1. KAPITEL
"Mr. Kelly?"
Dylan, der in seinem Büro im 30. Stock des Kelly-Towers am Schreibtisch saß, blickte auf. Sein Assistent Eric stand zitternd im Türrahmen. "Was gibt's?"
Mit leicht bebender Stimme begann Eric: "Ich . da ist . ich weiß nicht, wie ."
Dylan schob seinen Stuhl zurück und stützte das Kinn auf seine ineinander verschränkten Finger. "Atmen Sie tief durch, stellen Sie sich Ihren Lieblingsort vor oder zählen Sie bis zehn. Hauptsache, Sie denken daran, dass ich ein viel beschäftigter Mann bin. Kommen Sie also bitte zur Sache."
Eric gehorchte, und zwar so schnell, dass Dylan befürchtete, der junge Mann würde hyperventilieren. "Ich muss mal kurz an Ihren Computer", brachte sein Assistent heraus.
"Lassen Sie sich nicht abhalten." Dylan machte ihm Platz.
Eric setzte sich und tippte mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit auf der Tastatur herum, als wäre er bereits mit einem Laptop auf dem Schoß zur Welt gekommen. "Ein Freund von mir arbeitet für ein Online-Nachrichtenmagazin und hat mir gesagt, ich müsste mir das hier unbedingt ansehen."
Um Dylans Mund zuckte es. "Mal im Ernst, wenn diese ganze Aufregung nur damit zu tun hat, dass in irgendeinem Blog Fotos von mir veröffentlicht wurden, wie ich diese schicke kleine Turmspringerin mit Spaghetti füttere, die ich letzte Woche in Luxemburg kennengelernt habe ."
Er unterbrach sich und schob sich mit seinem Stuhl so schnell wieder an den Schreibtisch, dass Eric ihm mit einem Satz ausweichen musste.
Denn auf dem Bildschirm waren keine Fotos von ihm zu sehen, und auch nicht von der kleinen Turmspringerin. Ebenso wenig von Spaghetti. Die Live-Übertragung mit Digitalkamera ließ ihn das alles vergessen und brachte ihm seine Lebensaufgabe - das Familienunternehmen, für das er sich tagtäglich einsetzte - schlagartig wieder in Erinnerung.
Zum Kelly-Tower gehörte ein 2000 Quadratmeter großer Platz unweit der belebten George Street im Zentrum von Brisbane. In seiner nördlichen Ecke stand eine sechs Meter hohe silberne Skulptur in Zickzackform - ein Symbol für den beeindruckenden Vermögenszuwachs, den die Zusammenarbeit mit der Kelly-Investmentgruppe gewährleistete.
Normalerweise stand die Skulptur einsam und stolz da, und nur gelegentlich ließen sich ein paar besonders mutige Tauben auf ihren glatten Zacken nieder. Doch heute drängten sich Kamerateams und Reporter mit Mikrofonen und Aufnahmegeräten um sie und hatten noch etwa zehnmal so viele Schaulustige angelockt.
Soweit Dylan es trotz seiner plötzlichen heftigen Kopfschmerzen, Erics nervösem Spiel auf der Computertastatur und der aufgeregten Stimme des Reporters beurteilen konnte, hatte sich eine Frau mit Handschellen an die Skulptur gefesselt - offenbar eine verrückte Art von Protest.
Gegen Handschellen hatte Dylan nichts einzuwenden, im Leben männlicher Singles hatten sie durchaus ihren Platz. Nur nicht unbedingt mitten an einem hektischen Arbeitstag und nicht vor seinem Gebäude! Zudem würde es als Leiter des Bereichs Öffentlichkeitsarbeit seine Aufgabe sein, die Aktion als wesentlich uninteressanter darzustellen, als sie es in Wirklichkeit war.
Die Menschenmenge teilte sich, und Erics Freund ermöglichte Dylan mit seiner Kamera einen besseren Blick auf die Person, die ihm den Nachmittag verdorben hatte. Sie hatte einen hellen Teint, dunkle Augen und langes, dunkles, welliges Haar, das sie sich wegen des Winds immer wieder aus dem Gesicht schütteln musste. Ihr geblümtes Oberteil betonte ihre Figur an genau den richtigen Stellen und verhieß genau die geschwungenen Kurven, die einen Mann mit schwächerem Willen sehr ablenken konnten. Dazu trug die junge Frau eine weiße wadenlange Hose, die ihren äußerst betrachtenswerten Po betonte, und ein Paar knallrosa Sandaletten mit geradezu absurd hohen Absätzen. Und dann natürlich die Handschellen.
"Was machen wir denn jetzt?", flüsterte Eric.
Dylan zuckte zusammen, denn die junge Frau hatte ihn seinen Assistenten fast vergessen lassen.
Er griff nach der Maus und wollte die Website schließen, als eine Windböe der Frau das Haar aus dem Gesicht blies und sie plötzlich direkt in die Kamera sah.
Dylan hielt mitten in der Bewegung inne und blickte starr in ein Paar braune Rehaugen: große, wunderschöne, tiefbraune Augen mit langen Wimpern, die ihnen ein verletzliches, reumütiges Aussehen verliehen .
Er spürte, wie sich sein Magen zusammenzog und ihn eine plötzliche Hitze überkam, gefolgt von einem Adrenalinstoß. Warum, konnte Dylan nicht genau sagen, aber er wollte diese Frau beschützen. Mit geballten Händen stand er auf, um sich auf denjenigen zu stürzen, der an diesem verletzlichen Ausdruck schuld war.
In diesem Moment fuhr sich die junge Frau mit der Zunge über ihre sinnlichen rosa Lippen und lächelte dem Mann hinter der Kamera kokett zu.
Dylan fluchte leise, schloss die Website und ohrfeigte sich in Gedanken, denn normalerweise war er, was seinen Beschützerinstinkt betraf, äußerst wählerisch. Die einzigen Menschen, die er rigoros verteidigte, hießen ebenfalls Kelly und waren mit ihm verwandt. Weiter reichte sein Vertrauen nicht.
Seine Familie jedoch musste unbedingt zusammenhalten. Denn der Nachteil daran, reicher als der sagenumwobene König Midas und bekannter als der Ministerpräsident zu sein, bestand darin, dass Dylan und seine Familie immer erst als "die Kellys" gesehen wurden. Egal, wie betörend eine Frau sein mochte, wie angesehen ihre Familie und wie echt ihre Aufrichtigkeit - alle hatten es auf etwas abgesehen: auf Dylans Reichtum, seine Verbindungen oder seinen Namen.
Deshalb vergnügte er sich nur noch mit denen, die seinen Körper begehrten und sonst nichts. Diese Strategie funktionierte schon seit einer Weile recht gut. Dass keine einzige seiner Gespielinnen seinen Beschützerinstinkt so heftig angesprochen hatte wie die junge Frau mit den sanften braunen Augen - darüber konnte und wollte Dylan jetzt nicht nachdenken.
Er stand auf und eilte aus dem Büro zu den Aufzügen.
"Sir!", rief Eric, als dieser ihn völlig außer Atem einholte. "Was soll ich tun?"
"Hierbleiben", erwiderte Dylan. "Und sagen Sie Ihrer Mutter, dass Sie heute spät nach Hause kommen. Ich habe das Gefühl, der Tag könnte noch ziemlich lang werden."
Wynnie taten die Handgelenke weh.
Selber schuld, dachte sie. Das kommt davon, wenn man neue Handschellen nicht vor dem ersten Einsatz ausprobiert.
Professionell wie immer ließ sie sich die Schmerzen jedoch nicht anmerken und lächelte der Horde Reporter zu, die noch nicht ahnten, dass sie bald ihre besten Freunde sein würden.
"Was hat KInG Ihnen getan?", rief jemand.
Wynnie wandte sich der nächsten Kamera zu und erwiderte: "Sie haben mich nicht ein einziges Mal zurückgerufen. Typisch, oder?"
Einige Frauen in der Menschenmenge stimmten ihr zu.
Wynnie blickte jeder einzeln in die Augen und fuhr fort: "In der vergangenen Woche habe ich mit führenden Männern und Frauen lokaler und bundesstaatlicher Regierungen darüber gesprochen, was wir gemeinsam tun können, um die Umweltschäden zu reduzieren, die jeder Bewohner dieser Stadt anrichtet. Diese Beamten, anständige Menschen mit Familien und mittleren Einkommen, waren begeistert, motiviert und voll guter Ideen. Aber die Kelly Investment Group, das größte Unternehmen der ganzen Stadt, das mehrere Hundert Mitarbeiter hat und über jede Menge Kapital verfügt, hat es immer wieder abgelehnt, sich auch nur mit mir bei einer Tasse Tee zu unterhalten - mit einer jungen Frau, die neu in der Stadt ist und Freunde finden möchte."
Wieder war Gemurmel zu hören, diesmal schon etwas lauter.
"Was muss ein Unternehmen denn tun, damit es mit Ihnen Tee trinken darf?", rief eine tiefe Stimme.
Wynnie biss sich auf die Lippe, um nicht zu lachen. Denn diese Frage kam von ihrer guten Freundin Hannah, die mit ihr zusammen für die Clean Footprint Coalition arbeitete und jetzt einen Radioreporter so ansah, als hätte dieser die Frage gestellt.
"Leute, versucht euch einmal an die eindrucksvollen Bilder aus den Achtzigern zu erinnern: an die Umweltschützer, die sich an Bulldozer gekettet haben, um die Abholzung von Urwäldern zu verhindern", sagte Wynnie energisch. "Und nun betrachtet mit kritischem Blick das 21. Jahrhundert mit seinen Riesenunternehmen wie die Kelly Investment Group. Das sind die Bösewichte der Gegenwart, Bösewichte mit Macht, Einfluss und vielen Ressourcen, die einfach weitermachen wie bisher, während wir anderen einen Beitrag leisten: Wir duschen kürzer, um Wasser zu sparen, recyceln Altpapier und stöpseln Geräte aus, wenn wir sie nicht benutzen. Stimmt's?"
Viele ihrer Zuhörer nickten. Hätte jetzt jemand eine Faust hochgehalten, wäre Wynnie nicht überrascht gewesen. Die deutlich spürbare Solidarität ließ ihr Herz heftig klopfen, und ihre schmerzenden Handgelenke waren fast vergessen.
Sie sprach leiser weiter, damit ihrer Zuhörer näher kommen mussten. "Wusstet ihr, dass diese Skulptur rund um die Uhr beleuchtet wird? Sogar mitten an einem hellen sonnigen Tag wie jetzt sorgen dreißig Leuchten dafür, dass sie schön glänzt!"
Als die Menschen finster das silberne...