Fäusten und drückt seine Daumen zwischen Mittel- und Ringfinger. Das fällt einem kaum auf, wenn man ihn nicht wirklich kennt - oder nicht wie in meinem Fall Zeugin der unzähligen idiotischen Dinge war, die er über die Jahre angestellt hat. Ich kann bezeugen, dass er die meisten dieser bescheuerten Dinge angestellt hat, direkt nachdem er angefangen hatte, seine Finger genau so zu verkeilen.
Dazu zählen all die Male, als er jemanden k. o. geschlagen hat, meine Barbiepuppen aus dem Fenster unserer heruntergekommenen Wohnung im zehnten Stock der städtischen Siedlungshochhäuser von Cleveland geworfen hat, oder das eine Mal, als er vierhundert Pfund Oster-Jelly-Beans auf meine weißen Lackschuhe gekotzt hat, als ich acht Jahre alt war. Heute hat er dafür aber einen ganz neuen Grund.
Als Kate das Mittelschiff der Kirche betritt, in einem elfenbeinweißen Hochzeitskleid, das über und über mit Spitze bedeckt ist, die über jede Kurve ihres Körpers fließt, ihr dunkles Haar zu einem einfachen Dutt hochgesteckt, hält Trevor zehn Sekunden lang die Luft an. Als er weiteratmet, hätte ich den Einsatz geben können, wann er seine seltsame Finger-Nummer abzuziehen beginnt.
Unsere Mom muss es auch bemerkt haben, denn ich kann hören, wie sie auf dem Stuhl neben mir leise aufstöhnt, woraufhin meine kleine Nichte McKenna, die auf ihrem Schoß sitzt, loskichert. Mit nur sieben Jahren weiß McKenna schon, wann ihr Onkel sich wieder zum Deppen machen wird. Wahrscheinlich weiß sogar sie, dass er uns dastehen lässt wie die verrückteste White-Trash-Familie, die jemals das kleine Kaff namens Crowell in Montana betreten hat. Als ob unsere Tattoos, Piercings und die allgemeine Unfähigkeit, einen Satz zu sagen, ohne das Wort »Fuck« zu benutzen, nicht genug wären, um uns zu Geächteten in Kates ländlicher Heimatstadt zu machen. Anscheinend hat selbst die Tatsache, dass er ein Rockstar mit einem fetten Bankkonto ist, Trevor nicht dazu gebracht, dass er sich verdammt noch mal respektvoll benehmen kann. Einmal ein abgebrannter Loser, der nichts zu verlieren hat, immer ein abgebrannter Loser, der nichts zu verlieren hat.
Nicht, dass ich behaupten könnte, anders zu sein. So sehr ich auch glauben möchte, dass die Flucht aus der Sackgasse unserer armseligen Cleveland-Existenz letztlich jegliche lückenhafte Erinnerung daran, wer ich dort war, mit wem ich zu viel Zeit verbracht habe, welche Entscheidungen ich getroffen habe, verwischen würde . es funktioniert nicht. Vielleicht sollte es das auch nicht. Fünf Jahre sind vergangen, seit ich nach L. A. abgehauen bin, aber trotz all der Dinge, die sich verändert haben, schaue ich dennoch manchmal in den Spiegel, und alles, was ich sehe, ist das Mädchen, das nie über den Zehn-Block-Radius seiner hoffnungslosen Wohngegend hinausgeblickt hat. Wenn man einmal von diesem ganzen wahr gewordenen Rockstar-Traum absieht, hat das Leben Trevor und mir bereits übel mitgespielt. Deshalb bin ich nicht überrascht, wenn er etwas tut, ohne nachzudenken.
Mit einem riesigen Grinsen im Gesicht lockert Trevor seine Fäuste und grölt über die zarte Musik hinweg:
»Komm schon, Mosely, beeil dich mal ein bisschen! Ich weiß, dass du dich schneller bewegen kannst, ich habe gesehen, wie du rennen kannst. Hör auf zu trödeln, und komm her, damit ich dich heiraten kann!«
Das Streichquartett hält mit einem kreischenden Geräusch inne, die schrillen Töne hören sich an wie ein Sack voller schreiender Kätzchen, die freigelassen werden möchten. Dann wird es völlig still, wie in einem Horrorfilm, da wir mitten im Nirgendwo sind, unter einem Abendhimmel und inmitten von 200 Hektar Farmland, das mein Bruder vor einem Jahr gekauft hat. Jeder einzelne Hochzeitsgast sitzt wie gebannt auf seinem Stuhl und ist gespannt, ob Trevors Ausbruch Kate dazu bringen wird, zu weinen, zu schreien oder einfach das Mittelschiff, das mit einem Meer von Rosenblüten übersät ist und von hunderten Kerzen beleuchtet wird, wieder zurückzulaufen, in ihre klapprige Bauernkarre zu steigen und ganz weit weg zu fahren.
Stattdessen bleibt Kate mit offenem Mund in der Mitte des Ganges stehen und lässt ihre Schultern in gespielter Resignation hängen, die Hand, die ihren Hochzeitsstrauß hält, an ihre Hüfte gestützt. Trevor lächelt immer noch und hüpft von dem Podest mit dem rustikalen Traualtar herunter, über zwei kleine Stufen hinweg, und schießt den Gang hinunter zu ihr, in seinem gepflegten grauen Anzug und den schwarzen Chucks. Noch bevor er bei ihr angekommen ist, schüttelt Kate bereits den Kopf und hält sich den Strauß aus Freesien vor das Gesicht, so dass ihr Lächeln nicht zu sehen ist. Als er an ihrer Seite ist, schlingt er seine Arme um ihre Taille, hebt sie sanft hoch und drückt seine Nase an ihr Ohr, um ihr weiß Gott was ins Ohr zu flüstern.
Ich schätze, etwas Schmutziges, Schräges und gleichzeitig verdammt Romantisches, denn Kate schließt ihre Augen und wird leicht rot, und dann zieht sie ihn an sich und küsst ihn auf eine Weise, bei der die meisten Leute wohl das Gefühl haben, die beiden gerade in ihrem Schlafzimmer zu beobachten. Ich bin das mittlerweile schon gewohnt, weil die beiden sich einfach immer anhimmeln, küssen und im Allgemeinen unverschämt verliebt sind. Und all das im endlosen Wechsel mit ihrer unanständig zur Schau gestellten Lust aufeinander. Wenn ich ihnen nicht gerade sage, dass sie einfach nach Hause gehen und vögeln sollen, so dass wir anderen uns nicht die Hände vor die Augen halten müssen, während sie sich am Esstisch oder wo auch immer gegenseitig mit den Augen verschlingen, möchte ich die beiden wirklich fest drücken und ihnen sagen, wie neidisch ich bin, dass sie sich gefunden haben. Ich kann mir nämlich lediglich vorstellen, wie gut sich all das anfühlen muss.
Bevor sich Trevor und Kate über den Weg liefen, hatte ich meine Sehnsucht nach einem Mann beinahe vergessen. Nach einem echten Mann. Nicht einem Teilzeit-, Nur-für-eine-Nacht- oder Vielleicht-ein-andermal-Typen. Dem Typ Mann, der einem etwas verspricht, das er dann auch hält, und der so vorsichtig mit einem umgeht, dass man sich ihm beruhigt hingeben kann. Den beiden dabei zuzusehen, wie sie ein Leben miteinander aufbauen, hat leider dazu geführt, dass jedes Fünkchen dieser Sehnsucht wieder angefacht wurde.
Ein dröhnendes Lachen durchbricht die gewichtige Stille, gefolgt von einem anerkennenden Pfiff, der uns allen erstaunlicherweise die Erlaubnis gibt, wieder weiterzuatmen. Gegenüber von mir im Gang grinst Simon, der Typ, der uns aus dieser unbehaglichen allgemeinen Beklemmung gerettet hat, schadenfroh und klatscht, als ob Trevor seiner Meinung nach gerade die coolste Nummer in der Geschichte der Hochzeiten abgezogen hätte. Während der Rest von uns beginnt mitzuklatschen, lässt Trevor seine Braut los, trottet zum Altar zurück und wirbelt mit dem Zeigefinger in der Luft herum, um dann auf das Streichquartett zu deuten.
»Okay, dann ziehen wir das jetzt durch! Spielt die Musik weiter, so dass ich diese Lady mit dem tollen Hintern zu meiner Ehefrau machen kann!«
Das darauf folgende Lachen übertönt das arme Streichquartett bei seinem Versuch, weiterzuspielen. Als Simon mich ansieht, hebt er seine Augenbrauen und grinst breit, wobei seine perfekten geraden weißen Zähne mich anblitzen und er seine dunklen, kohlefarbenen Augen verdammt geschmeidig über jeden Teil meines Körpers gleiten lässt. Es ist nicht das erste Mal, aber jedes Mal, wenn er es tut, hämmert dieser Blick einen weiteren kleinen Riss in die stabile Mauer, die ich ganz entschlossen zwischen uns aufrechterhalten möchte. Er ist verlockend, immer schon gewesen, aber Simon ist vermutlich nur für eines gut. Und das ist und bleibt lieber absolut tabu. Sogar, obwohl er mir in jeder Unterhaltung, die wir in den letzten zwei Jahren führten, als Erstes eine Art unanständiges Angebot machte und mir das besser gefiel, als ich mir eingestehen möchte.
Wir behalten besser beide unsere Kleider an und verlassen uns auf unsere seltsam befriedigenden Neckereien, die mich manchmal fast verrückt machen und die wir so gut beherrschen. Von der Tatsache, dass er in der Band meines Bruders spielt, bis hin dazu, dass er schamlos mit jedem weiblichen Wesen in einem Umkreis von hundert Meilen flirtet, mal abgesehen, ist es absolut keine gute Idee, Simon mir an die Wäsche gehen zu lassen.
Nachdem der ortsansässige Geistliche von Crowell sie zu Mann und Frau erklärt hat, gibt Trevor Kate einen so heftigen Kuss, dass sie beinahe umkippt, was erneut zu einer Welle von Gelächter, Pfeifen und Johlen von allen führt, die wissen, dass sie gerade Zeuge wurden, wie ein Glücklich-bis-an-ihr-Lebensende wahr geworden ist. Meine Mutter fängt an zu weinen, versucht aber, das zu verbergen, indem sie ihren Kopf zurücklehnt und übertrieben viel blinzelt.
Und ich? Mir geht es gut, bis Trevor sich und Kate zu uns umdreht, ihre miteinander verknoteten Finger hochreißt und Kates Handrücken küsst. Dann lächelt sie, legt ihren Kopf auf seine Schulter, und die Art und Weise, wie ihre Körper so perfekt miteinander harmonieren, ist einfach zu viel für mich.
Wie sie da so stehen, einfach nur ein...