Schweitzer Fachinformationen
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»Zweifellos denken wir nur mit einem kleinen Teil unserer Vergangenheit; mit unserer gesamten Vergangenheit jedoch und darin eingeschlossen der ursprünglichen Biegung unserer Seele wünschen, begehren und handeln wir.«
Henri Bergson
Seine übrigen Mitreisenden hatten nichts Auffälliges an sich. Eine Gruppe französischer Touristen wollte nach Neapel, eine deutsche Gruppe nach Athen, einige Geschäftsleute waren auf dem Weg nach Smyrna und Konstantinopel und einige Russen wollten über Odessa, Batumi oder Noworossijsk nach Hause zurückkehren.
O’Malley teilte sich seine Kabine mit einem etwas rundlichen, rotgesichtigen Handelsreisenden aus Kanada, der die obere Koje belegt hatte. Er handelte mit Erntemaschinen und sein ganzes Denken kreiste um deren Bezeichnungen, Preise und Bezugsbedingungen. All das konnte er in mehreren Sprachen ausdrücken, aber es war auch schon das einzige Gebiet, auf dem er sich auskannte. Er war ein gutmütiger Mensch, der in allem nachgab, um Problemen aus dem Weg zu gehen.
»Ich würde im Bett gern noch lesen. Stört es Sie, wenn ich das Licht noch eine Weile brennen lasse?«, fragte O’Malley.
»Mich stört fast nie etwas«, erwidert der Kanadier fröhlich. »Ich bin keiner, der gern herummäkelt, sondern ein verträglicher Mensch. Machen Sie sich keine Gedanken um mich.« Er drehte sich zum Schlafen um. »Bin ja ständig auf Reisen«, drang seine gedämpfte Stimme aus den Kissen. »Ich nehme die Dinge, wie sie kommen.«
Das Einzige, was O’Malley an seinem Zimmergenossen störte, war, dass er tatsächlich alles auf sich zukommen ließ und sich um nichts scherte. Weder machte er sich die Mühe, hin und wieder ein Bad zu nehmen, noch legte er die Kleidung ab, wenn er zu Bett ging.
Den Kapitän des Schiffes, der Englisch mit starkem Akzent sprach, kannte O’Malley von früheren Reisen her. Er war ein leutseliger deutscher Seemann mit bärbeißiger Stimme aus Sassnitz und schimpfte mit O’Malley, weil er »wie üblich« fast zu spät an Bord gekommen wäre. »Sie waren so spät dran, dass ich Ihnen jetzt keinen Platz mehr an meinem Tisch anbieten kann«, brummte er, lachte jedoch dabei. »Wirklich schade. Sie hätten mir Ihre Ankunft mit einem Telegramm ankündigen sollen, dann hätte ich Ihnen einen Platz reserviert. Jetzt ist für Sie höchstens noch ein Platz am Tisch des Schiffsarztes frei!«
»Der Dampfer ist diesmal wirklich sehr gut gebucht.« O’Malley zuckte die Achseln. »Aber darf ich hin und wieder zum Rauchen zu Ihnen auf die Brücke kommen?«
»Selbstverständlich.«
»Sind irgendwelche interessanten Leute an Bord?«, fragte O’Malley nach kurzem Schweigen.
Der Kapitän lachte. »Eigentlich die gleichen Leute wie immer. Keiner, der das Schiff zum Anhalten bringen wird! Fragen Sie den Schiffsarzt, er merkt so was eher als ich. Aber die netten Passagiere werden ja sowieso immer seekrank und verschwinden von der Bildfläche. Fahren Sie diesmal nach Trapezunt?«
»Nein, nach Batumi.«
»Ach! Wegen Öl?«
»Nein, ich bereise den ganzen Kaukasus – will ein bisschen Bergluft atmen.«
»Dann haben Sie hoffentlich jede Menge Waffen dabei. Da oben erschießt man Sie schon wegen zwei Pfennigen!« Und mit dem so typischen herzlichen, tiefen Lachen und einer recht behäbigen Munterkeit machte er sich auf den Weg zur Brücke.
Und so landete O’Malley bei den Mahlzeiten rechts von Doktor Stahl; ihm gegenüber, links von dem Schiffsarzt, saß ein gesprächiger Moskauer Pelzhändler, der dezidierte Ansichten über alles und jedes hegte. Nun war er davon überzeugt, sie auch mit der übrigen Welt teilen zu müssen; also gab er – fast im Ton päpstlicher Dekrete – wortreich Allgemeinplätze von sich, die zuweilen amüsant, meistens aber langweilig waren. Rechts von ihm saß ein armenischer Geistlicher – er hatte sanfte Augen und einen braunen Vollbart – aus dem venezianischen Kloster, das Byron Schutz gewährt hatte. Bis auf die Suppe aß er alles mit dem Messer, jedoch mit einer Eleganz, die man nur bewundern konnte. Seine Hände bewegte er so graziös, dass sie fast das Messer hätten ersetzen können, ohne dass es anstößig gewirkt hätte. Hinter dem Geistlichen saß der rundliche kanadische Handelsreisende. Er sagte kaum etwas; stattdessen verfolgte er genau, was an Gerichten aufgetragen wurde, damit ihm auch ja nichts entging, und aß. Weiter unten an der Tafel fielen der stämmige Fremde mit dem blonden Bart und sein Sohn neben zwei unscheinbaren Personen besonders auf. Da sie O’Malley und dem Arzt schräg gegenübersaßen, hatte O’Malley sie voll im Blick.
Er unterhielt sich mit allen in Hörweite, denn Menschen gegenüber, die er wahrscheinlich niemals wiedersehen würde, war er durchaus mitteilsam. Besonders freute er sich, dass man ihn neben dem Schiffsarzt Dr. Heinrich Stahl platziert hatte, denn der Mann zog ihn einerseits an, andererseits forderte er ihn zum Widerspruch heraus, und sie hatten sich schon auf mehr als einer Reise hitzige Wortgefechte geliefert. Im Charakter des Arztes gab es eine fundamentale Unstimmigkeit, wie O’Malley spürte: Dessen persönliche Erfahrungen entsprachen nämlich leider nicht seinen Überzeugungen – und umgekehrt. Zwar gab er vor, an nichts zu glauben, ließ aber trotzdem gelegentlich Bemerkungen fallen, die einen Glauben an alle möglichen Dinge verrieten und ihn als Querdenker entlarvten. Zum Beispiel hatte er den Iren O’Malley irgendwann dazu verleitet, seinen Glauben an Feen einzugestehen, nur um im nächsten Augenblick das ganze Thema mit einer zynischen Bemerkung als absurd abzutun. In Stahls sarkastischer Haltung entdeckte O’Malley ein Gehabe, das offenbar dem Selbstschutz diente. »Kein vernünftiger Mensch kann solche Dinge hinnehmen«, hatte er bemerkt. »Sie sind einfach nur unglaubwürdig und albern.« Und doch sagte er das so bissig, dass er sich selbst damit verriet. Genau das, was seine Vernunft zurückwies, sprach sein Gefühl an.
Allerdings muss man sich fragen, wie akkurat die intensiven Eindrücke waren, die der Ire von Menschen ganz allgemein mitnahm. Im Fall von Dr. Stahl mochte sein Eindruck allerdings weitgehend zutreffen: Dass sich ein Mann mit solchen Kenntnissen und Fähigkeiten damit zufriedengeben konnte, als bloßer Schiffsarzt sein Licht unter den Scheffel zu stellen, schrie geradezu nach einer Erklärung. Stahls eigene lautete, er wünsche sich genügend Freizeit zum Nachdenken und Schreiben. Er war kahlköpfig, nachlässig gekleidet, frühzeitig gealtert, zu kurz geraten und sein Bart von Schnupftabak und anderem Tabak verfärbt, aber ein Wissenschaftler mit so viel Vorstellungsvermögen, dass er jenseits aller Formeln zu Spekulationen neigte. Kurzum: eine Persönlichkeit, die einem unwillkürlich Achtung einflößte. Oft zwinkerte er mit den wachen dunklen Augen – manchmal spöttisch, was, ehrlich gesagt, hin und wieder recht unfreundlich wirken konnte, doch häufig auch aus gutmütiger Belustigung, die wohl von seinem Verständnis für menschliche Schwächen herrührte. Zweifellos war er warmherzig, wie nicht wenige Schiffspassagiere, denen es an Bord zeitweilig schlecht gegangen war, hätten bezeugen können.
Anfangs schleppte sich die Unterhaltung am Tisch dahin. Sie begann am unteren Ende, wo die französischen Touristen lebhaft plauderten, während sie ihre Suppe löffelten, und setzte sich so langsam wie ein Schwelbrand zum oberen Tischende fort, wobei sie mehrere Personen, die sich daran nicht beteiligten, übersprang. Darunter waren der Handelsvertreter für Erntemaschinen, die beiden Unscheinbaren und der stämmige blonde Fremde sowie sein Sohn.
Hingegen war vom Tisch hinter ihnen ständig lautes Stimmengewirr zu hören, was vor allem an der lockeren, leutseligen Art des Kapitäns lag. Er prophezeite den Damen rechts und links von ihm einen ruhigen Reiseverlauf. Übertönt von seiner voluminösen Stimme fiel es sogar den Schüchternen leicht, sich mit Bemerkungen an ihre Tischnachbarn zu wenden.
Während O’Malley Gesprächsfetzen aufschnappte, wanderte sein Blick unwillkürlich immer wieder zu den beiden Fremdlingen schräg gegenüber. Ein- oder zweimal traf sich sein Blick mit dem des Arztes, der in dieselbe Richtung schaute, und dabei lag es ihm auf der Zunge, eine Bemerkung über sie zu machen oder den Arzt etwas zu fragen. Doch er fand nicht die richtigen Worte und hatte den Eindruck, dass sich Dr. Stahl aus ähnlichen Gründen zurückhielt. Beide hätten gern etwas gesagt, schwiegen jedoch und warteten darauf, dass der andere das Eis brach.
»Dieser Mistral ist lästig«, meinte der Arzt, als die Unterhaltung an sein Tischende überschwappte und es unhöflich gewesen wäre, weiterhin zu schweigen. »Manchen Menschen geht er geradezu auf die Nerven.« Er sah zu O’Malley hinüber, doch es war der Pelzhändler, der etwas erwiderte, während er die beringte Hand über den Teller hielt, um zu sehen, wie heiß das Essen noch war.
»Damit kenne ich mich aus«, sagte er so wichtigtuerisch, als hätte er das Wissen mit Löffeln gefressen. »Der Mistral hält drei, sechs oder neun Tage an. Aber sobald wir den Golf von Lyon durchquert haben, liegt der Mistral hinter uns.«
»Ach ja? Da bin ich aber froh«, mischte sich der Geistliche mit zaghaftem Lächeln ein, während er auf der Messerklinge geschickt einen Fleischbrocken und grüne Erbsen, die wie kleine Geschosse aussahen, im Gleichgewicht hielt. Sein Ton, sein Lächeln und seine Gestik wirkten so vornehm, dass das Essen mit Metallbesteck jeglicher Art bei ihm wie ein Stilbruch wirkte.
»Selbstverständlich«, gab der Pelzhändler im Brustton der Überzeugung zurück. »Ich habe diese Reise schon so...
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