Schweitzer Fachinformationen
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Der Zug hatte Verspätung, als er im Bahnhof von Cheyenne, der Hauptstadt von Wyoming, ankam. Sie richtete sich im Bett ihres komfortablen Schlafwagenabteils auf, zog die Vorhänge zurück und sah gelangweilt hinaus. Gebäude mit großen Fenstern, grau in grau. Gestern Nachmittag war sie in Chicago in den Zug gestiegen, ihr alter Freund Nat Coiner hatte ihr zu dieser Reise geraten: »Nach dem ganzen Trubel solltest du dich richtig erholen. Wie wär's mit Sun Valley, Virginia? Eine herrliche Gegend in den Rocky Mountains! Ich war geschäftlich mal dort. Da kannst du im Schnee herumwandern, Schneemänner bauen und, wenn du willst, sogar Ski fahren.« Nun hatte sie etwas mehr als die Hälfte der Strecke hinter sich und wartete darauf, dass es weiterging. Sie hatte nicht gut geschlafen, was nicht nur am Rütteln des Schlafwagens auf den Gleisen lag, sondern auch daran, dass sie die Folgen der vergangenen Silvesterparty immer noch spürte. Die Party dauerte drei Nächte lang, bis gestern Morgen. Immerhin feierte man mit dem Wechsel in das Jahr 1950 auch den Eintritt in ein neues Jahrzehnt. Sie erwartete sich viel von diesem neuen Jahr, von diesem neuen Jahrzehnt, ein sorgenloses, freies und unabhängiges Leben. »Die 50er-Jahre gehören mir!«, sagte sie sich, so als könnten die vergangenen Jahre von ihr abfallen wie das Laub von den Bäumen im Herbst. Und wie könnte man besser in so einen neuen Lebensabschnitt starten als mit einer Erholung in den Bergen.
Der Schlafwagen-Steward brachte das Frühstück auf einem silbernen Tablett, zwei Spiegeleier, getoastete Weißbrotscheiben, Butter, Marmelade, Kaffee und ein Glas Orangensaft. »Guten Morgen, Mrs. Hill«, sagte er. »Bitte sehr, Ihr Frühstück!«
»Wie lang will denn dieser Zug hier noch stehen bleiben?«, fragte sie verärgert.
»Es werden nur schnell ein paar Waggons abgehängt, angehängt, herumgeschoben, rangiert, wie wir von der Eisenbahn sagen, dann geht es gleich weiter.« Er tat so, als würde er sich auskennen, hatte aber keine Ahnung davon, was gerade im Bahnhof von Cheyenne vor sich ging. »Anschlussverbindung nach Denver, das dauert immer ein wenig.«
»Noch mehr Verspätung?«, fuhr sie ihn an. Er lächelte unschuldig. Sie kannte Denver, ein miserables Nest, das sich Großstadt nannte und kein Recht hatte, ihr nun mit einer Zugverspätung Zeit zu stehlen. Der Steward zog sich aus dem Abteil zurück. Virginia hatte das Gefühl, schon seit Tagen nichts mehr gegessen zu haben, obwohl ihr erst gestern Abend im Speisewagen ein Dinner serviert worden war. Sie stürzte sich auf ihr Frühstück. Spiegeleier, Toast und Butter liebte sie über alles, ein einfaches Essen, jedoch, wie sie fand, von einer gewissen Eleganz und Vornehmheit. Sie tauchte ein Stück Toast in das Gelbe eines Spiegeleis und sah zu, wie es sich auf dem Teller ausbreitete. Obwohl es natürlich als unschicklich galt, schleckte sie, da sie allein war, so wie früher als Kind den Teller ab, als der Schlafwagen-Steward die Tür zum Abteil sanft öffnete, geradewegs zu ihr hinsah, kurz mit den Mundwinkeln zuckte, leicht grinste und sagte: »Alles zu Ihrer Zufriedenheit, Madam?« Sie erwiderte seinen Blick mit einem vernichtenden Nicken. »Das nächste Mal klopfen Sie gefälligst an, bevor Sie in das Schlafzimmer einer Dame kommen!« Etwas verlegen, aber wie immer freundlich lächelnd, zog er sich schnell zurück. Dieser Blick, diese stechenden, fordernden Augen, dieses Zucken um den Mund, all das erinnerte sie an jemanden, den sie gut kannte. Sie erschrak, denn sie musste an ihre Kindheit in Alabama denken, an ihren Vater, diesen Pferdehändler mit irisch-indianischen Wurzeln, der mit zunehmendem Alter immer mehr soff und in seinem Rausch alle verprügelte, die er zwischen die Finger kriegte. Da die Kinder dann rasch das Weite suchten, erwischte er meistens seine Frau, die zu langsam war, sich nicht wehren konnte oder wollte, aus welchen Gründen auch immer. Virginia, das sechste von zehn Kindern, gelang es fast immer, sich vor dem wütenden Vater zu verstecken. Als sie sieben Jahre alt war und ihr Vater sie wieder einmal wegen einer Kleinigkeit verprügeln wollte, nahm sie mehr aus Reflex denn aus Berechnung die auf dem Herd stehende gusseiserne Bratpfanne und schlug damit auf ihren Vater ein. In der Pfanne befand sich heißes Fett, mit dem ihre Mutter Würste braten wollte. Das Fett spritzte dem Vater auf die Brust, er stieß einen kurzen Schrei aus, spürte die Schmerzen, tat aber so, als würde ihm das nichts ausmachen. Er beugte sich zu Virginia, hob die Hand und wollte die Bratpfanne, deren Stiel sie immer noch fest umklammerte, an sich reißen. Doch dann sah er in ihrem Blick eine derart entschlossene Wut, dass er plötzlich so etwas wie Respekt vor ihr hatte, sofern der Begriff »Respekt« Teil seines Wortschatzes war. Er ging aus dem Haus und ließ seine Tochter von nun an in Ruhe. Umso mehr widmete er sich seiner Frau, die er nun fast täglich prügelte. Virginia flehte ihre Mutter an, sich doch von diesem Scheusal zu trennen, doch sie seufzte nur: »Das kann ich nicht. Das geht nicht. Du weißt doch, was dein Vater dann mit mir tun würde! Er findet mich überall, egal, wohin ich gehe.« Viele Möglichkeiten, irgendwohin zu gehen, hatte sie nicht. In der Nachbarschaft gab es kaum einen Ehemann, der sich nicht regelmäßig betrank und Spaß daran hatte, seine Ehefrau so zu behandeln, wie er es für richtig hielt. Damit fand man sich ab, man fühlte dabei fast schon so etwas wie eine Normalität, die aus der Verbundenheit mit den anderen erwuchs, denen es auch so erging. Spätestens jetzt war es für Virginia klar, dass ihr Leben hier nur das Warten auf den Absprung in ein anderes war.
Ihr Vater nannte sich Geschäftsmann, der eines gegen das andere eintauschte. Er war geschickt und hart im Verhandeln, hatte die Gabe, den Leuten alles Mögliche einzureden, und gab ihnen stets das Gefühl, zu ihrem Vorteil zu handeln, während er selbst dabei draufzahlte. Meist war genau das Gegenteil der Fall. Virginias jüngerer Bruder Chick sagte einmal: »Mein Vater konnte am Morgen das Haus verlassen und trug nichts bei sich als ein Taschenmesser. Am Abend kam er mit einem Pferd zurück.« Wenn er sich betrunken schlafen legte, stahl ihm Virginia Geldscheine aus der Hosentasche und ging damit ins Kino statt in die Schule. Wenn sie erst am Abend nach Hause zurückkehrte, sagte sie immer, dass sie in der Schule hätte nachsitzen müssen. Ihr Vater meinte dann: »Ich wusste schon immer, dass du die allerschlechteste Schülerin der ganzen Schule bist. Kein Wunder, dass sie dich so oft dort behalten.«
Virginia hatte nur den Wunsch, bald erwachsen zu werden, um aus diesem Elend, aus der Armut ihrer Umgebung, aus diesem ganzen Dreck auszubrechen, ihren gewalttätigen Vater hinter sich zu lassen und ihn so schnell wie möglich zu vergessen. Und nun musste sie ausgerechnet dieser Schlafwagen-Steward an ihn erinnern, weit weg von Alabama, weit weg von ihrer Kindheit, wo sie noch barfuß zur Schule ging, weil sie sich keine Schuhe leisten konnte. Jetzt hatte sie Schuhe im Überfluss, die Kästen in ihren Wohnungen waren voll damit.
Schon in der Schule, wo sie mit Kindern zusammenkam, die nicht arm waren, die nicht immer dieselben Kleider anhatten, deren Eltern ihnen Schuhe kaufen konnten, sogar zwei Paar Schuhe, war ihr klar, dass Geld der Schlüssel zu einem besseren Leben war. Sie bettelte wildfremde Männer an, meist Durchreisende, die in der Gegend geschäftlich zu tun hatten, sie mögen ihr am Kiosk von Jack ein Buch kaufen, ein Lexikon, in dem viele Begriffe erklärt wurden, mit schönen Bildern verziert, ein Buch, das sie sich nicht leisten konnte und das ihr helfen würde, in der Schule noch besser zu lernen. Ihr unschuldiger Blick hatte oft die gewünschte Wirkung, manche Männer bekamen Mitleid mit dem armen, bildungshungrigen Mädchen, das weniger Möglichkeiten hatte als andere. Stolz und dankbar ging sie mit dem Buch vom Kiosk weg, um dann, wenn sich der mildtätige Herr entfernt hatte, wieder umzukehren, Jack das Buch zurückzugeben und sich den Preis, den der Herr dafür bezahlt hatte, mit Jack zu teilen. So drehte dieses Buch im Lauf eines Schuljahres einige Runden und brachte sowohl für Virginia als auch für Jack eine schöne Summe Geld zusammen.
Als sie 15 Jahre alt war, bot sie sich an, bei begüterten Nachbarn auf deren Kinder aufzupassen, damit die Eltern ausgehen konnten. Sie wurde gut dafür bezahlt. Dabei bemerkte sie immer öfter, dass ihr die Ehemänner auf die Beine und auf den unter der Bluse bereits gut zu erkennenden spitzen Busen starrten. Einmal, als gerade niemand im Haus war, lockte sie einer dieser Ehemänner in ein Zimmer und zog sich die Hose aus. Sie musste lachen, als sie ihn halb nackt vor sich stehen sah, und dachte dabei an den alten brüchigen Gartenschlauch in der Garage ihres Vaters, während der Mann schwitzend dastand und seufzte, sie möge doch näher kommen. Er würde ihr einen Dollar für etwas geben, das sie damals noch nicht kannte. Sie verstand jedenfalls, dass es diesen einen Dollar nicht wert war, noch länger bei einem schlauchigen, stotternden, geifernden Kerl zu bleiben, verließ das Haus und ging nie wieder hin.
Sie lernte den um zwei Jahre älteren George kennen und beschloss, er sei der Mann, mit dem sie die Liebe erfahren wollte, dieses ewige Spiel von Mann und Frau, von dem sie schon so viel gehört hatte. Sie ließ sich von ihm ausziehen, denn das gehörte, wie er sagte, dazu und legte sich bereitwillig unter ihn. Als sie langsam begann, dieses Spiel ein wenig zu genießen, war er auch schon wieder fertig damit. Sie verstand nicht, warum die Leute so ein Aufsehen wegen dieser Sache machten. Sie probierte es noch mehrmals mit ihm, immer mit demselben Resultat. Ihm schien es zu gefallen,...
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