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Das war wahrscheinlich ein Fehler, dachte Claire, als sie ihren Gepäckwagen durch den Ausgang des Flughafens von New Orleans bugsierte. Warum musste sie auch ausgerechnet immer den erwischen, bei dem ein Rad klemmte? Die Glastür glitt hinter ihr zu und schnitt sie von der unnatürlichen Kälte im Terminal ab. Mit einem Mal stand sie knietief in der drückenden Juli-Schwüle Louisianas.
Louisiana. Claire kam in den Sinn, dass sie noch mit verbundenen Augen und zugehaltenen Ohren genau wüsste, wo sie war. Sie konnte es fühlen, es lag eine schmerzhaft vertraute Note in der Luft. Die Hitze streckte die feuchten Finger nach ihr aus und umschlang sie. Die Schwüle wisperte auf ihrer Haut, begrüßte sie wie ein vertrauter Liebhaber.
Ein Liebhaber, den sie vor Jahren mit einer Mischung aus Bedauern und Erleichterung verlassen hatte, einer abstrakten Zuneigung, gepaart mit dem fieberhaften Wunsch weiterzuziehen.
Claire atmete die heiße, feuchte Luft tief ein und blies sie langsam wieder aus, während sie die Autos absuchte, die draußen vor der Gepäckausgabe um Parkplätze in der ersten Reihe konkurrierten. Als sie das Darlehen für den neuesten Wagen ihres Cousins Ty mitunterzeichnet hatte, hatte er gesagt, dass der »riesig, schwarz und glänzend« sei. Das war ein Vorteil, dass sie in Plaquemines Parish mehr Cousins hatte, als sie zählen konnte: Es gab immer jemanden, der sie vom Flughafen abholen konnte.
Eine kleine Gruppe angetrunkener Touristen Mitte zwanzig rempelte Claire auf dem feuchtfröhlichen Gang zum Taxistand zur Seite. Anscheinend waren sie auf der Suche nach den berühmten Mardi-Gras-Feiern - außerhalb der Saison. Sie schaffte es gerade noch, ihre Laptoptasche aufzufangen, die ihr von der Schulter rutschte. Ein Schweißtropfen lief ihr den Rücken herunter. Da stand sie nun, mit einer Hand am Gepäck. Die zwei großen Koffer, der Seesack und die Handtasche waren alles, was sie auf der Welt besaß, abgesehen von den wenigen Kartons mit Büchern und Erinnerungen, die sie mit der Post vorausgeschickt hatte. Die restlichen Dinge hatte sie weggegeben, bevor sie Chicago verlassen hatte.
Das war wahrscheinlich ein Fehler, dachte Claire wieder. Der Satz war so etwas wie ein Mantra geworden, seit ihre Cousine Jessica sie letzte Woche angerufen hatte, um ihr zu sagen, dass ihre Großmutter wohl bald sterben würde.
»Mammaw braucht dich jetzt, Chance«, hatte Jessica gesagt. Claires Verwandte nannten sie Chance; ihre Großmutter war Mammaw. »Sie redet Cajun. Niemand versteht sie außer Onkel Remy. Und du weißt ja, wie er ist.«
Als Claire den Anruf erhalten hatte, saß sie gerade in ihrem klimatisierten Büro in Chicago und fragte sich, was sie in die Oper anziehen sollte. War ihr normales schwarzes Bürokostüm gut genug für den Abend? Vielleicht wenn sie es ein bisschen aufhübschte, mit einer auffälligen Ethnokette oder einem bunten Tuch. Oder verlangte der Anlass eher nach Glitzer und Seide? Von ihrem Schreibtisch aus sah sie auf endlose Flure hinab, mit beigem Teppichboden, ein Gewirr aus kleinen Bürowaben und alten Fabrikmauern aus Ziegelsteinen, die für ihren Arbeitgeber No-Miss Systems, ein Softwareunternehmen, aufwendig renoviert und mit Oberlichtern und Trennwänden aus Stahl und Glas ausgestattet worden waren. Sie ließ ihren Blick über die stumme Bürolandschaft gleiten, stellte sich Mammaws Haus vor und dachte: Wenn Jessica eine Stimme aus der Vergangenheit ist, was ist dann meine Zukunft? Ein Abend in der Oper? Wirklich?
Du bist deinen kurzen Hosen wohl allmählich entwachsen, Chance Broussard.
Wie ihr frischgebackener Exfreund Sean sagen würde: »Da ist Claire mal wieder ein klitzekleines bisschen indifferent.«
Dann entdeckte Claire Tys Wagen, der sich riesig und neu seinen Weg durch ein Meer von kleineren Autos und verbeulten Pick-ups bahnte. Er ignorierte das Hupen, parkte in zweiter Reihe, sprang aus dem Auto und schloss Claire in die Arme. Dann warf er ihre schweren Taschen auf die Ladefläche, als wären sie federleicht.
Ty fuhr in Richtung des kleinen Städtchens in Plaquemines Parish, wo sie aufgewachsen waren. Sie plauderten über das Leben in der Großstadt, über sein neues Auto, die Jobsituation auf den Ölbohrplattformen, Mammaws heiklen Gesundheitszustand, bis das Gespräch im Sande verlief. Claires Verwandte arbeiteten hart, verachteten Wehleidigkeit, grüßten die Flagge und liebten Football. Wenn sie Alkohol tranken, schlugen die jungen Männer manchmal über die Stränge und die älteren Leute erzählten komplizierte Geschichten, in denen Fakten und Fiktion, Geschichte und Fantasie ineinandergriffen. Doch wenn ihre Cousins nicht in Erzählstimmung waren, dann schwiegen sie stoisch. Ihre Gedanken, Hoffnungen und Träume verstauten sie unter schweißgetränkten Baseballcaps der New Orleans Saints oder der Ragin' Cajuns.
Claire sah grübelnd in die Landschaft hinaus, die sich flach, bedeckt von Dickicht und niedrigen Bäumen, durchzogen von Bächen und Flussarmen, vor ihr ausstreckte.
Nachdem Claire das Telefonat mit Jessica beendet hatte, hatte sie ihre Arbeit erledigt, mit ihrem Abteilungsleiter gesprochen und war zu einem Treffen mit Sean in einer angesagten Lounge gehastet, einer ehemaligen Surfbar, die nun ironisch im Stil der Fünfzigerjahre à la Frank Sinatra und Rat Pack dekoriert war. Sie bestellten Craft-Cocktails aus Produkten aus der Umgebung, für deren Zubereitung der bärtige Barkeeper jeweils etwa zehn Minuten brauchte und die mindestens das Vierfache von dem kosteten, was sie in der alten Bar dafür ausgegeben hätten.
Als die Cocktails fertig waren, setzten sie sich an einen Tisch und Claire erzählte Sean, dass sie bei No-Miss gekündigt hatte und nach Hause fahren würde, um sich um ihre Großmutter zu kümmern.
»Einfach so?«, fragte Sean, wobei sich ein erstaunter Ausdruck in sein hübsches Gesicht schlich und der bittere Grapefruitcocktail auf halbem Weg zu seinem Mund in der Luft verharrte.
»Sobald sie in der Firma einen Ersatz für mich gefunden haben.«
»Aber . was ist mit mir? Was ist mit uns?«
»Ich .« Claire sprach nicht weiter. Die traurige Wahrheit war, dass sie nicht über Seans Reaktion auf ihre Neuigkeiten nachgedacht hatte.
Natürlich war er ihr wichtig. Ihr lag etwas an Sean. Viel sogar. Sie hatten sich kurz nach dem College kennengelernt, und Sean, der aus Evanston kam, hatte Claire in die Wunder der großen Stadt eingeführt. Er hatte sie in schicke Restaurants und auf Cocktailpartys mitgenommen, hatte ihr gezeigt, wie man ein Taxi heranwinkte oder sich in der U-Bahn zurechtfand und wie man durch das Museum of Art schlenderte und dabei elaborierte Kommentare fallen ließ. Mit Sean an ihrer Seite hatte Claire Geschmack an thailändischer und äthiopischer Küche gefunden. Sie gewöhnte sich auch daran, in dem schicken Eckcafé in der Nähe der Arbeit für eine Tasse French Roast so viel zu zahlen wie zu Hause für ein komplettes Frühstück. Sie waren jung, verdienten gut, und sie hatten Spaß.
Aber in letzter Zeit hatte Sean das nicht mehr gereicht. Ihre Freunde heirateten, kauften Häuser und bekamen Kinder. Claire mochte Sean und genoss seine Gesellschaft. Aber es fehlte etwas.
Jahrelang war sie eine Getriebene gewesen: wollte aus ihrer Heimatstadt wegkommen, dann das College beenden, dann einen Job ergattern, dann mehr Geld verdienen. Und jetzt? Sie saß zehn Stunden pro Tag über einer Tastatur, am Wochenende ging sie in edle Klubs, konnte sich eine schöne Wohnung und neue Klamotten leisten . Aber war es das, wofür sie so hart gearbeitet hatte? Claire ging in ihrer Arbeit auf: programmieren, Betatests durchführen, Fehler beheben. Aber sie fragte sich: War irgendetwas davon langfristig von Bedeutung? War das schon alles?
Und wenn sie sich vorstellte, wie sie sich mit Sean irgendwo niederließ und eine Familie gründete, dann hatte sie das Gefühl, die Wogen würden über ihrem Kopf zusammenschlagen und sie vergeblich nach Luft schnappen.
»Was ist denn los, Claire?« Sean nahm ihre Hand und drückte sie sanft. »Du bekommst einen Anruf und willst plötzlich dein komplettes Leben hier in Chicago aufgeben? Es tut mir leid, dass es deiner Großmutter nicht gut geht, aber sie ist auch nicht mehr die Jüngste, nicht wahr? Es kommt also nicht wirklich unerwartet, oder täusche ich mich? Könntest du sie nicht einfach besuchen, wie .?«
Wie jeder andere auch, beendete Claire seinen Satz in Gedanken. Doch wie sehr sie die teuren Cocktails auch genießen mochte, so hatte sie sich in der Stadt doch nie heimisch gefühlt.
Als sie damals an der Universität von Chicago angekommen war, mit einem Stipendium in der Tasche, da war sie aus der Menge herausgestochen wie ein Fremdkörper. Sie trug die falsche Kleidung und eine krause Dauerwelle, die schon seit zwei Jahrzehnten aus der Mode war, wenn man ihrer wenig diplomatischen Zimmergenossin Zoey Glauben schenkte, die aus New York City stammte und sich mit so etwas auskannte. Sie sprach mit einem Akzent, der über ihren Sätzen hing wie ein Mückenschwarm an einem warmen Sommerabend über den Sümpfen.
Anfangs fand sie alles einschüchternd - die geschwätzigen Studenten, die gelehrten Professoren, den Stadtverkehr. Genau wie zu Hause verschanzte sie sich am Abend in ihrem Zimmer oder lernte in der Bibliothek.
Aber nach ein paar einsamen Wochen traf Claire eine Entscheidung. Schließlich hatte sie sich nicht aus Plaquemines Parish herausgekämpft, um ihr Leben an sich vorbeiziehen zu lassen. Also setzte sie ihre hervorragende Lernkompetenz ein, um das Verhalten der anderen Mädchen zu studieren: ihre Kleidung, ihren Tonfall, die Art, wie sie kicherten und über...
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